Geschichtsbewußtsein und Identitätskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft

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Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen

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Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft Eine empirische Analyse unter Jugendlichen in Wien Christiane Hintermann (Wien)

Christiane Hintermann: Geschichtsbewusstsein und Identitätskonstruktionen in der Einwanderungsgesellschaft – eine empirische Analyse unter Jugendlichen in Wien (S. 477–499) Trotz einer bald 50-jährigen (Nachkriegs-)Geschichte als Zielland von ArbeitsmigrantInnen und Flüchtlingen ist das Verhältnis von in Österreich lebenden MigrantInnen und deren Nachkommen zur österreichischen Geschichte bisher nicht thematisiert worden. Ob ihr historisches Bewusstsein hauptsächlich vom Kontext ihres Herkunftslandes oder des Einwanderungslandes bestimmt wird, darüber wissen wir wenig. Auf Grundlage einer umfangreichen Fragebogenerhebung unter SchülerInnen in Wien wird untersucht, inwiefern sich das historische Bewusstsein von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund voneinander unterscheidet und ob bestimmte österreichische Geschichtserzählungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund als eigene oder fremde Geschichte wahrgenommen werden und identitätswirksam sind. Darüber hinaus wird analysiert, welche gesellschaftliche Instanz die Deutungshoheit über historische und politische Themen innehat, und es wird nach dem Verhältnis von territorialen Zugehörigkeitsgefühlen und historischem Bewusstsein gefragt. Schlagworte: Geschichtsbewusstsein, Identitätskonstruktionen, Jugendliche mit Migrationshintergrund, Migration und Erinnerung Christiane Hintermann: Historical Consciousness and Identity Constructions in a Receiving Society – an Empirical Analysis of Migrant Youth in Vienna (pp. 477–499) Despite the fact that Austria’s post war history is characterized by the immigration of labour migrants and refugees, little is known about the relation of migrants and their descendants towards Austrian history. Whether their historical consciousness is strongly affected by their home countries or can maybe defined as hybrid is more or less undebated. On the basis of a comprehensive survey among pupils in Vienna the article gives answers to the question to what extent there are differences between the historical consciousness of youth with and without migrant background. It is shown whether national Austrian narratives are perceived as foreign history by migrant youth or incorporated as part of their own historical identity. Moreover the article tries to answer the question who possesses the power of interpretation of historical and political topics and investigates the relation of territorial identities and historical consciousness. Keywords: historical consciousness, identity constructions, migrant youth, migration and memory

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1. Einleitung 1.1 Problemstellung und Aufbau des Artikels

Pluralität und Heterogenität sind charakteristische Merkmale europäischer Gesellschaften. Migrationsprozesse hatten und haben dabei einen wesentlichen Einfluss auf die soziodemographische Zusammensetzung der Bevölkerung. Ergebnis von Zuwanderung sind jedoch nicht nur empirisch beobachtbare Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, sondern auch Gesellschaften, die durch grundsätzlich unterschiedliche Erfahrungen und Biographien ihrer Mitglieder gekennzeichnet sind. MigrantInnen bringen ihre eigenen individuellen »Geschichten« mit, und sind auch TrägerInnen von Geschichtserzählungen und -interpretationen aus ihrem Herkunftsland. Es wird angenommen, dass sich ihr Geschichtsbewusstsein wesentlich von jenem der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet. Welches Verhältnis MigrantInnen zur österreichischen Geschichte entwickelt haben, ist trotz einer fast 50-jährigen Geschichte der Arbeits- und Fluchtmigration nach Österreich nach 1945 weitgehend unbekannt. Dies gilt nicht nur für die MigrantInnen selbst, sondern auch für deren Nachkommen, die zum Teil bereits in Österreich zur Welt gekommen sind und meist den Großteil ihrer Schullaufbahn im österreichischen Schulsystem verbracht haben. Auch über ihre Wahrnehmung und Aneignung der österreichischen Geschichte sind keine Kenntnisse vorhanden. Wenig wissen wir ferner darüber, ob im Unterricht und bei der Vermittlung von historischem Bewusstsein auf den Herkunftskontext der SchülerInnen Rücksicht genommen wird und ihre Erfahrungswelten einbezogen werden. Zentraler Gegenstand der folgenden Analyse sind die im Bewusstsein der Jugendlichen präsenten Geschichtsbilder und Geschichtserzählungen (im Folgenden auch: historische Narrative). Der Artikel beruht auf einer Erhebung, die für eine Studie des Demokratiezentrums Wien durchgeführt und vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Österreichische Akademie der Wissenschaften gefördert wurde. Das wichtigste Ziel bestand darin, das Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zu erheben und miteinander zu vergleichen.1 Vier Fragen stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen: 1. Bestehen Unterschiede im historischen Bewusstsein von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund? 2. Kommt es unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur Ausbildung eines hybriden Geschichtsbewusstseins, also eines Geschichtsbewusstseins, für das historische Narrative aus dem Herkunftsland (der Eltern) ebenso konstitutiv sind wie nationale österreichische Geschichtserzählungen? 3. Übernehmen Jugendliche mit Migrationshintergrund nationale österreichische Narrative bzw. Ausschnitte daraus als »eigene Geschichte«, die damit auch bedeutsam für ihre Identitätskonstruktionen werden? 1

Zum Projektteam zählten neben der Autorin Gertraud Diendorfer, Petra Dorfstätter und Oliver Rathkolb vom Demokratiezentrum Wien. Die Projektlaufzeit umfasste die Jahre 2005 und 2006. Der Endbericht der Studie (Hintermann 2007) ist auf der Homepage des Demokratiezentrums Wien abrufbar: http://www.demokratiezentrum.org/media/pdf/endbericht_geschichtsbilder.pdf.

