Jólabókaflóð – Der Katalog zur weihnachtlichen Bücherflut 2017

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Jólabókaflóð



Jólabókaflóð Die (isländische) Bücherflut zur Weihnachtszeit


„DIE SCHÖNSTE ALLER WEIHNACHTSTRADITIONEN KOMMT DABEI ZWEIFELLOS AUS ISLAND, WO SEIT GUT 75 JAHREN (FAST) NUR ZWEI DINGE AM WEIHNACHTSABEND VERSCHENKT WERDEN: BÜCHER UND SCHOKOLADE , SO DASS DIE ERSTE WEIHNACHTSNACHT LESEND ZUGEBRACHT WIRD.“


© Fotostudio Berns

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Torsten Woywod

vor gut zweieinhalb Jahren habe ich meine große Leidenschaft für das Reisen entdeckt und bin seitdem – in insgesamt drei Etappen – rund um die Welt gereist. In diesem Zuge habe ich nicht nur viele Buchhandlungen besucht, sondern bin auch unzähligen Geschichten sowie Brauchtümern begegnet, die auf faszinierende Weise mit der Welt der Bücher verwoben sind. Die schönste aller Weihnachtstraditionen kommt dabei zweifellos aus Island, wo seit gut 75 Jahren (fast) nur zwei Dinge am Weihnachtsabend verschenkt werden: Bücher und Schokolade, so dass die erste Weihnachtsnacht lesend zugebracht wird. Zugegebenermaßen ist es nicht allzu verwunderlich, dass ausgerechnet Island eine solche Tradition pflegt; gefühltermaßen hat nämlich jeder Isländer irgendeinen Bezug zur Literatur – selbst der heutige Präsident, Guðni Th. Jóhannesson, hat in den 90er Jahren einige Bücher von Stephen King ins Isländische übersetzt. Und so steht auch die gesamte Vorweihnachtszeit ganz im Zeichen der Literatur: Anlässlich des Jólabókaflóð, so der Name der alljährlichen Bücherflut, wird auch ein Katalog mit allen Neuerscheinungen des Jahres gedruckt, der kostenlos an sämtliche Haushalte des Landes verteilt wird und Bókatiðindi heißt. In diesem Jahr findet diese wunderbare Tradition erstmals auch in Deutschland statt – und ich freue mich sehr, dass nicht nur Martin Eyjólfsson, der isländische Botschafter, und Yrsa Sigurðardóttir, die wohl bekannteste Autorin Islands, dabei mithelfen, sondern auch viele Buchbranchen-Teilnehmer aus Deutschland! Insgesamt 48 Autorinnen und Autoren, Buchhändler/innen und Buchblogger/innen sowie Verleger/innen und Verlagsmitarbeiter/innen haben für diesen Katalog persönliche Empfehlungen beigesteuert, die vom Kinderbuch über das politische Sachbuch und den wiederentdeckten Klassiker bis zum druckfrischen Roman reichen und somit vielfältige Anregungen für das Schenken und Wünschen liefern. Also: Auf in die nächste Buchhandlung – und danach umso mehr: Gleðileg jól bzw. frohe Weihnachten! Torsten Woywod PS: Ein Teil unserer weihnachtlichen Bücherflut findet online statt; hier gibt es alle weiteren Informationen: http://www.facebook.com/events/839119372935234

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© iceland.is

„EINE SOLCHE TRADITION AUCH HIER ERLEBEN ZU KÖNNEN, WÄRE EIN WUNSCH, DER FAST ZU SCHÖN IST, UM WAHR ZU WERDEN.“

Martin Eyjólfsson, Botschafter von Island

VORWORT DES ISLÄNDISCHEN BOTSCHAFTERS Die Weihnachtszeit hat hierzulande, wie auch in meiner Heimat, etwas Magisches. Lichterketten säumen die Wege, und die Stadt mitsamt ihren Bewohnern verfällt in ein ungewohnt schönes Gefühl der inneren Ruhe und Besinnlichkeit. Trotz vorweihnachtlicher Einkaufsscharen, die sich in den Kaufhäusern tummeln, trotz gefüllter Weihnachtsmärkte und Glühweingläser, ist dies eine Zeit für die Familie und für sich selbst, eine Zeit der Gemütlichkeit und der Besinnung. Aber entgegen vieler wunderbarer vorweihnachtlicher Bräuche, die unsere beiden Länder gemein haben, gibt es auf Island ein Phänomen, das man unter den zahlreichen Traditionen hier in Deutschland vermisst: Jólabókaflóð. Die isländische Flut der Weihnachtsbücher.

Auf Island werden in der Vorweihnachtszeit mehr Bücher veröffentlicht als in der gesamten Zeit des Jahres zuvor. Der Markt wird regelrecht überschwemmt mit Neuerscheinungen, die wie geschaffen sind für Abende vor dem Kamin oder im heimischen Lesesessel. Die Vielzahl an Kinderbüchern, Island-Krimis und Romanen sorgt bei uns Isländern für eine solche Bücherbegeisterung, dass viele schon im November die Tage zählen, bis das Jólabókaflóð beginnt. Dieser Tradition sind über Generationen begeisterte Leser und Autoren entsprungen, die sich auf jene Weise der Welt der Bücher ganz neu angenähert haben. Eine solche Tradition auch hier erleben zu können, wäre ein Wunsch, der fast zu schön ist, um wahr zu werden. Aber wer weiß, in der Welt der Bücher ist alles möglich. Martin Eyjólfsson

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© Kristinn Ingvarsson

„IT IS CONSIDERED A TOTAL FLOP CHRISTMAS IF YOU DO NOT GET A BOOK.“

Yrsa Sigurðardóttir, Isländische Bestsellerautorin (u.a. „Sog“, erschienen bei btb)

ÜBER DIE BEDEUTUNG VON JÓLABÓKAFLÓÐ The Icelandic tradition of giving books as a Christmas present is believed to date to the second world war when imports were scarce. But even prior to that, literature and reading have always been held in high regard here.

We open our presents on Christmas eve (not Christmas day morning like in some countries). So most people end the evening by settling down in a sofa with one of the books they got and reading. It is really relaxing and charming, especially if it is snowing and cold outside. In the days that follow people chat about what books they got and how they are liking the read.

The buying of books for Christmas is called jólabókaflóðið – the Christmas Book Flood. It is considered to begin when a catalog, Bókatíðindi or Book News, is sent to every household, listing all titles published in Iceland that year. It is devoured by the public upon arrival. I think it is fair to say that all Icelandic hardcover novels by Icelandic authors are published in October and November so that they will be a part of the Christmas book flood. During this “flood” a large portion of the sales for hardcover novels takes place. The rest of the year people buy pocket books or use the libraries to catch up on what they missed during the Christmas season. Other formats have not caught on in a big way, i.e. e-books and audio books are not a big part of the book market.

I always give my parents a book each and my children give me and their father a book. I’m afraid that my children in return expect something a bit more elaborate but they do get books from our pets (obviously chosen by me). I think giving a book as a present is more thought out than many other things as you really need to put a lot of consideration into the selection. It is also not only a feel good present to get but also to give as you know that you are contributing to the receiver’s intellect and broader perspective. So it’s win-win all the way. The final bonus is that books are the easiest of all presents to wrap in Christmas paper.

Books remain the number one Christmas present here. It is considered a total flop Christmas if you do not get a book. Even the news in December will report what books are doing well and which ones top the charts.

Yrsa Sigurðardóttir

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Kristín Steinsdóttir • Hoffnungsland • Übersetzerin: Anika Wolff • C.H. Beck • 216 Seiten • 19,95 Euro

© privat

KRISTÍN STEINSDÓTTIR HOFFNUNGSLAND

Martin Eyjólfsson, Botschafter von Island

Passend zur Zeit des Jólabókafloð sind natürlich viele wunderbare Bücher völlig unterschiedlicher Gattungen veröffentlicht worden. Besonders hervorheben möchte ich aber eines: das „Hoffnungsland“ von Kristín Steinsdóttir. Eine Geschichte über zwei junge isländische Frauen, die sich aufmachen, ihren Traum zu leben und dabei auf die beinharte Realität stoßen. Eine Geschichte über Frauen, die sich durchkämpfen müssen, eine Geschichte, die aktueller kaum sein könnte. Und all dies schreibt Kristín auf ihre gewohnt poetische und ausdrucksstarke Art und Weise, ohne hier den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nur zu empfehlen. Anführen möchte ich zudem folgende Titel, die vor Kurzem erschienen sind: „Die Sturlungen“ von Einar Kárason, „Sog“ von Yrsa Sigurðardóttir, „Der Stier und das Mädchen“ von Stefán Máni.

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Susann Pásztor • Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster • Kiepenheuer & Witsch • 288 Seiten • 20,– Euro

© Smilla Dankert

SUSANN PÁSZTOR UND DANN STEHT EINER AUF UND ÖFFNET DAS FENSTER Isabel Bogdan, Autorin und Übersetzerin

Aufstehen und das Fenster öffnen: Das tut man, wenn derjenige gestorben ist, an dessen Bett man sitzt. Man öffnet das Fenster, damit seine Seele hinauskann. Fred ist eigentlich gar nicht der Typ für sowas, er ist ein eher trockener, um nicht zu sagen: langweiliger Beamter, außerdem alleinerziehender Vater des 13-jährigen Phil. Und jetzt hat Fred eine Ausbildung zum Sterbebegleiter gemacht und begleitet als erste Karla, die Bauchspeicheldrüsenkrebs hat. Sie kommt eigentlich gut selbst zurecht und möchte sich bestimmt nicht betüddeln lassen, dafür ist sie viel zu stark und eigensinnig. Was man von Fred nicht behaupten kann. Aber natürlich braucht Karla trotzdem zunehmend Hilfe. Fred versemmelt es zunächst gründlich, wegen der Sache mit „gut gemeint“ und „gut gemacht“; Phil und Karlas Hausmeisternachbar sorgen schließlich dafür, dass er noch eine zweite Chance bekommt. Das ist die Geschichte, und sie endet natürlich, wie eine Sterbebegleitung enden muss. Was allerdings nicht heißt, dass das ein trauriges Buch wäre, denn hey: Das ist Susann Pásztor, und deswegen kann man ruhig ein Buch über das Sterben lesen, auch wenn man in der glücklichen Situation ist, dass man sich selbst noch gar nicht mit dem Thema beschäftigen musste. Sie geht auf die bestmögliche Weise pragmatisch mit diesem großen Thema um und schreibt auf der Grundlage eines wunderbaren Humors; die Sorte, die eine Lebenseinstellung ist, nicht die, die Witze macht. Das zeigt sich zum Beispiel in einem feinen Gespür für skurrile Situationen, in denen sie ihre Figuren aber niemals bloßstellt oder sich über sie lustig macht. Es gibt da zum Beispiel eine Supervisionsgruppe für Sterbebegleiter, in der Fred und seine Kollegen sich über ihre Erlebnisse austauschen und einander Rat und Stütze sind. Es darf aber immer nur derjenige sprechen, der den Redestein hat. Natürlich ist das grotesk, und es wäre an der Stelle sehr einfach gewesen, es auf die Spitze zu treiben und die Figuren zu verspotten. Ebenso wie es anderswo einfach gewesen wäre, auf die Tränendrüse zu drücken, aber das tut sie alles nicht. Man liest dieses Buch und weiß, dass die Autorin ein großes, warmes Herz hat. Für alle. Und eine zupackende Seele. Und dann möchte man ein Glas Wein mit ihr trinken oder fünf.

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Svealena Kutschke • Stadt aus Rauch • Eichborn • 672 Seiten • 24,– Euro

SVEALENA KUTSCHKE STADT AUS RAUCH © privat

Es gibt sie, diese Bücher, die sich beim ersten Satz bereits unabänderlich in meine Lesebiografie fräsen, die mich dazu bringen, mir die ohnehin zu kurzen Nächte um die Ohren zu schlagen, die mich nicht loslassen, die ich nahezu inhalieren muss und trotzdem niemals beenden will. Maria-Christina Piwowarski, Buchhändlerin bei ocelot, not just another bookstore (Berlin)

In diesem Jahr ist so ein Buch für mich definitiv „Stadt aus Rauch“ von Svealena Kutschke. In einer zum Niederknien betörenden, aber stets messerscharf präzisen Sprache erzählt die Autorin darin einen neuen Jahrhundertroman aus Lübeck. Im Gegensatz zum Lübeck der „Buddenbrooks“ beleuchtet Svealena Kutschke in „Stadt aus Rauch“ das Leben in den Hinterhöfen, das Leben im Verborgenen, das Leben der Vergessenen. Drei Frauengenerationen einer Familie erzählen hier eine Geschichte, die packend ist, mitreißend, erschütternd und wundersam; eine Geschichte, die eben auch unsere ist. Ein Buch über alten und neuen Faschismus, über Kunst und Feigheit und die schwarzen Wellen der Trave. Ein Buch, in dem jeder Satz genau dort sitzt, wo er hingehört. Ein Buch, in dem der Teufel die tragischste aller Figuren ist. Ich benutze das Wort höchstens einmal alle drei Jahre, aber hier ist es absolut angebracht: „Stadt aus Rauch“ ist ein Meisterwerk.