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4. Wer kann die Deutungshoheit über geschichtliche Ereignisse für sich beanspruchen? Die Schule, das Elternhaus, Peer-Groups von Gleichaltrigen, oder sind über verschiedene Medien vermittelte Geschichtsinterpretationen wirksam und sinnstiftend? Im Folgenden wird einleitend und als Rahmen für die inhaltliche Auseinandersetzung zum einen die heterogene Zusammensetzung von Wiener Schulklassen näher erläutert (Kap. 1.2), zum anderen werden der aktuelle Forschungsstand diskutiert und die Ausgangshypothesen offen gelegt (Kap. 1.3). Als theoretischen Hintergrund erörtert Kapitel 2 den Begriff des Geschichtsbewusstseins und reflektiert Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte im Migrationskontext. Kapitel 3 ist der Methodik und der Beschreibung der Stichprobe gewidmet, Kapitel 4 ausgewählten empirischen Ergebnissen. Dabei stehen drei Themenkomplexe im Mittelpunkt der Analyse: erstens die Frage nach der Deutungshoheit über geschichtliche Ereignisse, zweitens territoriale Zugehörigkeitsgefühle und drittens zeitgeschichtliche Ereignisse in Österreich im historischen Bewusstsein der befragten Jugendlichen. Abschließend werden in Kapitel 5 die eingangs gestellten zentralen Fragen noch einmal aufgegriffen und zusammenfassend beantwortet. 1.2 Die österreichische Schule als Spiegel einer Einwanderungsgesellschaft

Wie viele andere europäische Staaten hat sich Österreich in den letzten Jahrzehnten zu einer Einwanderungsgesellschaft entwickelt. Laut Volkszählung 2001 sind 12,5 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung nicht in Österreich geboren; 8,9 Prozent haben eine andere als die österreichische Staatsbürgerschaft. Mit 12,5 Prozent im Ausland geborenen Personen liegt Österreich im internationalen Vergleich sogar vor dem klassischen Einwanderungsland USA mit einem Anteil von 11,1 Prozent (Lebhart 2003, 260). Für Wien kann auf Basis der letzten Volkszählungsdaten davon ausgegangen werden, dass ca. 400.000 Menschen einen Migrationshintergrund haben.2 Dies entspricht rund einem Viertel der Wiener Wohnbevölkerung. Dementsprechend hoch ist auch der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund. Die Erstsprachenerhebung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur zeigt deutlich, dass die Vorstellung von sprachlich und kulturell homogenen Klassengemeinschaften vollkommen an der Realität vorbeigeht (siehe Tabelle 1, S. 480).3 Im Schuljahr 2005/ 06 wiesen 45,6 Prozent aller Wiener VolksschülerInnen und mehr als die Hälfte der Wiener HauptschülerInnen eine andere Erstsprache als Deutsch auf. In den allgemein bildenden höheren Schulen (AHS) und in den Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) ist der Anteil deutlich niedriger, steigt allerdings in den letzten Jahren an. 2 3

In dieser Zahl sind all jene zusammengefasst, die ausländische Staatsangehörige sind und/ oder im Ausland geboren wurden. Nicht berücksichtigt sind aufgrund der Datenlage in Österreich geborene Kinder von zum Zeitpunkt der Geburt bereits eingebürgerten MigrantInnen. In der Erstsprachenerhebung sind unabhängig von der Staatsbürgerschaft all jene SchülerInnen erfasst, die angeben, dass ihre Erstsprache nicht Deutsch ist. Problematisch ist, dass nur jene SchülerInnen in die Statistik Eingang finden, die in Österreich maximal sechs Jahre die Schule besucht haben.

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Tabelle 1: SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch nach Schularten 2000/ 01–2005/ 06 in Wien (ohne österreichische Volksgruppen) 4 (absolut und Anteile in Prozent) 2000/ 01

Volksschulen 23.314 36,2 Hauptschulen 13.667 44,0 Sonderschulen 1.355 36,7 Polytechnische 1.037 44,8 Schulen AHS-Unterstufe* 5.229 16,6 AHS-Oberstufe 3.434 17,4 Berufsbildende 3.030 16,2 Pflichtschulen BMS** 2.343 34,0 BHS*** 3.983 18,1 Bildungsanstalten 44 2,1 für Kindergarten-/ Sozialpädagogik

2001/ 02

26.061 15.467 1.334 1.566

2002/03

38,8 24.778 40,9 45,3 14.390 47,0 36,9 1.373 36,5 48,2 1.268 51,6

2004/ 05

27.125 17.213 1.399 1.798

43,4 50,6 39,0 52,9

2005/ 06

28.326 18.335 1.388 1.665

45,6 54,1 41,2 48,6

6.328 17,6 3.874 18,2 3.145 16,7

5.695 19,2 3.554 19,3 3.049 16,7

7.429 22,0 4.540 20,8 3.253 18,4

8.208 24,2 5.155 22,4 3.908 21,5

2.561 36,3 4.440 19,7 83 3,2

2.588 35,5 4.412 19,7 66 4,1

2.829 35,9 4.735 20,4 116 5,8

2.924 40,3 5.092 21,8 112 5,5

Anmerkungen: * AHS = allgemein bildende höhere Schulen, ** BMS = Berufsbildende Mittlere Schulen, *** BHS = Berufsbildende Höhere Schulen. Quelle: Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (2007), 13, 23

Der Großteil der SchülerInnen bzw. ihrer Familien stammt aus dem früheren Jugoslawien und der Türkei. Das Klassenbild ist jedoch bei weitem »bunter«. Vor allem seit den 1980er-Jahren und verstärkt mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat eine Diversifizierung der Herkunftsländer der MigrantInnen stattgefunden (Hintermann 2000), die sich auch in der sprachlichen und kulturellen Zusammensetzung der SchülerInnen widerspiegelt. Die Situation in den Klassenzimmern hat sich also in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten deutlich verändert. Nicht nur die individuellen und die Familienbiographien, sondern auch die tradierten historischen und politischen Erfahrungen der SchülerInnen unterscheiden sich deutlich voneinander. So besuchen etwa autochthone (»einheimische«) WienerInnen, in Wien geborene und aufgewachsene türkische Jugendliche sowie im Zuge der Kriege im ehemaligen Jugoslawien nach Österreich geflüchtete BosnierInnen dieselbe Klasse wie im Kindesalter nach Wien zugewanderte InderInnen, die bereits die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, und wie polnische Jugendliche, die erst im Sekundarstufenalter (10 bis 18 Jahre) immigriert sind. Die Reaktionen der Bildungs- und Schulpolitik auf die veränderte Schulrealität beschränkten sich hauptsächlich auf Fördermaßnahmen für Sprachkompetenz sowohl 4

Wegen Schwierigkeiten bei der Datenerhebung nach In-Kraft-Treten des neuen österreichischen Bildungsdokumentationsgesetzes liegen für das Schuljahr 2003/ 04 keine Daten vor.