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Per Leo / Maximilian Steinbeis / Daniel-Pascal Zorn • Mit Rechten reden • Klett Cotta • 183 Seiten • 14,– Euro

© Bob Sala

PER LEO MAXIMILIAN STEINBEIS DANIEL-PASCAL ZORN MIT RECHTEN REDEN Karla Paul, Literaturlobbyistin

„Mit Rechten reden heißt nicht nur, mit Rechthabern streiten. Sondern auch mit Gegnern, die Rechte haben.“ In einer Demokratie haben viele Stimmen ihren Platz. Aber wie führt man einen Austausch mit denjenigen, deren Meinung von der eigenen am weitesten entfernt ist? Wie kann Annäherung und gegenseitige Akzeptanz gelingen, wie können wir unsere Vorurteile und Mauern überwinden? Geht es uns im gemeinsamen Gespräch nur um das Überzeugen von der eigenen Sicht oder auch um das Ergründen der gegenteiligen Punkte? Die Autoren bieten in ihrem Sachbuch Argumente für den Diskurs mit Nationalsozialisten als auch für das innere Gespräch mit sich selbst. Sie verwenden philosophische, aber auch informative Ansätze, um nicht auf plakatives Verlangen nach Empörung und Verbreitung reinzufallen und die negative Kommunikation noch zu unterstützen. In ihrer Analyse rechter Rhetorik werden viele Muster offen gelegt und Sprachspiele enttarnt. Wie im politisch ähnlich motivierten „Gegen den Hass“ von Carolin Emcke wird auch hier kommuniziert, dass Ausgrenzung, Wut, Trolle und politische Enttäuschung unsere gemeinsamen gesellschaftlichen Probleme sind und somit obliegt auch jedem von uns ein Teil der Lösung. Beide Bücher sind ein Angebot für ein zukünftig besseres Miteinander, das den Leser ebenso fordert wie stärkt.

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Meg Wolitzer • Die Ehefrau • Sprecherin: Gabriele Blum • Übersetzer: Stephan Kleiner • Der Hörverlag • Laufzeit: 8:39 Stunden • 20,95 Euro • auch als Printausgabe beim DuMont Buchverlag erhältlich

© Michael Tasca

MEG WOLITZER DIE EHEFRAU

Anne Freytag, Autorin

Ganz oben, ganz weit über den Wolken, wo die Freiheit grenzenlos sein muss, beschließt Joan Castleman ihren Ehemann, den berühmten Schriftsteller Joe Castleman, zu verlassen – und in „Die Ehefrau“ erzählt sie dem Leser warum. Ich höre wirklich viele Hörbücher. Die meisten davon unterhalten mich gut, aber nur ganz selten begeistert mich eine Autorin so sehr, wie Meg Wolitzer es mit „Die Ehefrau“ geschafft hat. Sicherlich liegt das zu Teilen auch daran, wie fabelhaft Gabriele Blum die Geschichte liest und wie hervorragend ihre Stimmfarbe mit der der Hauptfigur harmoniert. Aber es ist nicht nur, wie die Geschichte gelesen wird, sondern wie Meg Wolitzer sie erzählt. Unaufgeregt und ruhig, und doch voller Spannung und Raffinesse, mit viel Humor, einem Blick für die kleinen Dinge und einer Beobachtungsgabe, die den Leser ganz tief in Joans Welt hineinzieht. In eine Ehe, in ihre guten und ihre schlechten Zeiten, in die Verworrenheit und die Abgründe. Dabei macht das Stilmittel des Erzählers diesen Roman zu etwas ganz Besonderem. Man ist weit weg und doch ganz nah. Wenn es nach mir geht, ist das ganz große Erzählkunst. Meg Wolitzer hat sich mit diesem Roman in mein Bewusstsein geschrieben. Mit ihren wunderbaren Figuren, den wunderbaren Wendungen und ihrem wunderbaren Schreibstil. Ich werde Joan und ihre Geschichte nicht vergessen – weil sie beides war: außergewöhnlich und außergewöhnlich gut erzählt.

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Colson Whitehead • Underground Railroad • Übersetzer: Nikolaus Stingl • Hanser • 352 Seiten • 24,– Euro

© Angela Kirschbaum

COLSON WHITEHEAD UNDERGROUND RAILROAD Frauke Vollmer, Online- und Community Managerin, Hanser Literaturverlage

„Underground Railroad“ von Colson Whitehead ist ein Roman über ein dunkles Kapitel der amerikanischen Geschichte. Er spielt in der Zeit vor der Sklavenbefreiung. Unzählige Schwarze wurden aus Afrika verschleppt und leben in den Vereinigten Staaten – in Unfreiheit und unter unwürdigsten Lebensbedingungen. Eine von ihnen ist die 17-jährige Cora, die auf einer Baumwollplantage in Georgia ihr Dasein fristet. Wogende Baumwollfelder erstrecken sich bis zum Horizont, wie „Schaumkronen auf den Wellen eines mitleidlosen Ozeans“. Für Cora gibt es keinerlei Aussicht, diesem Leben, das aus harter Arbeit und unwillkürlichen Schikanen ihrer weißen Herren besteht, zu entkommen, bis sie von der „Underground Railroad“ hört und sich von Caesar, einem Leidensgenossen, zur Flucht überreden lässt. Die „Underground Railroad“ hat es tatsächlich gegeben. Sie war ein Netzwerk, das zwischen 1810 und 1850 mittels geheimer Routen und Fluchthelfern tausenden Sklaven auf der Flucht aus den Südstaaten in den Norden half. Colson Whitehead hingegen – und das ist der „Twist“ des Romans – nimmt den Begriff wörtlich. In seiner Geschichte gibt es tief unter der Erde eine richtige Untergrundbahn mit echten Waggons, einem Schienennetz und unterirdischen Bahnhöfen. Für Cora beginnt eine atemberaubende Reise, auf der sie Kopfgeldjägern, obskuren Ärzten, aber auch heldenhaften Bahnhofswärtern begegnet. Das alles führt dazu, dass sich der Roman wie eine mitreißende Abenteuergeschichte liest, in der es ständig unerwartete Wendungen gibt und immer um die Frage geht, ob es Cora endlich gelingt, wahre Freiheit zu finden. Gleichzeitig wird der Leser brutal daran erinnert, dass dies alles auf grausamen historischen Tatsachen beruht. Whiteheads Erzählton ist schnörkellos und doch entstehen Bilder voller suggestiver Wucht. Die Zustände, das Elend und die permanente Angst und Unterdrückung schildert er so eindrücklich, dass es den Leser manches Mal an Grenzen bringt. Eine ambivalente Lektüre also, die mich in diesem Jahr sehr bewegt hat.

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Lily King • Vater des Regens • Übersetzerin: Sabine Roth • C.H. Beck • 399 Seiten • 21,95 Euro

© Lé Gensch

LILY KING VATER DES REGENS Mareike Fallwickl, Texterin und Autorin („Dunkelgrün fast schwarz“, FVA, März 2018)

„Manche Leute kann man besser aus der Ferne liebhaben“ Als Daley elf Jahre alt ist, verlässt ihre Mutter ihren Vater. Von da an ist Daley eine Zerrissene: Sie pendelt zwischen den Eltern, versucht zu kitten, was nicht zu kitten ist. Der Vater ist einer jener Alkoholiker, die ihre Sucht als Geselligkeit tarnen, er ist gehässig, manipulativ und unberechenbar. Als Daley erwachsen ist und mit ihrer großen Liebe Jonathan nach Kalifornien gehen will, erreicht sie ein Hilferuf. Und obwohl sie nichts mehr mit ihm zu tun hat, obwohl ihr eigenes Leben gerade beginnt, fährt sie zu ihrem Vater. Eine Entscheidung, die niemand verstehen kann. Und eine Entscheidung, die sie fast selbst in den Abgrund reißt. Manchmal liest man einen Roman, der genau auf ein kleines Loch im eigenen Herzen passt. Das ist schön. Und tut weh. Es ist nicht notwendig, dass man sich beim Lesen mit einer Figur identifiziert, aber wenn es geschieht, ist das ein berührendes Erlebnis. Als würde jemand zu dir sprechen, der dich versteht. Als würde jemand deine Sätze vollenden. Während im Roman niemand Daley zur Seite steht, als sie dem Menschen hilft, der nie einen Finger für sie gerührt hat, fühle ich mit ihr. Lily King ist eine herausragende Schriftstellerin. Sie erzählt schlicht, schnörkellos, melancholisch, mit Sätzen, die ihre Wucht nach und nach entfalten. Und am Ende gab es diesen Moment. Ich hatte Gänsehaut und Tränen in den Augen. Das ist der Grund, warum ich lese: Weil Bücher manchmal etwas Derartiges bewirken. Und weil sie manchmal genau auf ein kleines Loch im Herzen passen.

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Hari Kunzru • White Tears • Übersetzer: Nicolai von Schweder-Schreiner • liebeskind • 352 Seiten • 22,– Euro

© Vera Prinz

HARI KUNZRU WHITE TEARS Uwe Kalkowski, Literaturblog Kaffeehaussitzer, Marketingleiter RWS Verlag

Der Roman „White Tears“ von Hari Kunzru ist eines der bemerkenswertesten, spannendsten und vielschichtigsten Bücher des Jahres, das sich in die gängigen Kategorien nicht richtig einordnen lässt. Ist es ein Krimi? Eine Gesellschaftsstudie? Eine Geistergeschichte? Ein Roadmovie? Von allem etwas und dabei doch ein ganz eigenes Werk. Es geht um die Sklaverei, die in den USA noch lange nach deren offiziellen Abschaffung auf perfide Art und Weise fortdauerte; eng verknüpft mit Rassismus und Unterdrückung, deren Folgen bis heute andauern. Und um das gerade in letzter Zeit viel diskutierte Thema der kulturellen Aneignung. Im Mittelpunkt stehen die Freunde Seth und Carter, der eine ein obsessiver Sammler von Geräuschen, der andere besessen von uralter, fast vergessener Bluesmusik. Aus akustischen Fundstücken mischen sie einen Blues-Song zusammen, laden ihn im Netz hoch und erfinden den Namen eines fiktiven Sängers. Charlie Shaw. Dann beginnt die Sache aus dem Ruder zu laufen, die Handlung eskaliert, die Geschichte beginnt zu zerfasern. Carter wird von Unbekannten ins Koma geprügelt und um ihn und sich zu retten, macht sich Seth auf die Suche nach einem vergessenen Sänger, der seit Jahrzehnten tot ist. Denn Charlie Shaw hat einst tatsächlich gelebt. Seth reist in den Süden der USA, dorthin, wo der Blues seinen Anfang nahm. Was wird er finden? Wen wird er finden? Was wird Realität sein? Was nur eine Wahnvorstellung? Sind die Dinge, die Seth erlebt, einem anderen geschehen, vor langer Zeit? Alles beginnt sich zu verschieben und Seth ist irgendwo dazwischen unterwegs, zwischen damals und heute, auf der Suche nach jenem Sänger, der vor vielen Jahren verschwunden ist und von dem nur ein einziger Song existiert. Ein Blues-Song wie eine Botschaft, traurig und wütend zugleich. Tief hinein in die Vergangenheit wird er stoßen und etwas aufwühlen, das niemand mehr wissen möchte.