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für den Erwerb der Unterrichtssprache Deutsch als auch für die Erstsprache der SchülerInnen. Bereits in den 1970er-Jahren wurden Pilotprojekte in diesem Bereich entwickelt. Erste Maßnahmen betrafen unterstützende Deutschkurse und Zusatzunterricht in den jeweiligen Erstsprachen (anfangs nur in Serbokroatisch und Türkisch) (Fleck 2002, 51). Einige dieser Projekte wurden zu Beginn der 1990er-Jahre in das Regelschulwesen für allgemein bildende Pflichtschulen und die AHS-Unterstufe übernommen. Gleichzeitig wurden Lehrpläne für Deutsch als Zweitsprache und den erstsprachlichen Unterricht entwickelt (ebd., 52–54). Betrachtet man das Stundenausmaß, das für diese Maßnahmen im Allgemeinen zur Verfügung steht (vgl. dazu ausführlich de Cilia 2003, 137–139), kann die Sprachenförderung für SchülerInnen mit Migrationshintergrund jedoch keineswegs als zufriedenstellend eingeschätzt werden. Prinzipiell positiv zu bewerten ist die Verankerung des Unterrichtsprinzips »Interkulturelles Lernen« in Volks- und Hauptschulen sowie Sonderschulen, Polytechnischen Schulen und allgemein bildenden höheren Schulen. Kritisch angemerkt werden muss jedoch, dass die Etablierung eines Unterrichtsprinzips allein noch nichts über dessen tatsächliche Realisierung im Unterricht aussagt. Was in Österreich darüber hinaus weitgehend fehlt, ist die sowohl wissenschaftliche als auch bildungspolitische Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen einer fächerübergreifenden »Didaktik der Diversität«, die im Sinne einer SchülerInnenorientierung die Geschichte(n) der SchülerInnen mit Migrationshintergrund stärker einbezieht und ihren Erfahrungen Raum gibt. Wenig thematisiert wurden bisher auch die Anerkennung der österreichischen Migrationsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der österreichischen Geschichte sowie ihre Verankerung im historischen Bewusstsein der Republik. 1.3 Forschungsstand und Ausgangshypothesen

Jugendlichen mit Migrationshintergrund bzw. generell Nachkommen von ZuwanderInnen wird in der internationalen Migrationsforschung bereits seit einiger Zeit große Aufmerksamkeit gewidmet. Crul und Vermeulen (2003) weisen darauf hin, dass in den 1990er-Jahren in verschiedenen europäischen Ländern Studien durchgeführt wurden, die sich mit der Lebenssituation der so genannten »zweiten Generation« beschäftigen. Für Österreich kann der diesbezügliche Forschungsstand nicht so gut eingeschätzt werden. Erst in den letzten Jahren wird dieser Gruppe auch hier verstärktes wissenschaftliches Interesse entgegengebracht (z. B. Çinar et al. 2001, HerzogPunzenberger 2003, Weiss 2007). Erkenntnisse über das Geschichtsbewusstsein der österreichischen Mehrheitsgesellschaft stehen zur Verfügung, auch Jugendliche bzw. Schülerinnen und Schüler insgesamt sind in der Geschichtsbewusstseinsforschung eine häufig gewählte Zielgruppe.5 5

Siehe etwa die von Magne Anvik und Bodo von Borries geleitete, 1997 publizierte internationale Studie Youth and History. A Comparative European Survey on Historical Consciousness and Political Attitudes among Adolescents, verfügbar unter: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/ Projekte/Youth_and_History/ , 14. 5. 2005. Die Erhebung wurde bereits 1994/ 95 durchgeführt. Österreich nahm an dieser Studie nicht teil, so dass keine direkten Vergleichsergebnisse vorliegen.

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Mit der Frage nach dem Verhältnis von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zur österreichischen Geschichte wird jedoch Forschungsneuland betreten. In Deutschland wurden in den letzten Jahren zwei Studien durchgeführt, die sich explizit mit dem Verhältnis junger Erwachsener mit Migrationshintergrund zur deutschen Geschichte beschäftigen. Viola Georgi (2003) beschränkt sich in ihrer Publikation Entliehene Erinnerung. Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland jedoch auf die Geschichte des Nationalsozialismus und geht u. a. der Frage nach, welche Bedeutung diese und die Geschichte des Holocaust für die Zielgruppe haben und ob sie sich auf ihre Identitätskonstruktionen auswirken. Das am Zentrum für Türkeistudien der Universität Essen durchgeführte Projekt Geschichtsbilder von Jugendlichen mit Migrationshintergrund (Liakova/ Halm 2006) hat kein spezifisches Schwerpunktthema, konzentriert sich jedoch auf Jugendliche aus Spätaussiedlerfamilien und auf türkischstämmige Jugendliche. Beide Untersuchungen ergeben, dass der Migrationshintergrund Auswirkungen auf das historische Bewusstsein der Jugendlichen hat.6 Dies gilt etwa insofern, als sich die Jugendlichen von der deutschen Geschichte distanzieren, sie als »fremde« Geschichte wahrnehmen und »keine emotionale Anbindung an die Ereignisse und Artefakten der deutschen Geschichte« (Liakova/ Halm 2006, 115–116) empfinden. Dies steht im Widerspruch zu Ergebnissen von Bodo von Borries (1995, 368), der anhand von Fragebogenerhebungen unter SchülerInnen und einer begleitenden Befragung von LehrerInnen für Deutschland feststellte, dass in Bezug auf das Geschichtsbewusstsein »keine wirklich tiefe Kluft zwischen jungen Deutschen und jungen Ausländern besteht.« Beide Ergebnisse finden sich in den erkenntnisleitenden Hypothesen für den vorliegenden Beitrag und die ihnen zugrunde liegende Studie (Hintermann 2007) wieder. Wie in der Arbeit von Viola Georgi wird auch im vorliegenden Fall von drei Thesen ausgegangen, wie die Rezeption von geschichtlichen Narrativen bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund möglicherweise erfolgt. 1. Die Wahrnehmung und Aneignung von Geschichte ist stark vom Herkunftskontext bestimmt, das bedeutet, der spezifische ethnisch-kulturelle Hintergrund ist wesentlich für die Ausbildung des historischen Bewusstseins. Über die Familie und herkunftslandspezifische Peer-Groups überlieferte Narrative spielen für die Konstruktion von Geschichtsbildern eine entscheidende Rolle. 2. Davon unterscheidet sich die Annahme, dass der Herkunftskontext nur eine geringe Bedeutung für die Konstruktion des historischen Bewusstseins hat. Stattdessen gilt die nationalstaatlich geprägte Schulbildung im Einwanderungsland als wesentlich. 3. Die dritte Hypothese lautet, dass es bei den Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu einer Hybridisierung des Geschichtsbewusstseins kommt (siehe dazu Frage 2, Kap. 1.1, S. 478). Ausgehend von der Prämisse, dass die Ausbildung eines historischen Bewusstseins Auswirkungen auf die Identitätskonstruktionen von Jugendlichen hat, werden der 6

Beide Untersuchungen arbeiten im Unterschied zum vorliegenden Projekt mit qualitativen Methoden.

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empirischen Analyse folgende gegensätzliche Hypothesen vorangestellt. Überprüft werden die Hypothesen vor allem anhand von Fragen, die auf eine affektive Verbundenheit der Befragten mit der österreichischen Geschichte abzielen: 1. Jugendliche mit Migrationshintergrund betrachten die österreichische Geschichte als »fremde« Geschichte, sie sehen sich nicht innerhalb der österreichischen Erinnerungsgemeinschaft. 2. Davon unterscheidet sich die Annahme, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund die österreichische Geschichte bzw. Ausschnitte daraus als »eigene« Geschichte annehmen, sie als Teil ihres historischen Selbstverständnisses verinnerlichen.

2. Ausgewählte Aspekte des theoretischen Bezugsrahmens 2.1 Zum Begriff des Geschichtsbewusstseins

Das Geschichtsbewusstsein ist traditionell hauptsächlich ein Forschungsgegenstand der Geschichtsdidaktik (v. Borries 1991, Rüsen 1987). Die im Detail variierenden Definitionen, was mit Geschichtsbewusstsein eigentlich gemeint ist, enthalten einen gemeinsamen Kern: die Annahme, dass sich jedes Geschichtsbewusstsein nicht nur auf die Vergangenheit bezieht, sondern immer auch Gegenwarts- und Zukunftsvorstellungen integriert (Jeismann 1985, v. Borries 1994). Man erinnert und deutet die Vergangenheit so, dass sie einen Orientierungsrahmen für gegenwärtige Lebensverhältnisse, aktuelle Handlungen und für Zukunftsentwürfe zur Verfügung stellt. Nach Rüsen (2001, 400, zit. in: Liakova/ Halm 2006, 98) hat das Geschichtsbewusstsein schließlich die Aufgabe, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu integrieren und in einen »Sinnzusammenhang« zu bringen. Geschichtsbewusstsein ist also keinesfalls gleichzusetzen mit Wissen oder Informationsstand über historische Ereignisse. Vielmehr geht es um die Interpretation der Vergangenheit aus der aktuellen Lebenssituation heraus und mit Blick in die Zukunft – in Form einer individuellen wie gruppenbezogenen Aneignung von Geschichte. Das Geschichtsbewusstsein von Individuen und Gruppen beeinflusst gesellschaftliches und politisches Handeln, ist somit keine »Privatangelegenheit«, sondern von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz und kann nicht losgelöst von der politischen Kultur einer Gesellschaft betrachtet werden. Unsere alltägliche Lebenswelt ist voll von »kulturellen Repräsentationen von Geschichtsbewusstsein« (Georgi 2003, 43), denen wir uns nicht entziehen können; seien es Denkmäler und Ausstellungen zu historisch relevanten Themen, seien es aber auch Diskussionsbeiträge von PolitikerInnen, der Geschichte-Unterricht, überlieferte Familiengeschichte oder auch Inhalt und Form von Dokumentationen und Spielfilmen. Historisches Bewusstsein ist Teil der Identität eines Individuums, formiert sich in Interaktion und Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Umfeld und den dort vermittelten historischen Bezügen und Interpretationen. Wir gehen mit Buschmeyer (1987, zit. in: Georgi 2003) und Georgi (2003) davon aus, dass ein Individuum nur dann eine eigene Identität entwickeln kann, wenn es sich seiner Geschichte bewusst ist. Dabei ist www.sws-rundschau.at

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mit Geschichte sowohl die eigene Biographie als auch die kollektive Geschichte seiner/ ihrer historischen Bezugsgruppe(n) gemeint. Identität erfordert die kontinuierliche Reflexion der eigenen Lebensgeschichte sowie der kollektiven Narrative und damit die Integration von Vergangenheitsdimensionen in den eigenen Lebensentwurf. Für Stuart Hall (1994) ist Identität ein unentbehrlicher und kontinuierlicher Prozess der historischen Selbstverortung. Diese vollzieht sich nach Georgi (2003, 27) »innerhalb von Erzählungen über die Vergangenheit.« 2.2 Multiple Identitäten und transnationale Zugehörigkeiten