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Nava Ebrahimi • Sechzehn Wörter • btb • 320 Seiten • 18,– Euro

© Stephan Sahm

NAVA EBRAHIMI SECHZEHN WÖRTER Ein Roman, den ich zufällig in der Buchhandlung entdeckt habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat. Der Titel zog mich in seinen Bann: Was sind das nur für wichtige Wörter? Nina Sahm, Autorin (u.a. „Das Alphabet meiner Familie“) und Texterin

„Erst war es nur ein Wort. Das Wort, flink und wendig, überfiel mich, wie alle diese sechzehn Wörter aus dem Hinterhalt. Nie hatte ich es bisher geschafft, mich zu wehren, stets zwangen sie mir aufs Neue ihre Botschaft auf; da ist noch eine andere Sprache, deine Muttersprache, glaube ja nicht, die Sprache, die du sprichst, wäre deine Sprache.“ Die persischen Ausdrücke verfolgen die Ich-Erzählerin Mona und erinnern sie daran, dass sie zwar in Köln aufgewachsen ist, aber ihre Wurzeln im Iran hat. Nach dem Tod ihrer wunderbar unangepassten Großmutter mit dem derben Humor reist Mona zusammen mit ihrer Mutter zurück in die Heimat. Dort taucht sie tief in die Rätsel ihrer Familiengeschichte ein: Warum hat ihr Vater, dieser wild entschlossene Freiheitskämpfer, sich auf eine arrangierte Ehe mit ihrer damals erst 13-jährigen Mutter eingelassen? Was kann sie zwischen all den Lügen überhaupt noch glauben? Neue Eindrücke und alte Erinnerungen überwältigen sie. Mona verschiebt den Rückflug nach Köln, trifft ihren Langzeitliebhaber Ramin wieder und lüftet schließlich auf einer Reise nach Bam ein dunkles Familiengeheimnis. Nava Ebrahimi ist ein warmherziges intelligentes Porträt einer jungen Frau zwischen zwei Welten gelungen, eine poetische Familiengeschichte, die lange nachhallt.

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Carlos Ruiz Zafón • Das Labyrinth der Lichter • Übersetzer: Peter Schwaar • S. Fischer • 944 Seiten • 25,– Euro

CARLOS RUIZ ZAFÓN DAS LABYRINTH DER LICHTER

© privat

Es ist Zafóns lebendige und von Metaphern getränkte Schreibweise, die mich seit jeher in ihren Bann zieht. Kaum ein anderer Autor vermag es, die mystische Seite Barcelonas so authentisch heraufzubeschwören wie er. Er erweckt die Gässchen, Straßen und Hinterhöfe Barcelonas zum Leben und verleiht der katalonischen Hauptstadt eine gewisse Anmut, wenn auch mit zwielichtiger Note. Stephanie Sack, Bloggerin bei „Nur Lesen ist schöner“ (lesenslust. wordpress.com)

Und so schleudern dich seine Zeilen sechs Jahre nach dem letzten Roman der Barcelona-Reihe wieder in das von Nebelschwaden durchwaberte und düstere Barcelona zurück. Wir finden uns an der Seite von Alicia Gris wieder, einer jungen Frau mit schmerzhafter Vergangenheit. Sie ist es, die sich dem plötzlichen Verschwinden des Ministers Mauricio Valls annehmen und hinter das Geheimnis eines geheimnisvollen Buches aus der Serie „Das Labyrinth der Lichter“ kommen soll. In den Straßen von Barcelona prasseln die Erinnerungen vergangener Tage auf sie ein wie ein brennender Feuerhagel und rauben ihr nahezu die Luft zum Atmen. Trotz seelischer und körperlicher Schmerzen schleppt sie sich durch das mystische Geflecht der Stadt und nimmt die Spur des Ministers auf, die ihrer eigenen Spur gefährlich nahe steht. „Ich zog los, erinnere mich aber, dass die Kleider, die Schuhe und selbst die Haut schwer an mir zogen. Ein Schritt war anstrengender als der andere. Als ich auf die Ramblas gelangte, sah ich, dass die Stadt in einem Augenblick der Unendlichkeit verharrte. Die Menschen waren stehengeblieben, eingefroren wie die Gestalten auf einer alten Fotografie. Der Flügelschlag einer auffliegenden Taube war nur gerade eine verschwommene Skizze. Pollenfäserchen hingen unbeweglich wie pulverisierendes Licht in der Luft. Das Wasser des Canaletas-Brunnens glitzerte im Leeren gleich einem Kollier aus gläsernen Tränen.“

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Mette Eike Neerlin • Pferd, Pferd, Tiger, Tiger • Übersetzerin: Friederike Buchinger • Illustratorin: Felicitas Horstschäfer • Dressler • 160 Seiten • 12,99 Euro

METTE EIKE NEERLIN PFERD, PFERD, TIGER, TIGER © Indra Ohlemutz

„Pferd, Pferd, Tiger, Tiger“ – das sagt man in China, wenn etwas nicht ganz gut ist, aber auch immer noch schlechter sein könnte, und das ist auch der Titel meines Weihnachts-Buches für Leser ab 12.

Kirsten Boie, Autorin (www.kirsten-boie.de)

Wieso China? Die 15-jährige Erzählerin Honey, geboren mit einer Kiefer-Gaumen-Spalte, Schwester einer geistig behinderten Jugendlichen, Tochter eines Vaters, der nur auftaucht, wenn er sie um Geld anschnorren will, hat gelernt, sich unsichtbar zu machen, immer zu tun, was man von ihr erwartet, gar nicht erst herauszufinden, was ihre eigenen Wünsche sein könnten. Als sie durch ein Versehen in einem Chinesischkurs landet, wagt sie darum auch nicht, einfach zu sagen: „Entschuldigung! Irrtum!“ und wieder zu gehen. Sie bleibt, und so lernt sie dieses chinesische Sprichwort kennen, das ihr Leben haargenau beschreibt: „Pferd, Pferd, Tiger, Tiger“. Kitsch, Kitsch, Kitsch, hätte ich bei dieser Zusammenfassung gesagt, da reitet wieder jemand auf der Welle „Jugendliche bewältigt tragisches Schicksal“. Aber Mette Eike Neerlin, die dänische Autorin, schreibt nicht nur unglaublich anrührend – sie schreibt auch nüchtern (wie immer das zusammen gehen mag) und subtil komisch. Wie sich vielleicht nicht Honeys Leben, wohl aber ihre Wahrnehmung ändert, als sie – wieder zufällig, wieder unfähig aus der Situation, die eigentlich gar nichts mit ihr zu tun hat, auszusteigen – einen alten Mann kennenlernt, der im Sterben liegt und trotzdem noch darauf besteht, dass das Leben schön ist, das erzählt dieses Buch. Nicht umsonst wurde das Buch 2015 mit dem dänischen „Skriverprisen“ ausgezeichnet. Jede Wette kann man damit die erste Weihnachtsnacht ganz perfekt verbringen!

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Monika Held • Sommerkind • Eichborn • 224 Seiten • 20,– Euro

© Fotostudio Berns

MONIKA HELD SOMMERKIND

Maren Kahl, Online-MarketingManagerin bei Bastei Lübbe

Als ich das Cover von „Sommerkind“ zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich, dass ich das Buch lesen musste. Es war wie bei manch einer Begegnung: Man trifft einen völlig Fremden und doch ist da sofort dieses Gefühl der Vertrautheit, die Ahnung, dass man gerade einen neuen Freund kennenlernt. Die Illustration auf dem Umschlag hat in mir genau das geweckt: Ohne den Klappentext gelesen zu haben, wusste ich, dass ich die Geschichte lesen möchte. „Sommerkind“ – ein Wort, mit dem man Freude und Leichtigkeit verbindet, das aber doch einen so ernsten Hintergrund hat: Malu ist solch ein Sommerkind. An einem sonnigen Tag kann sie im Schwimmbad gerade noch vorm Ertrinken gerettet werden. Doch anders als bei Kindern, die im Winter einen Badeunfall überleben und dabei von einer Kältestarre vor schlimmeren Hirnschäden geschützt werden, fristet sie ihr Leben von nun an im Wachkoma. Es ist die Geschichte von Malus Bruder Kolja, der von seiner Mutter mit den Worten „Jetzt geh und schau, was du angerichtet hast“ ins Krankenhaus geschickt wird, um Malu zu besuchen. Und von Ragna, der plötzlich das Bild eines ertrunkenen Mädchens im Kopf auftaucht, und die versucht, sich an seine Geschichte zu erinnern. „Sommerkind“ ist ein Buch über Erinnerungen, Schuld und Freundschaft, das mit seiner poetischen, zarten Sprache berührt und doch völlig ohne Pathos auskommt und den Leser hoffnungsvoll zurücklässt.

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Hanya Yanagihara • Ein wenig Leben • Übersetzer: Stephan Kleiner • Hanser Berlin • 960 Seiten • 28,– Euro

© Claus Setzer

HANYA YANAGIHARA EIN WENIG LEBEN

Dr. Kyra Dreher, Geschäftsführerin der Fachausschüsse und Interessengruppen (Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.)

„960 Seiten über eine Männerfreundschaft soll ich lesen, ernsthaft jetzt? Warum?“, habe ich gedacht als mir „Ein wenig Leben“ ans Herz gelegt wurde. Da bedurfte es schon noch der Platzierung auf den Shortlists gleich zweier wichtiger Literaturpreise, um mich letztlich zum Kauf und zur Lektüre zu motivieren. Was wäre mir entgangen, hätte ich es nicht gelesen? Ein hervorragend erzählter Roman über Freundschaft, Liebe, Demütigung, Selbstzerstörung und die Macht des Unausweichlichen. Man wird gefordert als Leser, ja, mal leidet man, mal wird man wütend ob der Ohnmacht der Geschehnisse, mal aggressiv, mal zutiefst berührt. Es wird einem Einiges zugemutet und abgefordert. Aber gleichsam wird man mitgerissen von der Wucht des Erzählten, von der eigenen Anteilnahme am Geschehen, von der eigenen Neugier zu verstehen, wie alles so kommen konnte, wie es kam. Und das lässt einen über das eine oder andere ebenso ärgerliche wie überflüssige Klischee (Ausnahmekarrieren aller Protagonisten, Leben in NYC) und zuweilen zu dick aufgetragener Emotionen doch leicht hinwegsehen. Es bleibt ein lesenswertes Buch, das man nicht so schnell vergisst.

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Kat Menschik • Der goldene Grubber • Galiani Berlin • 312 Seiten • 34,99 Euro

© Jupp Schmitz

KAT MENSCHIK DER GOLDENE GRUBBER Dorothee Junck, Inhaberin Buchladen Neusser Straße (Köln)

Zwei Ereignisse haben Einfluss auf meine diesjährige Verschenkliste. Zum einen bin ich umgezogen und habe mich von vielen Büchern getrennt. Überraschenderweise ging das oft ohne viel Schmerz. Wenn es drauf ankommt, hängt das Herz an den wunderbar gestalteten und wirklich besonderen Büchern. Und die Sehnsucht nach Grün im Umfeld wird gerade ausgelebt. Sei es mit einem Schrebergarten oder einem eigenen Flecken Garten. „Der goldene Grubber“ ist mein liebstes Gartenbuch. Es ist so wunderbar illustriert und hilft mit vielen tollen Tipps über die gärtnerischen Niederlagen hinweg. Wieso schaut es trotz aller Mühen bei mir nicht so aus wie in anderen wunderbaren Gärten? Dieses Buch bietet eine Fülle an handfesten Tipps und Ratschlägen und schafft schon beim Lesen und Blättern Glücksmomente. Kat Menschik ist mehrfach preisgekrönte Illustratorin und hat mit diesem Buch ihrer ganz persönlichen handfesten Gartenleidenschaft ein wunderbares Denkmal gesetzt.

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Erich Maria Remarque • Die Nacht von Lissabon • KiWi Taschenbuch • 384 Seiten • 12,– Euro

© privat

ERICH MARIA REMARQUE DIE NACHT VON LISSABON

Wibke Ladwig, Social Web Ranger und Bloggerin (@sinnundverstand, http://sinnundverstand. tumblr.com)

„Glauben Sie an ein Weiterleben nach dem Tode?“, fragte der Mann mit den Billetts. Ich blickte auf. „Ich weiß es nicht“, erwiderte ich schließlich. „Ich war in den letzten Jahren zu sehr mit dem Weiterleben vor dem Tode beschäftigt.“ Erich Maria Remarque erzählt die Geschichte einer Nacht: „Die Nacht von Lissabon“. Zahllose Menschen versuchen, Europa zu verlassen, auf der Flucht vor Verfolgung, Terror und Tod. Es ist 1942, ein Jahr, in dem der Sieg der Deutschen möglicher scheint als ihre Niederlage. Nur wer alle Papiere zur richtigen Zeit beisammen hat, kann eines der Schiffe nach Amerika nehmen. In der Nacht, über die Remarque schreibt, treffen zwei Männer aufeinander: Der eine hat gerade die Chance auf Tickets für das nächste Schiff nach Amerika in der Hoffnung auf das nötige Geld im Casino verspielt. Der andere bietet ihm Tickets an. Sein Preis: diese Nacht, in der er seine Geschichte erzählt. Das Buch ist eine Geschichte voller Wehmut und verlorener Hoffnungen, eine Geschichte, in der sich schmerzhaft mitteilt, was Flucht bedeutet. Aber es ist auch eine Geschichte über Liebe und Menschlichkeit. „Die Nacht von Lissabon“ erschien 1962. Remarques Sprache ist klar, seine Figuren modern und – nah. Dieses Buch kam zu mir in einer Zeit, in der das Thema Flucht wieder nah ist: Durch die Begegnungen mit Menschen, die flüchteten und, obgleich nun in Sicherheit, weiterhin um ihr Leben fürchten. Und durch die Erinnerungen von Menschen, die vor fünfundsiebzig Jahren flohen, und die dieser Schrecken im Alter wieder heimsucht.