Die Lebenssituation der Nachkommen von ImmigrantInnen wurde in der Literatur lange Zeit fast ausschließlich als problematisch diskutiert und rezipiert – und zwar sowohl in struktureller Hinsicht (z. B. Ausbildung und Beruf) als auch bezüglich ihrer Identitätsfindung, ihres Selbstkonzepts. Demnach entwickle sich ihre soziale Identität im Spannungsfeld zwischen (emotionaler) Zugehörigkeit zur Minderheitsgesellschaft (vor allem zur Familie) und den Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft (die sich etwa in der Schule zeigen), wodurch an die Jugendlichen unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Wertvorstellungen, Erwartungen und Orientierungen herangetragen würden (Reinders u. a. 2000). Hämmig (2000, 50) nimmt etwa an, dass die ambivalente Erziehung zwischen primärer (familiärer) und sekundärer (schulischer) Sozialisation zu einer »inneren Zerreißprobe« für die Jugendlichen führen kann. Erel (2004, 57) spricht in Zusammenhang mit diesem »Problemdiskurs« von einer jahrelangen »Pathologisierung vor allem der zweiten Generation von MigrantInnen als entwurzelt, ohne Heimat und kulturelle Leitmodelle ... .« In den letzten Jahren wurden diese frühen Arbeiten und die ihnen zugrunde liegenden Konzepte von Identitätsentwicklung immer stärker in Frage gestellt. Scheibelhofer (2005, 212) betont, dass vor allem an den »zu simplen Auffassungen von Kultur, Raum und Identität« Kritik geübt wurde, die nicht nur in der »Zweitgenerationenforschung«, sondern generell in der Migrationsforschung vorherrschten. Die Kritik wendet sich vor allem dagegen, dass Kulturen (»Herkunftskultur«, »Aufnahmekultur«) als lokal gebunden und homogen konzipiert werden. Nur vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption von klar abgrenzbaren Kulturen ist es möglich, von einem Zwischen-zwei-Stühlen-Sitzen zu sprechen (ebd.). Neuere Arbeiten wenden sich klar vom klassischen »Container-Modell« (ebd.) von Kultur ab und Konzepten zu, die Kultur als Prozess theoretisieren. Einen wichtigen Anstoß dafür lieferte das Konzept der Hybridität (Bhabha 1990), das auf kulturelle Vermischungen hinweist, die sich häufig in den Identitätskonzepten von MigrantInnen und deren Nachkommen finden lassen. Klare Zuschreibungen werden nicht mehr als essenziell für die Entwicklung einer stabilen Identität angesehen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Menschen mit Migrationshintergrund (aber nicht nur sie) auf »Erfahrungswelten« (Scheibelhofer 2005, 213) zurückgreifen können, die nicht eindeutig der »Herkunfts«- bzw. der »Aufnahmekultur« zuzuordnen sind. Hybride Identitäten und Kulturen werden dabei nicht als Sonderfall, sondern als Normalität in einer globalisierten Welt verstanden. Eine logische Konsequenz daraus ist, dass ethnische SWS-Rundschau (47. Jg.) Heft 4 / 2007 : 477–499

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Selbstzuschreibungen von Personen mit Migrationshintergrund nicht mehr automatisch als problematisch und als Ausdruck einer krisenhaften Situation interpretiert werden (können). Das Hybriditätskonzept ist jedoch nicht unumstritten, für bestimmte Fragestellungen scheint es auch wenig brauchbar zu sein. Erel (2004, 63) sieht z. B. in Hybriditätsstrategien eine Möglichkeit dafür, »die Legitimation normalisierter, dominanter Identitäten in Frage zu stellen«, nicht aber »Dominanzverhältnisse zu dekonstruieren oder gar zu verändern.« Hall (1994, 218) nimmt an, dass MigrantInnen »Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten« in sich tragen, »durch die sie geprägt wurden.« Er spricht davon, dass sie »unwiderruflich das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen sind und zu ein und derselben Zeit mehreren ›Heimaten‹ und nicht nur einer besonderen Heimat angehören«, sondern zu »Kulturen der Hybridität« zählen (ebd.). Wir gehen davon aus, dass dies nicht nur für MigrantInnen selbst, sondern auch – vielleicht umso stärker – für ihre Nachkommen gilt. Sie übernehmen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft nicht nur tatsächliche »ÜbersetzerInnenfunktionen« für ihre Eltern bei Behörden- oder Arztbesuchen, sondern müssen auch lernen, mehrere »kulturelle Sprachen« (ebd.) zu sprechen. Konzepte von multiplen Identitäten, transnationalen Zugehörigkeiten und eben der Hybriditätsentwurf gehen einher mit der Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins, das unter MigrantInnen-Communities (vor allem unter Mitgliedern der zweiten und dritten Generation) empirisch zu beobachten ist.7 Eingefordert werden nicht mehr nur gleiche Chancen und Rechte in der Gesellschaft, sondern ebenso ein Platz in der Geschichte, in den Narrativen der Einwanderungsgesellschaften.8 Diese Tendenzen wirken sich auch auf die »Konjunkturabhängigkeit« von Forschungsfragen und die Praxis der Migrationsforschung aus. War die Migrationsforschung lange Zeit durch einen (Mit-)Leids- und Problematisierungsdiskurs geprägt, wird in letzter Zeit verstärkt das migrantische Selbstbewusstsein in den Mittelpunkt gestellt. Hannerz (2000, 12) spricht in einer sehr zugespitzten Formulierung sogar von der »Zelebrierung des migrantischen Subjekt(s)« (zit. in: Scheibelhofer 2005, 213). Diese an sich positive Entwicklung birgt jedoch die Gefahr, immer noch bestehende strukturelle Benachteiligungen, gesellschaftliche und legale Diskriminierungen von MigrantInnen und ihrer Nachkommen zu vernachlässigen.

3. Methodisches Vorgehen und Beschreibung der Stichprobe Die Datengewinnung erfolgte im Zeitraum zwischen November 2005 und Februar 2006 mittels Fragebogenerhebung in Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS), Berufsbildenden Mittleren Schulen (BMS) und Oberstufen allgemein bildender 7 8

Erel (2004, 57) geht etwa davon aus, dass die Überbetonung des »Zwischen-zwei-Stühlen-Sitzens« zur selbstbewussten Behauptung geführt hat, »auf allen Stühlen zu sitzen.« Dies zeigen z. B. Diskussionen um die Errichtung von Migrationsmuseen in verschiedenen europäischen Ländern.