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Walter Moers & Florian Biege • Die Stadt der Träumenden Bücher (Teil 1 Buchhaim) • Knaus (Graphic Novel) • 112 Seiten • 25,– Euro

© Katharina Ke Fotografie

WALTER MOERS & FLORIAN BIEGE, DIE STADT DER TRÄUMENDEN BÜCHER (TEIL 1 BUCHHAIM) Katharina Seck, Autorin

Schon lange wollte ich in die magische Welt Zamoniens eintauchen, von dessen Zauber ich zwar schon oft gehört hatte, ihn aber noch nie selbst erleben konnte. Die erstmals als Graphic Novel gestaltete Ausgabe aus dem Knaus Verlag bot sich also geradezu einladend dazu an, einen ersten Ausflug nach Buchhaim zu wagen. Und was soll ich sagen? Ich wurde nicht enttäuscht! Kann ein Leser, der ebenso sehr wie ich mit Leib und Seele an der Welt aus Büchern und Buchstaben und Geschichten hängt, überhaupt enttäuscht von einem Roman sein, der so voller Fantasie, Ideenreichtum und Humor ist? Walter Moers und dem Illustrator Florian Biege gelingt mit dieser Ausgabe eine wunderschöne, detailverliebte und ganz und gar phantastische Version einer Geschichte, die bereits die Herzen vieler Leserinnen und Leser im Sturm erobert hat. Sie erzählt Altes neu, erzählt es auf eine ganz eigene Weise und setzt unsere verstaubte Fantasie damit neu in Brand! Ein Roman, mit dem man es sich vor dem Kaminfeuer gemütlich machen sollte, um gemeinsam mit Hildegunst von Mythenmetz in einer unterirdischen Bücherstadt spannende Abenteuer zu erleben!

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Maeve Brennan • Sämtliche Erzählungen • Herausgeber und Übersetzer: Hans-Christian Oeser • Steidl • 1.168 Seiten (Zwei Bände im Schuber) • 48,– Euro

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MAEVE BRENNAN SÄMTLICHE ERZÄHLUNGEN Machen mehr als glücklich: Maeve Brennans Erzählungen. Simone Finkenwirth, betreibt seit 2010 den Blog Klappentexterin. 2013 hat sie nach dem von Daniels Beskos initiierten Indiebookday den Gemeinschaftsblog »We read Indie« ins Leben gerufen. Dort widmet sie sich mit anderen BloggerInnen der unabhängigen Verlagswelt. Simone Finkenwirth ist derzeit als Führungskraft bei Hugendubel in Berlin tätig.

Maeve Brennan ist die bekannteste Unbekannte unter den New Yorker Edelfedern des letzten Jahrhunderts. Und sie wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Zu dem Anlass hat der Übersetzer ihrer Werke, Hans-Christian Oeser, beim Steidl Verlag eine Gesamtausgabe in zwei Bänden herausgegeben. Der Schuber ist – wie immer bei Steidl – hochwertig gestaltet und von einer zurückhaltenden Schönheit. Das seidenweiche Papier duftet, das Schriftbild könnte nicht angenehmer sein. Allein das ist schon großes Glück. Doch hat man die Seiten erst einmal aufgeschlagen und ist in den vielstimmigen Kosmos der Geschichten eingetaucht, möchte man nicht mehr herauskommen. Wer war Maeve Brennan und was zeichnet ihr Werk aus? Die gebürtige Irländerin ist in jungen Jahren mit ihrer Familie nach Amerika ausgewandert. Dort arbeitete sie später u.a. für den New Yorker und hat hinreißende Kolumnen über die legendäre Metropole und ihre Bewohner geschrieben. Ihre messerscharfe Beobachtungsgabe übersieht nichts – keine Falte im Rock, keine Biene, kein Schuldgefühl. Und ihre feine Feder schreibt es dann mit spitzer Zunge nieder für ihre neugierigen Leser. Wir können nicht anders, als ihr leise und staunend zu folgen – ob mit weit aufgerissen Augen oder einem Seufzen im Hals. Manches ist traumschön, anderes ähnelt einem Höllenfeuer und brennt wie Chili. Der Schuber enthält sämtliche Erzählungen, die Kolumnen und ihre Novelle „Die Besucherin“. Es gibt allerhand zu entdecken, wie beispielsweise die bezaubernde Hündin Blubell. Insgesamt über tausend Seiten, die mehr als glücklich machen. Kann es Schöneres zu Weihnachten geben? Merry Christmas!

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Michel Houellebecq • In Schopenhauers Gegenwart • Übersetzer: Stephan Kleiner • DuMont Buchverlag • 80 Seiten • 18,– Euro

© Christoph Michaelis

MICHEL HOUELLEBECQ IN SCHOPENHAUERS GEGENWART Herr Klappentexter, ist seit 2017 fester Bestandteil des Blogs Klappentexterin, den seine Frau, Simone Finkenwirth, seit 2010 betreibt. Am liebsten schreibt er über Klassiker und den Club der toten Dichter; beruflich ist er als Autor aktiv.

Die Tragik des Wollens. Houellebecq liest Schopenhauer. Hier kommt Futter fürs unterforderte Hirn. Wer Houellebecq nur auf das Enfant terrible reduziert, der hat ihn noch nicht gelesen oder ihn gehörig missverstanden. Beides kann mit diesem schmalen, aber intellektuell gewichtigen Buch korrigiert werden. Man entdeckt nicht nur den wahren Houellebecq, sondern mit Arthur Schopenhauer gleich noch einen der bedeutendsten Philosophen. Auf dessen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ basiert Houllebecqs Buch. Die ewige Tragik des Wollens beschreibt niemand besser als Schopenhauer. Dabei wäre der Mensch besser bedient, ruhig und frei von aller Reflexion und Begierde die Dinge der Welt in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Houellebecq schreibt: „Ich kenne keinen Philosophen, dessen Lektüre auf Anhieb so ansprechend und trostreich ist wie die Schopenhauers.“ Schon der erste Satz Die Welt ist meine Vorstellung ist für Houellebecq in seiner Freimütigkeit und Aufrichtigkeit nicht zu überbieten. Zustimmendes Nicken. Aber auch der französische Autor hält für uns einige sehr tröstliche Sätze bereit: „Das ambitionierte, aktive und netzwerkende Individuum, das darauf aus ist, in der Kunstszene Karriere zu machen, wird sein Ziel so gut wie nie erreichen. Den Sieg tragen nahezu antriebslose, zum Loser geborene Nieten davon.“ Seufzen und erneutes Nicken. Schopenhauer spricht vom Tod, vom Mitleid, von der Tragödie und dem Leid. Kurzum – vom Leben. Und ist dabei nicht frei von Angst, aber kühn und mutig. Wie Houellebecq in seinen Büchern. Fürchtet euch also nicht, stillt den Hunger eures Geistes mit diesem erhellenden Buch!

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Nell Leyshon • Die Farbe von Milch • Übersetzerin: Wibke Kuhn • Eisele Verlag • 208 Seiten • 18,– Euro

NELL LEYSHON DIE FARBE VON MILCH © privat

„Mein Name ist Mary. Mein Haar hat die Farbe von Milch. Und dies ist meine Geschichte.“ Florian Valerius, Filialleitung der Uni-Buchhandlung Stephanus in Trier & Bookstagrammer (www.instagram.com/ literarischernerd)

Die 15-jährige Mary lebt in England, im Jahre des Herrn 1831, mit ihrer Familie auf einem Bauernhof – das Leben ist hart und karg, tagein, tagaus hilft sie mit ihren beiden Schwestern den Hof zu bewirtschaften. Doch Mary ist niemand, der jammert oder klagt. Ganz im Gegenteil: Sie ist nicht auf den Mund gefallen, forsch – und intelligent. Eines Tages wird sie zum örtlichen Pfarrer gerufen, um dessen kranke Frau zu pflegen. Dort lernt sie lesen und schreiben. Ein ganzes Jahr umfasst Marys Bericht, den wir lesen und verfolgen – wir sehen die Welt durch ihre Augen, lernen ihr Innerstes kennen. Wir erleben ihr „Wachsen“, sowohl sprachlich als auch gedanklich, wie sie Selbstvertrauen gewinnt, stärker wird. Wir erleben, wie sie nach und nach die richtigen Worte findet – sind ihre Sätze anfangs noch voller Kommafehler und grammatikalisch falsch, findet sie doch ihren Rhythmus – und wir, als Leser, werden dadurch Teil ihrer Welt. Ein ehrliches Buch, ein hartes Buch, eine Anklage an alle Männer, die versuchen, Frauen zu brechen und zu dominieren – was es leider schrecklich aktuell macht. Viel mehr möchte ich nicht verraten – lernen Sie Mary, die außergewöhnlichste Heldin, die das Lesejahr 2017 für mich zu bieten hatte, kennen und lieben – so wie es mir vergönnt war.

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Mariana Leky • Was man von hier aus sehen kann • DuMont Buchverlag • 320 Seiten • 20,– Euro

© BUCHBOX!

MARIANA LEKY WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN

David Mesche, Mitinhaber der BUCHBOX! – Buchhandlungen Berlin

Romane, die wie „Unterleuten“ von Juli Zeh im dörflichen Umfeld starten, sind groß in Mode. Dass dieses Buch trotzdem frisch, voller neuer Ideen und sehr unterhaltsam daher kommt, ist Mariana Lekys ideenreichem Beziehungsgeflecht zu verdanken, das sie in dem kleinen Ort skizziert, sowie ihrer großartigen Fabulierkunst. Im Wesentlichen dreht sich der Roman um Luise, die sich unsterblich zart verliebt in den Mann, dem sie zufällig auf der Suche nach dem entlaufenden Hund begegnet, und der in Japan lebt: Frederik. Eine Beziehung, die dazu führt, dass sich das Dorf mit Buddhismus beschäftigt und viele Bewohner sich kurzzeitig ändern, weil Luise glaubt, dass ihr Geliebter mit den Schrullen und Eigenheiten der Leute überfordert wäre. Natürlich fallen die Leute schnell in ihre alten, verschrobenen Muster zurück, die Frederik jedoch viel weniger irritieren als Luise erwartet hat. Auch Großmutter Selma hat ihre Eigenheiten. So verstirbt stets ein/e Dorfbewohner/in am Folgetag, wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint. Nach einem solchen Traum geht natürlich die Angst um im Dorf. Zwar gesteht sich bis auf die Wahrsagerin niemand ein, an derartige Zeichen zu glauben, doch bringen sich alle schnell in Sicherheit und atmen erleichtert auf, wenn der Tag darauf rum ist. Selma ist sowas wie die gute Seele der Gemeinschaft. Sie tröstet, hilft, gibt Ratschläge und nascht am liebsten Mon Chéri, wobei sie die Schokohülle stets übrig lässt. Neben den beiden gibt es noch den Optiker, der Selma seit vielen Jahren liebt, jeder weiß das auch, bis auf die Betroffene. Sein Markenzeichen ist das T-Shirt „Mitarbeiter des Monats“, welches er in seinem Ein-Mann-Betrieb meist trägt. Oder den Jäger, der ein unglückliches Händchen bei der Erziehung seines Sohnes hat. Oder Martin, Luises Kamerad, der es zuhause nicht leicht hat, doch auf der Fahrt zur Schule mit Luise wunderbare, poetische Beobachtungsspiele spielt. „Was man von hier aus sehen kann“ ist absolut lesenswert. Ein Fest für alle Menschen, die die leisen Töne lieben und die vielen Möglichkeiten, die Worte und Text der Phantasie zu bieten haben. Liebe, Leben, Glück und Tod sind die großen Themen, die die Autorin in diesem einfachen Dorf virtuos bearbeitet.