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höherer Schulen (AHS) in Wien. Befragt wurden insgesamt 1.332 SchülerInnen – 626 davon mit Migrationshintergrund – in 61 Klassen an 16 Schulstandorten in 13 Wiener Bezirken. Die Erhebung wurde von Mitgliedern des Projektteams und zwei projektexternen InterviewerInnen durchgeführt.9 Ein methodisches Ziel bestand darin, die Befragung an jenen Schulstandorten und in jenen Klassen durchzuführen, wo die Zusammensetzung der SchülerInnen möglichst dem Durchschnitt der jeweiligen Schulform entsprach. Auf Grund der sehr unterschiedlichen Kooperationsbereitschaft der Schulen mussten wir jedoch schließlich ein pragmatisches Vorgehen wählen, um den Projektverlauf nicht allzu sehr zu verzögern: Jene Schulen wurden als erste in die Erhebung aufgenommen, die Interesse am Thema und an der Fragebogenerhebung zeigten und bereitwillig Schulstunden für die Befragung zur Verfügung stellten. Davon ausgehend versuchten wir in weiterer Folge, die Befragungen auf jene Schulstandorte zu konzentrieren, die noch für eine möglichst repräsentative Stichprobe fehlten. Zielgruppe waren Jugendliche mit Migrationshintergrund, die folgendermaßen definiert wurden: alle selbst bzw. mit der Familie zugewanderten oder bereits in Österreich geborenen Jugendlichen, von denen zumindest ein Elternteil nach Österreich gezogen ist. Als Kontrollgruppe wurden auch SchülerInnen ohne Migrationshintergrund erfasst. Der weitgehend standardisierte Fragebogen (die Datenauswertung erfolgte mittels SPSS) umfasste einen umfangreichen soziodemographischen und biographischen Block mit Fragen zu Migrationshintergrund, allgemeinen Werten und Einstellungen, territorialen Zugehörigkeitsgefühlen und Identitäten. Weiters wurden auch die Gesprächsgewohnheiten und das Ausmaß erhoben, in dem die Jugendlichen über politische und historische Themen diskutierten. Der zweite Fragenblock widmete sich den Informationsgewohnheiten der Jugendlichen, Fragen der Mediennutzung und der Bedeutung von unterschiedlichen Quellen der Informationsgewinnung. Im dritten Teil erfolgte die Operationalisierung des Geschichtsbewusstseins anhand bestimmter österreichischer Geschichtsnarrative. Ausgewählt wurden einerseits geschichtliche Ereignisse, die als Bausteine der kollektiven österreichischen Nachkriegsidentität gelten (z. B. die Unterzeichnung des Staatsvertrages oder die Neutralität). Auf der anderen Seite wurde mit der NS-Zeit und dem Holocaust das zentrale Thema des österreichischen Geschichtsdiskurses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Erhebung aufgenommen. Darüber hinaus waren aktuelle thematische Schwerpunkte enthalten, wie der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union sowie die Grenzen und die Bedeutung Europas. Zum anderen wurde mit den Türkenbelagerungen Wiens ein Ereignis aus der älteren Geschichte gewählt, das im zeitgenössischen politischen Diskurs in Österreich immer wieder eine Rolle spielt.10 9

Die projektexternen InterviewerInnen Wibke Strahl und Walter Koppensteiner sind AbsolventInnen des Instituts für Geographie und Regionalentwicklung der Universität Wien. Beide verfügten bereits über Interviewerfahrung und wurden vom Projektteam eingeschult. 10 Ob die Türkenbelagerungen Wiens tatsächlich als eigenständiges Thema aufgenommen werden sollten, wurde im Team lange Zeit kontroversiell diskutiert. Ursprünglich waren wir von der These ausgegangen, dass die Türkenbelagerungen für junge Erwachsene des 21. Jahrhunderts keine

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Insgesamt wurden – wie bereits erwähnt – 1.332 SchülerInnen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren befragt: 47 Prozent hatten einen Migrationshintergrund. Davon sind mehr als die Hälfte (53 Prozent) bereits in Österreich geboren, die häufigsten nichtösterreichischen Geburtsländer waren die Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien (23 Prozent der Jugendlichen), 8 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund wurden in der Türkei geboren. Bei mehr als einem Drittel der SchülerInnen waren beide Elternteile nicht in Österreich geboren, bei 10 Prozent kamen entweder Vater oder Mutter im Ausland zur Welt. Die Verteilung der Geburtsländer der Eltern spiegelt die Herkunftsstruktur der Migrationsbevölkerung in Österreich wider. Insgesamt enthält die Stichprobe rund 60 Herkunftsländer. 76 Prozent der SchülerInnen mit Migrationshintergrund besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft, 40 Prozent kamen bereits als österreichische StaatsbürgerInnen zur Welt, weitere 36 Prozent haben die Staatsbürgerschaft danach erworben. 90 Prozent der SchülerInnen in der Stichprobe befinden sich seit der 1. Klasse Volksschule im österreichischen Schulsystem, nur 4 Prozent sind in der Sekundarstufe I (Schulen für 10- bis 14-Jährige) eingestiegen und 2 Prozent erst in der Oberstufe. Differenziert nach Migrationshintergrund verändert sich das Bild nur wenig. Auch 83 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund besuchten bereits in Österreich die 1. Klasse Volksschule. Für die Bedeutung der Schule als prägende Instanz eines historischen Bewusstseins ergibt sich damit für beide Gruppen (Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund) eine ziemlich ähnliche Ausgangsposition.

4. Dissonantes Geschichtsbewusstsein von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund? Ja, ABER ... – ausgewählte Ergebnisse der Studie 4.1 Überlieferungsinstanzen Schule und Familie – Wer hat die Deutungsmacht?

Nach Selbsteinschätzung der Befragten ist die Schule die wichtigste Vermittlungsinstanz von historischen und politischen Inhalten. Bei allen abgefragten thematischen Schwerpunkten wird die Schule mit deutlichem Abstand als häufigste Wissens- und Informationsquelle genannt (siehe Tabelle 2, S. 488). Ein zweiter Blick auf die Ergebnisse zeigt jedoch, dass eine differenziertere Einschätzung notwendig ist und die quantitative Vorherrschaft der Schule als »Quelle allen Wissens« nicht zum voreiligen Schluss verleiten darf, dass etwa der jeweilige Migrationshintergrund als erklärende Variable für die Ausbildung von Geschichtsbezügen irrelevant wäre. Es bedarf einer themenabhängigen Analyse, die zeigt, dass die Schule in Bezug auf aktuelle Themen, deren Bearbeitung – so die These – im Schulunterricht (noch) keinen großen Raum einnimmt, ihre Vormachtstellung einbüßt. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad für den Themenkomplex Europa und die Europäische Union sinnstiftende Bedeutung mehr besitzen. Der unmittelbar vor unserer Erhebung stattfindende Wiener Landtagswahlkampf im Herbst 2005, in dem die Wiener FPÖ auf das Thema rekurrierte, war schließlich ausschlaggebend dafür, die Türkenbelagerungen zu berücksichtigen.