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Andrea Hejlskov • Wir hier draußen: Eine Familie zieht in den Wald • Übersetzerin: Roberta Schneider • mairisch Verlag • 288 Seiten • 20,– Euro

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ANDREA HEJLSKOV WIR HIER DRAUSSEN: EINE FAMILIE ZIEHT IN DEN WALD Janine Rumrich, literarisches Trüffelschwein und Buchbloggerin hinter kapri-zioes.de

Warum ich doch nicht in den Wald gezogen bin „Wir hier draußen: Eine Familie zieht in den Wald“ von Andrea Hejlskov war das Buch, welches mich in diesem Jahr am meisten zum Nachdenken brachte. Es ist kein Roman, sondern vielmehr ein Tatsachenbericht, der poetisch aufbereitet wurde. Andrea Hejlskov und ihr Mann Jeppe fassten den Entschluss, als Familie in den Wald zu ziehen. In „Wir hier draußen“ hat die Autorin die Erlebnisse aus dem ersten Jahr in der Natur aufgeschrieben und dabei nichts beschönigt. Am Beginn schreibt Andrea Hejlskov, wie es so weit kam, dass sich die Familie gezwungen gesehen hat, in den Wald zu ziehen. Die Hejlskovs lebten zuerst wie ganz normale Leute in der Stadt, aber fühlten sich unwohl: Nie war das Geld genug, nie war sich die Familie wirklich nah, nie reichte die Zeit für alle Vorhaben. An dieser Stelle ist das Buch „Wir hier draußen“ als Kapitalismuskritik zu verstehen. Zugleich beschwert sich Andrea Hejlskov nicht nur, sie versucht auch eine Lösung für sich zu finden. Diese Lösung hat nichts mit idyllischer Romantik in der Natur gemein, denn im Wald ging es zunächst um existenzielle Bedürfnisse, wie ausreichend Essen zu haben und eine warme Unterkunft zu bauen. Dies alles zu lesen, ist spannend und aufschlussreich, aber nun möchte ich um nichts in der Welt selbst so ein Leben ausprobieren. Dafür bewundere ich umso mehr Andrea Hejlskov und ihre Familie, die das schon 6 Jahre durchhält.

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© Traumstoff

Axel Hacke • Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen • Kunstmann • 192 Seiten • 18,– Euro

Hannah Simon, Autorin (www.hannahsimon.de)

AXEL HACKE ÜBER DEN ANSTAND IN SCHWIERIGEN ZEITEN UND DIE FRAGE, WIE WIR MITEINANDER UMGEHEN Ganz und gar nicht altmodisch Axel Hacke nimmt uns mit auf die Suche nach einer Begriffserklärung. Und nach einer Antwort darauf, ob Anstand etwas Überholtes ist. Er beleuchtet die „schwierigen Zeiten“ – was macht es mit uns, wenn wir uns nichts mehr ins Gesicht sagen müssen, sondern einfach in ein Kommentarfeld tippen und danach den Rechner ausschalten und Kaffee trinken gehen? Werden Pöbeleien, Aggressivität, Angriffe plötzlich eher akzeptiert, wenn ein Mensch, der all dies verkörpert, zum Präsidenten gewählt wird? Ich bin dem Autor sehr gern in seinen Gedankengängen gefolgt, habe dem fiktiven Gespräch mit einem Freund gelauscht, der andere Standpunkte beleuchtet, habe die klugen Einschübe aus Literatur und Wissenschaft genossen. Und ich war auch überrascht: Es geht nicht nur darum, welches Verhalten gut und richtig ist. Es geht darum, zu verstehen und anzuerkennen, dass die Spezies Mensch ein grundlegendes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit hat und wie sich das im Zeitalter des Internets auswirkt. Und ein Plädoyer – nein, nicht nur für das Gute und Richtige, sondern auch für das aufmerksame Zuhören, gerade dann, wenn der andere anderer Meinung ist. Für mich ist dieses wunderschön gestaltete Büchlein, das sich Fragen stellt, die ich mir auch stelle, das unaufgeregt und offen und gewandt daherkommt, in diesem Jahr eine echte Bereicherung gewesen.

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Leonhard Horowski • Das Europa der Könige • Rowohlt • 1.120 Seiten • 39,95 Euro

© Christoph Künne

LEONHARD HOROWSKI DAS EUROPA DER KÖNIGE Klaus Kowalke, Inhaber der Buchhandlung Lessing und Kompanie (Chemnitz)

Mit Leonhard Horowskis „Das Europa der Könige“, erschienen im Rowohlt Verlag, empfehle ich das beste Geschichtsbuch in diesem Jahr. Horowski erzählt wie kaum ein deutschsprachiger Historiker, er macht Geschichte lebendig. Sein Buch beschreibt die Epoche vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zu den Anfängen der Französischen Revolution. Er schildert das Europa der dynastischen Heiratspolitik auf das Schönste, Horowski kniet sich in tausende von Details, welche sich an den Höfen der europäischen herrschenden Klasse abgespielt haben. Die Höflinge bestimmen die Verquickung von Macht und dynastischer Heirat, sie bestimmen quasi über Krieg und Frieden mit. Horowski beschreibt mit viel Witz dieses scheinbare Dickicht.

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Sylvain Coher • Nordnordwest • Übersetzerin: Sonja Finck • dtv • 272 Seiten • 20,– Euro

© privat

SYLVAIN COHER NORDNORDWEST Anna Beutel, Online-Redakteurin und Buchbloggerin (buchstabentraeumerei.wordpress. com)

In diesem eindringlichen Roman sind zwei Jungen, Lucky und der Kleine, auf der Flucht. Sie stranden in einem französischen Ort am Meer und begegnen dort einem Mädchen, das sich ihrer Flucht anschließt. Denn sie alle haben eines gemeinsam: Sie möchten ausbrechen aus ihrem Leben. Kurzerhand stehlen sie ein Segelboot, sie wollen über den Ärmelkanal nach England. Drei Jugendliche in einem beengten Boot, ohne Segelkenntnisse und Karten. Coher vermittelt das Gefühl, hautnah mit dabei zu sein, man spürt die gleiche Beklemmung, die gleiche zarte Hoffnung und die stets präsente Furcht der Jugendlichen. Dem Leser wird bewusst, was für eine gewaltige Kraft diese Urgewalt Meer birgt. Es zeigt sich den drei Jugendlichen in seiner ganzen Vielfalt. Von rau und stürmisch bis hin zu sanft und friedlich. Das Meer allein ist es, welches das Schicksal der Jugendlichen bestimmt, willkürlich und unerbittlich. Es geht darum, was das Meer aus ihnen macht. Wie es sie prägt, schonungslos und eiskalt. Lucky, der Kleine und das Mädchen werden während der Irrfahrt vom Wasser geformt, Schicht um Schicht wird von Wellen, Regen und Salz abgetragen, bis nur noch der Kern eines jeden übrig bleibt und Verdrängtes zu Tage kommt. Ein faszinierender Prozess. Sylvain Coher ist für mich die Neuentdeckung des Jahres. Poetisch schreibt er über die Einsamkeit, die Stille, die Bedrohlichkeit der Nacht. Er beschreibt, wie Zweifel und Verzweiflung sich Bahn brechen und verdichten, ebenso wie die aufbrausende Kraft des Meeres.

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Isabelle Autissier • Herz auf Eis • Übersetzerin: Kirsten Gleinig • mare • 224 Seiten • 22,– Euro

© Luise Ritter

ISABELLE AUTISSIER HERZ AUF EIS Luise Ritter, Mitarbeiterin Politische Bildung und Bloggerin von „Aufgeblättert“ (aufgeblaettert.org)

„Diese Lektüre ist eine Extremerfahrung“, beschreibt die französische Tageszeitung »Corse Martin« den Roman von Isabelle Autissier. „Herz auf Eis“ als moderne RobinsonCrusoe-Geschichte hat mich persönlich nachhaltig bewegt. Louise und Ludovic, beide ursprünglich aus einem gutbürgerlichen Umfeld in Paris, beschließen eine Auszeit zu nehmen, um auf Abenteuerreise zu gehen. Auf ihrem Boot „Jason“ unterwegs am Kap Horn muss das Paar innerhalb kürzester Zeit einem sich zuziehenden Unwetter entfliehen. Es strandet auf einer Insel ohne Proviant, Kleidung oder Funkgerät. Der Aufenthalt auf der Insel wird für Louise und Ludovic zu einem Auf und Ab ihrer Gefühle. Der unmittelbare Kampf um das Überleben verändert sie und stellt die Zuneigung und Liebe der beiden Personen zueinander auf eine wesentliche Probe. Der Roman löst bei einem selbst während des Leseprozesses einen Widerstreit der Gefühle aus, da man nachzuspüren versucht, wie man sich persönlich in dieser Extremsituation verhalten würde. Folgt man dem egoistischen Drang, allein an das eigene Überleben zu denken, oder sind die Gefühle zu anderen stärker? Autissier führt mit der Lektüre beeindruckend vor Augen, wie fragil Emotionalität und zwischenmenschliche Beziehungen in der Not werden können. „Herz auf Eis“ kann man tatsächlich als Extremerfahrung bezeichnen – eine Grenzerfahrung, die zum tiefgründigen Nachdenken anregt. Für mich ist es das bemerkenswerteste Buch 2017.

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Fred Licht • Villa Ginestra • Übersetzerin: Angela Praesent • Die Andere Bibliothek • 453 Seiten • 36,– Euro

© Kai Mühleck

FRED LICHT VILLA GINESTRA Markus Schneider, Inhaber der Buchhandlung Taube (Marbach und Waiblingen)

Atmosphärische Familiengeschichte für Besser-Leser Die „schwarzen Schafe“ einer internationalen Bankiersfamilie stehen im Mittelpunkt dieses bereits 2008 erschienen Romans des Kunstdozenten und Kurators der Peggy Guggenheim Sammlung in Venedig. Es ist die Geschichte von Harry, der bereits als kleiner Junge seine Sommerferien regelmäßig bei seiner älteren Cousine in Florenz verbringt. Warum? Der Reiz dieser unangepassten Frau, die dort in der „Villa Ginestra“ Künstler, Intellektuelle und Freigeister beherbergt, ist allumfassend. Sie hat es geschafft, der Enge der Familienbank und aller Konventionen zu entfliehen. Harry wird Nachfolger in der Villa Ginestra – und als beim Schulterschluss zwischen Nazideutschland und Mussolini der Faschismus Einzug in Italien hält, wird aus dem Künstlerdomizil ein Hort des Widerstands, der Schönheit und der Freiheit. Sprachlich unwiderstehlich schillernd und brillant, dabei spannend und geistreichironisch. Ein faszinierender Familienroman vor dem Hintergrund großer europäischer Umwälzungen.

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Sonja Heiss • Rimini • Kiepenheuer & Witsch • 400 Seiten • 20,– Euro

© Fotostudio Berns

SONJA HEISS RIMINI

Aline Kappich, Online-Redaktion & Social Media bei wasliestdu.de, Mayersche Buchhandlung

Das sind die Armins, eine ganz normale Familie: Hans und Ellen, deren Ehe sich in einem fragilen, hochexplosiven Zustand befindet; Hans‘ Schwester Masha, eine erfolglose Schauspielerin, die nichts mehr verlangt als Mann und Kind sowie zu guter Letzt die Großeltern, Barbara und Alexander, seit über vierzig Jahren verheiratet und so einsam wie am ersten Tag. Von deren verfehlten Lebenszielen, den Untiefen von Begehrlichkeiten und einem lange zurückliegenden Familiengeheimnis erzählt Sonja Heiss in ihrem Debütroman „Rimini“. Schon mit ihrem hochgelobten Film „Hedi Schneider steckt fest“ hat sie bewiesen: ihr Blick auf Beziehungskonstellationen ist einzigartig. Sonja Heiss schildert die abgründigen, neurotischen Gedanken ihrer Protagonisten unmittelbar und schonungslos, dennoch kommt man ihnen Seite um Seite näher. Als Verursacher ihrer Miseren, um die sich die Figuren allesamt selbstversunken drehen, machen sie – je nach Bedarf – gewiefte oder bedauernswerte Personen aus dem Familienkreis aus. Das kommt einem eigenartig vertraut vor. Und während man noch laut über die schiefe Selbstwahrnehmung einer der Protagonisten lacht, erkennt man schon: Das bin doch ich! Das tut, wie der Schauspieler Lars Eidinger es treffend formuliert hat, „schön weh“. Ein wunderbares, witziges Buch.

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Leo Perutz • Wohin rollst du, Äpfelchen … • dtv • 272 Seiten • 12,90 Euro

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LEO PERUTZ WOHIN ROLLST DU, ÄPFELCHEN ... Yvonne Hergane, Autorin und Übersetzerin

Nein, neu ist das Buch nicht. Es erschien schon 1928, zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitung. Und doch ist es hochaktuell und spannungsgeladen bis zur letzten Zeile und hat mich Leo Perutz in diesem Jahr wiederentdecken lassen. Zu Unrecht ist Perutz, gebürtiger Prager Jude und Wahl-Wiener, als Schriftsteller in Vergessenheit geraten. Virtuos beherrschte er das Handwerk des gehobenen Kolportageromans, und so üben seine Bücher einen subtil subversiven Sog aus, wie er in heutigen Texten kaum mehr zu finden ist. In den 20er Jahren gelang Perutz das seltene Kunststück, E- und U-Literatur zu vereinen, denn er vermochte Lesermassen ebenso zu begeistern wie Kritiker und Literaten, von Tucholsky über Adorno und Kisch bis hin zu 007-Erfinder Ian Fleming. 1938 floh er nach Palästina, wo er als Autor unterging, nur in den 80er Jahren war ihm eine kurze Phase posthumer Anerkennung vergönnt. „Wohin rollst du, Äpfelchen …“ erzählt die Geschichte des Leutnants Georg Vittorin, der 1918 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Wien zurückkehrt, aber außerstande ist, sich im alten Leben zurechtzufinden. Er ist ein Besessener, getrieben vom Schwur, den Lagerkommandanten Seljukow zu töten, der ihn einst so schikaniert hat. Sein Rachefeldzug führt ihn zurück nach Russland, jagt ihn durch Krankheit, Wahnsinn und die Bürgerkriegswirren der Revolution und später kreuz und quer durch Europa, bevor er ihn letztlich wieder in Wien ausspuckt, auch dies ein Symbol der Sinnlosigkeit. Wie genau seine Suche ausgeht, soll hier nicht verraten werden, nur so viel: Ja, er findet Seljukow. Aber sich selbst hat Vittorin (in dessen Namen nicht zufällig ein pervertierter victor=Sieger mitschwingt), sich selbst hat er verloren. Denn Kriege erzeugen immer nur Verlierer. Auch dies ein Punkt, der dieses Buch zu einer zeitlos brisanten literarischen Kostbarkeit macht.

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Kanae Minato • Geständnisse • Übersetzerin: Sabine Lohmann • C. Bertelsmann • 272 Seiten • 16,99 Euro

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KANAE MINATO GESTÄNDNISSE

Ann-Kathrin Skiba, Buchhändlerin (Buchhandlung Roth, Offenburg)

Die 4-jährige Tochter der alleinerziehenden Lehrerin Moriguchi ist im Schulschwimmbad ertrunken, ein tragischer Unfall – wie es scheint. Doch Moriguchi weiß, dass der Tod ihrer Tochter Mord war. Die Täter? Sind gerade mal 13 Jahre alt und sitzen in ihrer eigenen Klasse. Unter diesen Umständen kann die Lehrerin nicht weiter an der Schule unterrichten, kündigt und verabschiedet sich von ihren Schülern auf ihre ganz eigene Art und Weise. Hier beginnt die Erzählung, die letzte Rede von Moriguchi an ihre Klasse, in der sie die Täter zwar nicht beim Namen nennt, den Schülern aber eindeutig zu verstehen gibt, wer ihre Tochter auf dem Gewissen hat. Mit dieser schockierenden Offenbarung und ihrem persönlichen Racheakt setzt sie ein tödliches Drama um Schuld und Rache in Gang. Die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt, neben Moriguchi kommen auch die Klassensprecherin und die Mörder selbst zu Wort, führen den Leser durch das weitere Geschehen und gewähren so immer wieder neue Einblicke in das Handeln und Denken der Charaktere. „Geständnisse“ fasziniert und verstört zugleich und steckt voller unerwarteter Wendungen, die uns die menschlichen Abgründe vor Augen führen. Mein persönlicher Tipp: Fangen Sie lieber nicht erst abends mit dem Lesen an, sonst laufen Sie Gefahr, bis in die frühen Morgenstunden weiterzulesen – absolute Suchtgefahr!

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Leïla Slimani • Dann schlaf auch du • Übersetzerin: Amelie Thoma • Luchterhand • 224 Seiten • 20,– Euro

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LEÏLA SLIMANI DANN SCHLAF AUCH DU Bärbel Tarai, Inhaberin der Buchhandlung Büchermeer (Langenselbold)

„Das Baby ist tot.“ – So darf theoretisch kein Buch beginnen, man würde es sofort zuklappen und zur Seite legen. Aber nicht dieses, denn das ist das Außergewöhnliche an Slimanis Debüt. Es beginnt mit dem Ende und man wird nach dieser furchtbaren Einführung an den Beginn der Geschichte herangeführt. Myriam und Paul, ein gut situiertes Pariser Ehepaar, scheinen sie gefunden zu haben: Louise, das perfekte Kindermädchen für ihre beiden Kinder Mila und Paul. Sie ist der Traum von einer Nanny, genannt „NouNou“, die Kinder mögen sie, der Haushalt gelingt ihr mit einer Leichtigkeit neben der Kinderbetreuung und sie schafft es noch, perfekte Kindergeburtstage zu organisieren. Auch ist sie völlig im Familienleben integriert, fährt mit der Familie in Urlaub. Doch wer ist Louise eigentlich? Welche Geschichte steht hinter ihr? Die Autorin nimmt den Leser mit auf die Reise an die Abgründe der Menschlichkeit. Kann man sich so in einem Menschen täuschen? Ein gelungenes Debut, welches sich aus der Menge der momentanen Familiengeschichten-Flut heraushebt, aber doch kein Krimi ist.

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Katrin Mirtschink empfiehlt: Isabel Fargo Cole • Die grüne Grenze • Nautilus • 496 Seiten • 26,– Euro

ISABEL FARGO COLE DIE GRÜNE GRENZE Das Debüt der in Berlin lebenden amerikanischen Autorin ist ein beeindruckendes Panorama deutscher Geschichte. Das Leben an der innerdeutschen Grenze im Harz wird vielschichtig und in großartigen Bildern geschildert. Anfang der 70er Jahre zieht ein junges Künstlerpaar aus Ostberlin in das Dorf Sorge im Harz. Sie ist Bildhauerin und er schreibt an einem historischen Roman, inspiriert durch die wechselvolle Geschichte dieser Gegend, seit Jahrhunderten verstrickt zwischen religiösen und weltlichen Machtsphären.

© Birgit Maria Lachenmaier

Schicht für Schicht legt die Autorin frei, nähert sich der DDR-Realität von außen und erschafft ein sehr reales Bild vom Leben an der Grenze zu Füßen des Brocken. Erzählt wird in ungewöhnlichen Bildern, genau und voll Poesie.

Katrin Mirtschink und Petra Wenzel, Pankebuch Berlin – Die schönsten Bücher des Nordens (Partner der Nordischen Botschaften)

Petra Wenzel empfiehlt: Gunnar Gunnarsson • Advent im Hochgebirge • Übersetzer: Helmut de Boor • Reclam • 103 Seiten • 10,– Euro

GUNNAR GUNNARSSON ADVENT IM HOCHGEBIRGE Dieses Buch begleitet uns schon viele Jahre. Es war bereits in den 30er Jahren erschienen und hat heute und auch für die Zukunft seine Gültigkeit. Jahr für Jahr versammeln sich viele Gäste in der isländischen Botschaft in Berlin. Ihnen wird dieses Buch vorgelesen. Es gibt uns bis heute ein zutiefst humanistisches Weltbild und eine friedliche Stille und „verführt“ zur Besinnung in diesen Tagen.

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Agatha Christie • Mord im Orientexpress • Übersetzer: Otto Bayer • Atlantik • 256 Seiten • 20,– Euro

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AGATHA CHRISTIE MORD IM ORIENTEXPRESS

Ulrike Fröbel, Redakteurin und Bloggerin (bookishplaces.com)

Von Istanbul bis nach London mit Zug? Auf die Idee kommt in Zeiten von Billig-Fliegern und Schnelllebigkeit wohl kaum einer mehr. Mein persönliches Buch das Jahres hat mich in eine Ära versetzt, in der lange Bahnreisen noch selbstverständlich waren – und das mit jede Menge Stil. „Mord im Orientexpress“ von Agatha Christie ist mit der Erstveröffentlichung 1934 zwar schon lange keine Neuerscheinung mehr. Angespornt durch die hochkarätig besetzte Neuverfilmung habe ich den Klassiker der britischen Krimi-Queen aber noch einmal frisch für mich entdeckt. Das Szenario könnte spannender nicht sein: Auf seiner Fahrt durch Jugoslawien bleibt der berühmte Orientexpress plötzlich in einer Schneewehe stecken. Während draußen der Winter tobt und ein Fortkommen für die Passagiere unmöglich macht, schockiert im Inneren des Zuges der Fund einer Leiche. Nur gut, dass auch der berühmte Detektiv Hercule Poirot mit an Bord ist und sich sofort auf die Suche nach dem Mörder macht. War es der steife englische Kammerdiener, der italienische Geschäftsmann oder doch die gealterte russische Prinzessin? Und was hat die tragische Entführung eines kleinen Mädchens mit dem erstochenen Mann im Orientexpress zu tun? Fragen über Fragen, die sich der Leser gemeinsam mit Hercule Poirot stellt und die dafür sorgen, dass die Geschichte zu keiner Zeit langweilig wird. Man kann einfach nicht anders, als mit zu knobeln – um am Ende schließlich doch mit einer unvorhersehbaren Auflösung verblüfft zu werden ...

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Iori Fujiwara • Der Sonnenschirm des Terroristen • Übersetzerin: Katja Busson • Cass Verlag • 352 Seiten • 19,95 Euro

© Robert Jentzsch

IORI FUJIWARA DER SONNENSCHIRM DES TERRORISTEN Malu Schrader, arbeitet als freie Redakteurin, Literaturveranstalterin und Buchhändlerin (Social Media: @buchbuechse)

Der Cass Verlag ist ein kleiner Verlag, der japanische Literatur verlegt, und zwar aufs Schönste – das gilt für den Inhalt ebenso wie für die Ausstattung. Auch Iori Fujiwaras Kriminalroman „Der Sonnenschirm des Terroristen“ hat mich nicht enttäuscht. Die Hauptfigur, der abgehalfterte Barkeeper und schwere Alkoholiker Shimamura, genehmigt sich gerade im Park seinen ersten Whiskey, als ganz in der Nähe, mitten in Tokyo, eine Bombe hochgeht. Der unverletzte Shimamura kümmert sich um ein kleines Mädchen und macht sich dann aus dem Staub – aber die Whiskeyflasche mit seinen Fingerabdrücken bleibt zurück. Sehr ungünstig für jemanden, der seit vielen Jahren im Untergrund lebt und auf der Fahndungsliste der Polizei steht. Bald sind die Beamten hinter ihm her, mysteriöse Gestalten tauchen auf – und dazu stellt Shimamura seine ganz eigenen Ermittlungen an. „Der Sonnenschirm des Terroristen“ ist ein klug erzählter und spannender Krimi, der mit interessanten Figuren aufwartet, die Sprache ist angenehm schnörkellos. Gekonnt schlägt der Autor den Bogen vom Tokyo der 60er Jahre – der Zeit der Studentenunruhen – bis in die 90er. Dadurch wird nicht nur ein literarischer Krimi, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte erzählt. Deutschlandfunk Kultur wählte den Roman auf Platz 4 der Krimibestenliste November – für mich ist „Der Sonnenschirm des Terroristen“ dieses Jahr der Kriminalroman Nummer 1.

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Graham Swift • Ein Festtag • Übersetzerin: Susanne Höbel • dtv • 144 Seiten • 18,– Euro

© Kay Herschelmann

GRAHAM SWIFT EIN FESTTAG

Susanne Hellmann, Hauptabteilungsleiterin Buch & Geschäftsleitung Vertrieb, Dussmann das KulturKaufhaus (Berlin)

Die Geschichte eines Lebens, schicksalhaft bestimmt und entfesselt durch einen Tag im Leben von Jane. Ich mochte diese sinnliche und doch leichte, elegante und unprätentiöse Sprache von Swift sehr, wie er sowohl die Hauptakteure als auch das Zeitkolorit fokussiert beschreibt. Ein bisschen „Downton Abbey“ in Novellenform ...