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Tabelle 2: Wissensquellen der Jugendlichen für geschichtliche und politische Themen (Anteile in Prozent, Mehrfachnennungen möglich) Erzählungen von älteren Familienangehörigen

Türkenbelagerungen Wiens Nationalsozialismus Staatsvertrag, Wiederaufbau Österreichs Österreichische Neutralität Europa und die Europäische Union Kriege in Ex-Jugoslawien

Gespräche mit Gleichaltrigen

Schule

14,3 32,8 6,0 8,5 22,4 21,8

89,3 88,2 86,5 83,5 78,5 56,0

30,0 51,2 31,7 34,1 30,2 33,0

Fern-/ Bücher/ Gedenksehen/ Zeitun- stätten/ Radio/ gen/ Museen Internet Zeitschriften

16,7 46,5 37,1 33,7 61,1 37,7

22,9 46,6 25,2 24,2 33,2 22,6

15,0 33,8 16,5 13,8 2,1 4,1

Anmerkungen: Wortlaut der Fragestellung: »Woher stammt Ihr Wissen über die folgenden Themen?« Reihenfolge der Items: absteigend nach dem höchsten Wert für »Schule«. n gesamt = von oben nach unten: 1.301, 1.302, 1.306, 1.306, 1.304, 1.255; n Migrationshintergrund = von oben nach unten: 605, 606, 607, 614, 607, 595; n kein Migrationshintergrund = von oben nach unten: 696, 696, 699, 692, 697, 660. Quelle: Erhebung Demokratiezentrum Wien (2005–2006)

wie auch für die Kriege im früheren Jugoslawien. Die Dominanz der Schule ist aber auch insofern zu hinterfragen, als in der Zusammenschau aller Ergebnisse die Aussage gerechtfertigt erscheint, dass verschiedene Narrative in den Köpfen der Jugendlichen nebeneinander bestehen. Neben der Schule sind vor allem die Familie, bei bestimmten Themen (etwa Europa und die EU) aber auch die Medien für die Vermittlung von Informationen sowie für die Interpretation und Deutung von Geschichte wichtig. Durchschnittlich jede/r zweite Jugendliche greift beim Thema Nationalsozialismus auf Erzählungen von älteren Familienangehörigen zurück – dies ist sogar bei ca. zwei Drittel der österreichischen Jugendlichen der Fall, hingegen nur bei etwa einem Drittel jener mit Migrationshintergrund. Eine Analyse nach Migrationshintergrund bestätigt auch für andere Themen die These, dass der Herkunftskontext als erklärende Variable für die Ausbildung von Geschichtsbildern und eines historischen Bewusstseins nicht zu vernachlässigen ist. Dies zeigt sich z. B. daran, dass die Themen mit ausschließlichem Österreich-Bezug wie Neutralität und Staatsvertrag/ Wiederaufbau in den innerfamiliären Narrativen von zugewanderten Familien eine viel geringere Rolle spielen als bei autochthonen ÖsterreicherInnen. Demgegenüber kommt den Erzählungen von Familienangehörigen in Bezug auf die Kriege im früheren Jugoslawien in migrantischen Familien eine ungleich größere Bedeutung zu – speziell in Familien, in denen zumindest ein Elternteil aus dem früheren Jugoslawien zugewandert ist. Noch deutlicher werden die Unterschiede in der Bedeutung der Familie als Informationsquelle für geschichtliche Themen, wenn berücksichtigt wird, ob beide Elternteile zugewandert sind, oder zumindest ein Elternteil Österreicher/in ist bzw. in SWS-Rundschau (47. Jg.) Heft 4 / 2007 : 477–499

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Österreich geboren ist. Jugendliche, die in gemischtnationalen Familien aufgewachsen sind, messen den Erzählungen von Familienangehörigen zu den Themen mit speziellem Österreich-Bezug (Neutralität, Staatsvertrag/ Wiederaufbau und Nationalsozialismus) fast dieselbe Bedeutung bei wie SchülerInnen aus österreichischen Familien. Umso deutlicher ist der Abstand zu den entsprechenden Angaben jener Befragten, bei denen beide Elternteile über Migrationserfahrung verfügen. 4.2 Wiener/in, Österreicher/in, Europäer/in – über die territorialen Zugehörigkeitsgefühle junger Erwachsener

Territoriale Zugehörigkeit ist ein wichtiger Baustein sozialer Identität. Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass sich Individuen mit jenen territorialen Einheiten besonders identifizieren, die für ihre alltäglichen Interaktionen relevant sind (z. B. Jamieson et al. 2005). Diese räumlich definierten Bezugseinheiten können unterschiedlich groß sein – sie reichen je nach Situation von der direkt umgebenden Nachbarschaft über Regionen und Staaten bis hin zu supranationalen Großräumen wie der Europäischen Union. Diese verschiedenen Ebenen der territorialen Identität können »immer wieder neu aktiviert werden« (ÖIJ 2003, 6), sich gegenseitig überlagern, in Konkurrenz zueinander treten oder einander ablösen (ebd.). In der empirischen Erhebung zielten mehrere Fragen direkt auf die Analyse von territorialen Zugehörigkeitsgefühlen. Auf ein Ergebnis wird hier näher eingegangen. Die Antworten auf die Frage nach der inneren Verbundenheit mit bestimmten Ländern bzw. Regionen, die mittels einer fünfteiligen Skala gemessen wurde, zeigen ein klares Bild. Die Verbundenheit nimmt mit der Größe der territorialen Einheit ab und mit der räumlichen Nähe zu. Am größten ist sie mit der Region (Wien/ Niederösterreich/ Burgenland) als unmittelbarem Lebensumfeld, gefolgt von jener mit Österreich. Mit deutlichem Abstand am geringsten verbunden fühlen sich die Jugendlichen mit Europa (siehe Tabelle 3, S. 490). Diese Ergebnisse entsprechen Befunden anderer Studien, wie den EurobarometerUmfragen der Europäischen Union oder Ergebnissen des internationalen Projekts Youth and European Identity, an dem das Österreichische Institut für Jugendforschung beteiligt war (ÖIJ 2003).11 Klar geht aus den Daten auch hervor, dass sich territoriale Zugehörigkeitsgefühle nicht gegenseitig ausschließen müssen. Eine starke nationale Identität ist durchaus mit einer europäischen Identität vereinbar. Rund 60 Prozent der Befragten, die sich sehr stark mit Österreich verbunden fühlen, identifizieren sich auch sehr stark oder stark mit Europa. Auch dieses Ergebnis wird von der Youth and European Identity-Studie bestätigt. Daniel Fuß (o. J., 5) schließt aus den ihm vorliegenden Daten, dass »Nation und Europa ... als einander ergänzende Quellen persönlicher Identifikation« fungieren.