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Anja Rützel • Saturday Night Biber • Fischer Taschenbuch • 240 Seiten • 9,99 Euro

© Moritz Thau

ANJA RÜTZEL SATURDAY NIGHT BIBER

Jennifer Kroll, Verlagsleiterin von Eden Books

„Wuselware“ – so bezeichnet die Berliner Autorin Anja Rützel ihre 25 putzmunteren Fauchschaben, die sie sich im Rahmen der Recherchen für ihr Buch „Saturday Night Biber“ bestellt hatte – einer ihrer Interviewpartner hatte sie mit seiner Begeisterung für die hochintelligenten und superresistenten Insekten angesteckt. Diese Offenheit für Tiere, die aufgrund ihrer Passung ins Kindchenschema nicht ohnehin schon eine gigantische Lobby haben, zieht sich durch das ganze Buch. Furchtlos stürzt sich Frau Rützel in absonderliche Situationen: einen Präparierkurs, eine Weiterbildung zur Biberberaterin, ein Kaninhop-Turnier. Sie porträtiert nicht nur die faszinierenden Tiere, die sie dabei kennenlernt, sondern natürlich auch die Menschen, die sich mit großer Leidenschaft Tier-Randgruppen widmen. Anja Rützel ist als Journalistin und TV-Kritikerin sehr geschickt darin, Absonderlichkeiten spitzfindig aufzudecken. Die Geschichten in diesem Buch erzählt sie jedoch warmherzig und voller Humor. Ihr sind alle Lebewesen gleich lieb, egal, wie viele Beine sie haben.

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Nicole Staudinger • Schlagfertigkeitsqueen • Eden Books • 240 Seiten • 14,95 Euro

© Michael Schober

NICOLE STAUDINGER SCHLAGFERTIGKEITSQUEEN Mein Buch des Jahres 2017 ist eindeutig die „Schlagfertigkeitsqueen“ von Nicole Staudinger. Ein guter Ratgeber muss für mich glaubwürdig und authentisch geschrieben sein, das Sahnehäubchen ist, wenn ich auch wirklich etwas mitnehmen kann. Und obwohl dieses Buch bereits Ende 2016 erschien, trug ich es den Großteil 2017 für Akutfälle sogar in meiner Handtasche herum. Daniela Brose, Bloggerin bei Brösels Bücherregal (www.broeselsbuecherregal.de)

Anhand alltäglicher Beispiele veranschaulicht die Autorin, in welchen Situationen – vor allem Frauen – bisweilen eher sprachlos zurückbleiben. Was hat man in den meisten Fällen wohl bisher gemacht und welche schlagfertigen Methoden könnte man ab sofort entgegensetzen? Sehr sympathisch nimmt einen die zertifizierte Trainerin an die Hand, deckt angelernte Denkfehler auf und tut das, was am besten hilft: Mit gutem Beispiel vorangehen. Allein beim Lesen des Klappentextes habe ich mich verstanden gefühlt, konnte nur nicken und wollte nicht mehr die sein, die einfach nett lächelt und rhetorische Angriffe über sich ergehen lässt. Schlagfertigkeit trainiert man sich nicht über Nacht an, aber so oft wie ich unterschiedliche Kapitel wieder und wieder gelesen habe, geht es hoffentlich bald in Fleisch und Blut über. Geübt wird reichlich. Allein das Gefühl zu haben, verstanden zu werden, diese Verbundenheit zu fühlen, von veralteten und neuen Denkmustern bezüglich Frauen im Job und Durchsetzungsfähigkeit zu lesen, motiviert unglaublich. Ein sehr hilfreiches Buch mit Analogwirkung, das gleichzeitig gut unterhält. Ich kann es jeder Frau nur ans Herz (oder in die Handtasche) legen.

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Lize Spit • Und es schmilzt • Übersetzerin: Helga van Beuningen • S. Fischer • 512 Seiten • 22,– Euro

© Ulrich Abels

LIZE SPIT UND ES SCHMILZT Angelika Abels, Buchhändlerin (Angelikas Büchergarten) und Bloggerin (www.angelikaliest. wordpress.com)

In Rückblicken erlebe ich Evas Sommer 2002. Ein Sommer mit ihren Freunden Laurens und Pim. Man kann ihre Beziehung nicht als Freundschaft bezeichnen. Pim muss immer im Mittelpunkt stehen, Laurens sieht zu ihm auf und Eva ... Eva möchte eigentlich nur Teil von irgendetwas sein und ist froh, dass die beiden Jungs sie in ihrer Mitte aufnehmen, nichts ahnend, dass die beiden einen Plan für den Sommer haben. In einem zweiten Erzählstrang lerne ich Evas Familie kennen. Die Eltern beide alkoholabhängig, ihre Schwester Tess verhaltensauffällig und Jordan, der Bruder, voller Gleichgültigkeit. Dazwischen Eva, die versucht, ihren Weg zu finden. Ein dritter Erzählstrang erzählt die Jetztzeit, die Reise von Eva in ihre Heimat, das Wiedersehen mit ihrer Familie und das, was sie dort vorhat. Beim Lesen dieser Geschichte komme ich mir wie ein Voyeur vor. Ich lese und kann nicht aufhören, weil ich wissen will, wie es weitergeht; und gleichzeitig möchte ich aufhören zu lesen, weil es so abstoßend, brutal und unendlich zerstörerisch ist – aber ich kann nicht, ich muss weiterlesen. Mit diesem Buch hat Lize Spit kein einfaches Buch geschrieben. Es ist im eigentlichen Sinne kein schönes Buch. Und doch ist es ein großartiges Buch, weil Lize Spit hier eine Geschichte erzählt, die keinen Leser unberührt lässt. Nicht während des Lesens und schon gar nicht am Ende. Sprachlich einfach gehalten, schafft sie trotzdem eine Atmosphäre, die der Geschichte voll und ganz entspricht. Mit jeder Seite mehr, die ich lese, wird mir kälter und kälter. Dieses Buch ist für mich eines der besten Bücher, die ich dieses Jahr gelesen habe. Es ist mit einer solchen Intensität geschrieben, dass ich jetzt noch dieses mulmige und beklemmende Gefühl in den Bauch bekomme, wenn ich darüber schreibe.

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Karin Kalisa • Sungs Laden • Droemer Taschenbuch • 256 Seiten • 9,99 Euro

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KARIN KALISA SUNGS LADEN Stefanie Leo, Betreiberin der Website Buecherkinder.de und der Facebook-Seite „Ich mach was mit Kinder-Büchern“, Jurymitglied des „Leipziger Lesekompass“, Preisträgerin des avj-Medienpreises 2013

Ich mag es sehr, wenn man beim Buchkauf mit anderen Kunden ins Gespräch kommt. In meinem Fall war es ein von mir bestellter Stapel Sachliteratur zum Thema Hühnerhaltung, der dazu führte, dass ich der interessierten Kundin neben mir von meinem Motto „Machen, nicht labern!“ und dem bald bei uns einziehenden Federvieh erzählte. Mein Leitspruch wirbelt auch sonst gerne mein Leben durcheinander, beispielsweise mit unserer Entscheidung, einen Gastschüler aus Vietnam für zehn Monate in unserer Familie aufzunehmen. Das Stichwort „Vietnam“ nahm die ebenfalls lauschende Buchhändlerin zum Anlass, mir „Sungs Laden“ wärmstens ans Herz und auf den Stapel meiner bestellten Bücher zu legen. Schon nach wenigen Seiten konnte ich mich der Geschichte nicht mehr entziehen, in der durch die nur wenige Minuten dauernde Aufführung einer vietnamesischen Holzpuppe etwas in Bewegung gerät und innerhalb eines Jahres einen ganzen Berliner Kiez und seine Menschen verändert. Und so schlug ich das Buch erst wieder zu als ich es zu Ende gelesen hatte. Der Klappentext spricht von einer Utopie, die aber von unserer Gegenwart gar nicht so weit entfernt ist. Ich bin da ganz anderer Meinung, was ist daran utopisch, kleine Dinge ins Rollen zu bringen, die am Ende Großes bewirken? Warum nicht durch kleine freundliche Gesten, durch Hilfsbereitschaft selbst Gutes bewirken und erfahren? Ich bin der festen Überzeugung, dass Veränderungen genau SO starten, mit den kleinen Dingen und manchmal auch einfach mit dem Lesen eines Buches.

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Carlos Spottorno & Guillermo Abril • Der Riss • Übersetzer: André Höchemer • avant-verlag • 184 Seiten • 32,– Euro

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CARLOS SPOTTORNO & GUILLERMO ABRIL DER RISS Kai Mühleck, Redakteur beim Börsenblatt (und Booktuber / Kanal: „schwarz auf weiss“)

Von Lampedusa bis zur finnisch-russischen Grenze: Hunderttausende nehmen schier Unvorstellbares in Kauf, um Mauern aus Stacheldraht, das Meer oder militärische Schranken (auch mitten in Europa) zu überwinden. Ihre Flucht dauert oft viele Jahre. Tausende kommen dabei ums Leben. Warum? Fotograf Carlos Spottorno und Journalist Guillermo Abril haben für ihre Reportagen die europäischen Grenzen bereist. Sie haben mit zahllosen Flüchtlingen und Grenzern gesprochen. Ihre Fotodokumentation im Comiclook macht uns zu Augenzeugen einer beispiellosen humanitären Katastrophe vor unserer Haustür. Während die Regierungsbildung in Deutschland an Themen wie dem Familiennachzug zu scheitern droht, lassen die Autoren keinen Zweifel daran, dass die vermeintliche „Belagerung“ Europas nicht enden wird. Weder Tonnen von NATO-Draht noch die politisch gewollte Verelendung der Flüchtlinge in überfüllten Gefängnisbaracken in der Türkei, auf Moria und sonst wo wird daran etwas das ändern. Die Menschen, die in ihrer Verzweiflung an unsere Türen klopfen, haben nichts mehr zu verlieren. Bleibt die Frage: Wie schlecht geht es einem Europa eigentlich, das seinen Wohlstand, geschweige denn grundlegende Menschenrechte, nicht zu teilen vermag?

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Nell Leyshon • Die Farbe von Milch • Übersetzerin: Wibke Kuhn • Eisele Verlag • 208 Seiten • 18,– Euro

NELL LEYSHON DIE FARBE VON MILCH Alexandra Stiller, Blogbetreiberin und Rezensentin (buecherkaffee.de)

„Mein Name ist Mary. M.A.R.Y. Mein Haar hat die Farbe von Milch. Dies ist mein Buch und ich schreibe es eigenhändig.“ Eine poetische, intensive Geschichte mit einer wunderbaren Protagonistin. Marys Art, uns ihre Leidensgeschichte nahezubringen, ist unvergleichlich – eindringlich schön und gleichzeitig unfassbar traurig und aufwühlend. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von der gerade einmal 15-jährigen Mary, die unter armen Verhältnissen auf einem Bauernhof aufwächst. Wir schreiben das Jahr des Herrn 1830 – 31. Ihr patriarchischer Vater, der sich mit den Töchtern gestraft fühlt, kennt keine Gnade und Liebe, er führt den Hof mit harter Hand. Doch Mary kennt kein anderes Leben, sie nimmt die Dinge hin, wie sie sind, erträgt sie mit fast stoischem Gleichmut. Sie liebt die Natur und die Tiere. Und letztlich auch irgendwie ihre Familie. Aber dennoch ist sie aufgeweckt, hinterfragt vieles. Als sie ins Haus des Pfarrers zieht, um dessen kranke Frau zu pflegen, ändert sich ihr Leben radikal. Durch die Bibel lernt sie Lesen und Schreiben, der Hausherr bringt es ihr auf eindringliche Weise bei. So eröffnet sich zwar eine neue Welt für Mary – aber auch eine Welt, in der dunkle Wolken aufziehen, als des Pfarrers Frau ihrer Krankheit erliegt. Mary ist ein sehr liebenswerter Charakter, den man sofort ins Herz schließt. Für ihre Stärke, ihren Mut, ihre Eigensinnigkeit und manchmal bissigen Humor – und für ihren Willen. Sie ist in dem Jahr im Hause des Pfarrers über sich selbst hinausgewachsen und hat für ihre Würde gekämpft, auch wenn sie oft machtlos ist in dieser patriarchalischen Welt. Aber Mary ist konsequent, trotz oder gerade wegen des Versuches, sie zu brechen. Sie ist konsequent bis zum bitteren Ende …

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Colum McCann • Briefe an junge Autoren • Übersetzer: Thomas Überhoff • rowohlt Taschenbuch • 192 Seiten • 12,– Euro

© Sarah Reul

COLUM MCCANN BRIEFE AN JUNGE AUTOREN

Sarah Reul, Buchhändlerin im Buchladen am Freiheitsplatz (Hanau) und Bloggerin bei pinkfisch.net

Es gibt keine allgemeingültige Anleitung zum Schreiben und in seinen Schreibseminaren gibt der Autor zur Eröffnung stets zu bedenken, dass er sich außerstande fühlt, den Lernenden überhaupt etwas beibringen zu können. Und trotzdem setzt Colum McCann sich hin und verfasst einen Schreibratgeber. Warum? Weil es gut tut, nicht alleine zu sein mit seinen Sorgen. Weil es tröstlich sein kann, ja und auch inspirierend, sich beim Lesen als Teil eines großen Ganzen zu begreifen. Zu wissen, dass sich alles auch bei den “Großen” manchmal erst nach langen Durststrecken und vielfachem Scheitern entwickeln konnte. McCann ist ein etablierter und erfahrener Autor, der sein Wissen schon an unterschiedlichsten Stellen weitergegeben hat. Von diesen Erfahrungen können wir als Leser/innen und Schreibende/r profitieren. In meinem Exemplar finden sich so viele Markierungen, dass es fast einfacher ist, die Stellen zu suchen, die ich nicht angestrichen habe. Die einzelnen Kapitel sind kurz und auf den Punkt gebracht und sie decken von praktischen Fragen bis zur inneren Haltung beim Schreiben alles ab, was Schreibende beschäftigt. So oft habe ich genickt und mich wiedererkannt. Ich habe das Buch als Anregung, Motivation und als eine Art Karte verstanden, auf der kein Weg vorgezeichnet ist, wohl aber eine Fülle an Möglichkeiten dargeboten wird. Und das Buch stellt uns dabei Weggefährten an die Seite, die diesen Weg bereits vor uns gegangen sind.

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© Birgit-Cathrin Duval

Michael Roes • Zeithain • Schöffling & Co. • 808 Seiten • 28,– Euro

Jochen Kienbaum, lustauflesen.de

MICHAEL ROES ZEITHAIN Michael Roes widmet sich in seinem Roman „Zeithain“ einer tragenden Säule des »Mythos Preußen«. Das Drama vom Kronprinzen Friedrich, der als König Friedrich der Große in die Geschichte eingehen sollte, und seinem Freund Hans Hermann Katte ist unzählige Male erzählt worden, doch selten so körperlich, fleischlich, psychologisch und bewegend. Das tragische Ende ist bekannt. Katte wird wegen Hochverrats und Fahnenflucht hingerichtet. Kronprinz Friedrich muss der Exekution zuschauen. Kattes Vergehen war, dem Kronprinzen ein Freund gewesen zu sein und ihm bei seiner Flucht vor dem prügelnden und lieblosen Vater geholfen zu haben. „Zeithain“ ist kein historischer Roman, keine Recherche, sondern eine sprachmächtige Preußenphantasie. Der Icherzähler Philip Stanhope, ein ferner Nachfahre Kattes, imaginiert sich auf einer Reise entlang Kattes Lebensstationen in seinen Vorfahren hinein. Michael Roes komponiert eine opulente Preußen-Oper, zu der das Motiv des Vater-Sohn-Opfers, bekannt seit Abraham und Isaak, den Generalbass liefert. Das wird in einer Sprache vorgetragen, die sich dem Tonfall des 18. Jahrhunderts kunstvoll nähert, ohne ihn billig nachzuäffen. „Zeithain“ ist ein sehr körperbetonter Roman, in dem Wunden und Verletzungen, aber auch zarte Berührungen große Rollen spielen. Und wenn in der Rahmenhandlung sich die reale Lebens- und Opfergeschichte Kattes in mystischen Wahnvorstellungen Philips spiegelt, die in surreal-grotesken Bildern von Sühne und Tod gipfeln, ist „Zeithain“ geradezu wagemutig.

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Hanya Yanagihara • Ein wenig Leben • Übersetzer: Stephan Kleiner • Hanser Berlin • 960 Seiten • 28,– Euro

© privat

HANYA YANAGIHARA EIN WENIG LEBEN

Imke Karrock, Inhaberin der Büchergilde – Buchhandlung am Markt, Darmstadt

Mein aktuelles Lieblingsbuch ist „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Schon lange hat mich kein Buch mehr so fasziniert und in den Bann gezogen. „Ein wenig Leben“ handelt von vier Freunden aus Collegetagen, die alle Karriere machen und ihren Platz im Leben finden. Aber im Mittelpunkt des Romans steht vor allem einer der vier: der Rechtsanwalt Jude, den ein Geheimnis umgibt: er verschweigt seine Kindheit. Für die Freunde ist es normal, über alles, nicht aber darüber zu sprechen. Judes traurige Vergangenheit bringt den Leser zum Weinen, aber vor allem ist es die Sprachlosigkeit der Freunde, die bewegt und verwirrt. Der Leser taucht immer tiefer ein in Judes Geschichte und sie lässt einen nicht mehr los. Das Buch ist kein fröhlich stimmendes Buch, das man nebenbei in schönen Stunden liest, im Gegenteil, aber eine so intensive und nachhaltige Leseerfahrung habe ich schon lange nicht mehr gemacht.

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© Chris Zielecki

Andrea Gerk • Lob der schlechten Laune • Kein & Aber • 250 Seiten • 24,– Euro

Sophie Weigand, gelernte Buchhändlerin, freie Redakteurin, bloggt seit 2011 auf „Literaturen“ (www.literatourismus.net)

ANDREA GERK LOB DER SCHLECHTEN LAUNE Schlechte Laune gilt in diesen Tagen als ein Umstand, den man so schnell wie möglich beseitigen muss. Das Leben ist zu kurz, um mies drauf zu sein. Wie einem das gelingt, verraten unzählige Ratgeber aus dem Bereich optimistische Lebensführung. Wenn einem das nicht gelingt, ist man wahrscheinlich ein unverbesserlicher, ineffizienter Stinkstiefel, der im Jammertal ganz selbstverantwortlich Rast macht. Was schlechte Laune ist, variiert je nach Definition. Eine kleine Verstimmung ohne akuten Auslöser, ein Leiden an der Verfasstheit der Welt, die so viel besser sein könnte als sie ist, ein eruptives Gebrodel im Inneren. Weltschmerz, Ärger, Wut, Enttäuschung. Andrea Gerk präsentiert einen launigen Querschnitt durch die Niederungen seelischen Missbehagens. Mittels vieler Beispiele aus Literatur und Film macht sie deutlich: Schlechte Laune trägt zu Erheiterung und Inspiration bei, wenn sie uns in fiktivem Kontext begegnet. Was uns im Alltag nervtötend und ungehörig erschiene, entfaltet zwischen Buchdeckeln, auf einer Theaterbühne oder vor einer Filmkamera einen ganz eigenen Reiz. Wie viele kluge, beißende, aufrüttelnde Werke der Kunst, Literatur und Musik wären im blinden Zustand der euphorischen Hochstimmung nie entstanden? Andrea Gerk nähert sich multiperspektivisch dem Phänomen der schlechten Laune (und seinem geographischen Epizentrum: Österreich), fragt Experten, die mal aus der Philosophie und mal aus dem Hotelgewerbe kommen; alles in einem lockeren, gewinnenden Ton. Selbst wenn man wollte: Es ist unmöglich, angesichts dieses Buches schlecht gelaunt zu sein.

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Ángeles Doñate • Der schönste Grund, Briefe zu schreiben • Übersetzerin: Anja Rüdiger • Thiele • 420 Seiten • 20,– Euro

© privat

ÁNGELES DOÑATE DER SCHÖNSTE GRUND, BRIEFE ZU SCHREIBEN

Sara Willwerth, Inhaberin der Buchhandlung Weber (Erkrath)

Briefträgerin Sara (!!!) steht kurz vor der Kündigung. Keiner schreibt mehr Briefe, alle senden E-Mails. Da beschließt ihre mütterliche Freundin einen Brief zu schreiben. Einen, der längst überfällig ist. Vor 60 Jahren hat sie sich mit ihrer besten Freundin überworfen … das soll jetzt geklärt werden. Und so setzt sie einen Briefreigen in Gang, der das kleine spanische Dorf gehörig aufmischt. Wundervolles Buch, das man gern direkt noch einmal liest. Zum Lachen, zum Weinen, zum Seufzen und zum sofortigen Brief schreiben! Ein derzeitiges Lieblingsbuch (auch weil Briefträgerin Sara am gleichen Tag wie ich Geburtstag hat!)

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Maja Lunde • Die Geschichte der Bienen • Übersetzerin: Ursel Allenstein • btb • 512 Seiten • 20,– Euro

© privat

MAJA LUNDE DIE GESCHICHTE DER BIENEN

Ramona Nicklaus, Bloggerin bei Kielfeder (kielfeder-blog.de) und Social Influencer Relations beim Carlsen Verlag

Was passiert, wenn es eines Tages keine Bienen mehr gibt? Gehen wir viel zu selbstverständlich mit dem Reichtum der Natur um? Welche Alternativen gibt es für frische Früchte, Gemüse und blühende Felder? Das sind Fragen, auf die Maja Lunde versucht, eine Antwort zu finden. Fragen, die sich zum Teil kurz und knapp und in anderen Teilen eher langwierig beantworten lassen. Wenn es keine Bienen mehr gibt, dann kann auch keine Bestäubung mehr stattfinden. Weder vom heimischen Apfelbaum, noch von sonstigen Blüten. Ohne Bienen wären wir aufgeschmissen. Maja Lunde zeigt dem Leser in einem eindrücklichen und sehr klaren Ton, was die Folgen des Bienensterbens für die Menschen bedeuten. Dabei gelingt es ihr, drei Zeitstränge sehr geschickt miteinander zu verbinden, was der Geschichte eine unglaubliche Tiefe gibt. Bei mir sind die Geschehnisse noch immer nachhaltig verankert. Ich möchte euch unbedingt ans Herz legen, euch „Die Geschichte der Bienen“ nicht entgehen zu lassen! Maja Lunde hat einen Text zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit geschrieben, der durch seine Aktualität und die packende Erzählweise aus der Masse heraussticht.

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© Fotostudio Berns

Mariana Leky • Was man von hier aus sehen kann • DuMont Buchverlag • 320 Seiten • 20,– Euro

Torsten Woywod, Social Media und Online-PR beim DuMont Buchverlag, Autor und Projektbegründer „Around the world in 100 bookshops“

MARIANA LEKY WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN Inklusive des Epilogs umfasst dieser Titel 315 Seiten – gefühlt ist es jedoch ein Vielfaches von dem, was schlichtweg daran liegt, dass man viele (genauer gesagt: sehr viele!) Sätze mindestens drei Mal liest, weil sie so schön, so klug und / oder so wahr sind. In den allermeisten Fällen treffen sämtliche dieser Eigenschaften zu. Oder, um es mit einem Begriff aus dem Buch zu sagen: „Biolumineszenz.“ Scheinbar trifft diese Fähigkeit nicht nur auf Lebewesen zu (in der Biologie: Tiere / im Buch: Frederik, der buddhistische Mönch), sondern die Autorin Mariana Leky implantiert auch ihren Sätzen mit großer Sorgfalt und Können einen Stoff, der diese von innen leuchten lässt. Handlungsort des Romans ist ein kleines Dörfchen im Westerwald, das um unzählige liebenswert-verrückt-verschrobene Charaktere weiß: Luise, die manchmal etwas verschwommen ist, Marlies, die meistens traurig ist, der Optiker, der häufig Briefanfänge schreibt, Elsbeth, bei der es sicherlich Unglück bringt, sie auf eine Charaktereigenschaft zu reduzieren … und natürlich Selma. Manchmal – nein, sehr selten – träumt Selma von einem Okapi, und dann stirbt jemand aus dem Dorf. Es geht aber auch um 700 Briefe, 9.000 Kilometer, um hereingelassene Welten, Mon Chéri, eine Buchhandlung, die sieben Weltmeere, das Perimeter des Optikers, Dienstage und Geburtstage, schiefe Böden und umständliche Telefonate. Ihr merkt es sicherlich schon: Ich tue mich schwer damit, die konkrete Handlung dieses Buches anzureißen, weil ich nicht zu viel verraten und vorwegnehmen möchte ... vor allem in diesem Fall nicht. Alles, was ich sagen kann: Lest – bitte – dieses Buch! Es ist schön. Es ist traurig. Vor allem aber macht es unfassbar glücklich. [ Hidden Track: ] Selmas Okapi-Träume können indes auch Gutes verheißen: Nachdem ich dieses Buch bereits im Sommer für mich entdeckte, als es gerade druckfrisch in den hiesigen Buchhandelsregalen zu finden war, arbeite ich nun – man mag es kaum glauben – seit wenigen Tagen beim zugehörigen Verlag.

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IMPRESSUM Idee und Redaktion: Torsten Woywod • Farnweg 12 • 53842 Troisdorf • torsten.woywod@gmx.de Gestaltung, Layout und Satz: Sarah Abts • Kommunikationsdesignerin B.A. • abts.sarah@gmail.com Produkt- bzw. Preisirrtümer vorbehalten. Für Druckfehler übernehmen wir keine Haftung.

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