11 Nähere Informationen zum Projekt sowie Projektberichte und Materialien sind auf folgender Projekt-Website verfügbar: http://www.sociology.ed.ac.uk/youth/ , 22. 8. 2007.

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Tabelle 3: Verbundenheit mit Region, Nation und Europa nach Migrationshintergrund der Jugendlichen (Anteile in Prozent) sehr stark/ stark

etwas

wenig/ gar nicht

Wien/ Niederösterreich/ Burgenland

Migrationshintergrund kein Migrationshintergrund

81,9 84,0

12,4 12,0

5,7 4,0

Österreich

Migrationshintergrund kein Migrationshintergrund

55,5 82,9

29,3 11,8

15,2 5,3

Europa

Migrationshintergrund kein Migrationshintergrund

46,9 43,9

36,6 35,4

16,5 20,7

Anmerkungen: Wortlaut der Frage: »Wie sehr fühlen Sie sich innerlich mit den folgenden Ländern bzw. Regionen verbunden?« Die Antwortkategorien waren »Wien/ Niederösterreich/ Burgenland«, »Österreich«, »Europa« sowie die offen gehaltene Kategorie »ein anderes Land, das für Sie wichtig ist«. n (W/ NÖ/ B) gesamt = 1.321, n Migrationshintergrund = 620, n kein Migrationshintergrund = 701; n (Österreich) gesamt = 1.301, n Migrationshintergrund = 605, n kein Migrationshintergrund = 696; n (Europa) gesamt = 1.289, n Migrationshintergrund = 597, n kein Migrationshintergrund = 692. Quelle: Erhebung Demokratiezentrum Wien (2005–2006)

Ein Migrationshintergrund wirkt sich auf die Ausbildung lokaler/ regionaler, nationaler und europäischer Zugehörigkeitsgefühle aus. Die Ergebnisse zeigen, dass Österreich als Nation für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund von deutlich geringerer Bedeutung ist als für die autochthonen österreichischen SchülerInnen: 51 Prozent dieser SchülerInnen fühlen sich sehr stark mit Österreich verbunden, dasselbe gilt nur für 16 Prozent der Befragten mit Migrationshintergrund. Gering sind demgegenüber die Unterschiede im Hinblick auf die Verbundenheit mit der unmittelbaren Umgebung und einer potenziellen europäischen Identität (siehe dazu Tabelle 3). Deutlich stärker ist die Verbundenheit mit Österreich dann, wenn nicht beide Elternteile im Ausland geboren sind, sondern zumindest ein Elternteil Österreicher/in ist. Der Anteil jener aus dieser Gruppe, die sich Österreich sehr stark bzw. stark verbunden fühlen, beträgt 69 Prozent und liegt damit zwischen den Werten der beiden Vergleichsgruppen. Damit wird ein für die Analyse sehr wichtiger Punkt angesprochen: Territoriale Identitäten und Zugehörigkeitsgefühle – und bei bestimmten Fragestellungen auch das historische Bewusstsein – sind nicht unabhängig davon, ob Jugendliche in Familien aufwachsen, in denen beide Elternteile zugewandert sind oder ein Elternteil von Geburt an Österreicher/in ist. Trotz der Geburt bzw. der langen Aufenthaltsdauer in Österreich empfinden Jugendliche mit Migrationshintergrund weiterhin eine emotionale Verbundenheit zum Herkunftsland (der Eltern). Die Konzepte von hybriden und multiplen Identitäten sind SWS-Rundschau (47. Jg.) Heft 4 / 2007 : 477–499

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somit nicht nur theoretische Konstrukte, sondern auch empirisch fassbar. Jeweils 97 Prozent der Befragten, die selbst im früheren Jugoslawien bzw. in der Türkei geboren sind, fühlen sich dem Herkunftsland verbunden. Ähnliche Werte ergeben sich, wenn nicht das eigene Geburtsland als Analysekategorie verwendet wird, sondern die Variablen Geburtsland der Mutter bzw. des Vaters. Die Analyse der Daten weist ferner darauf hin, dass sich der Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft auf die territorialen Zugehörigkeitsgefühle der Jugendlichen auswirkt, zumindest auf die nationale Identität. Rund 44 Prozent der Befragten, die seit ihrer Geburt österreichische StaatsbürgerInnen sind, fühlen sich sehr stark mit Österreich verbunden, dasselbe gilt nur für 13 Prozent jener, die die Staatsbürgerschaft im Laufe ihres Lebens erworben haben. Am geringsten mit Österreich verbunden fühlen sich jene, die eine andere als die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen. Dieses Ergebnis ist nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern auch ein Indiz dafür, dass die staatliche österreichische Integrationspolitik in einem wesentlichen Punkt irrt. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft wird in Österreich als Endpunkt einer erfolgreichen Integration interpretiert und daher frühestens nach zehn Jahren rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalts im Bundesgebiet verliehen. Kürzere Wartefristen bestehen für EhegattInnen von österreichischen StaatsbürgerInnen, die sich sechs Jahre rechtmäßig und ununterbrochen in Österreich aufgehalten haben und deren Ehe seit mindestens fünf Jahren – im gemeinsamen Haushalt – aufrecht ist.12 Unsere diesbezüglichen Resultate können jedoch so interpretiert werden, dass der möglichst frühe Erwerb der Staatsbürgerschaft Integration befördert. Die Staatsbürgerschaft des Landes zu besitzen, in dem man lebt, und das in vielen Fällen ja auch Geburtsland ist, verstärkt die Identifikation mit dem Aufenthaltsland und begünstigt damit den Integrationsprozess in jeder Hinsicht. Zugehörigkeits- und Verbundenheitsgefühle wurden mit zwei weiteren Fragen implizit angesprochen: Zum einen wurde erhoben, ob sich die Jugendlichen an ein historisches Ereignis der jüngeren Vergangenheit erinnern, auf das sie stolz sind, zum anderen fragten wir nach nationalen Feiertagen, die im Bewusstsein der Jugendlichen präsent sind.13 Die Frage zielte darauf ab, herauszufiltern, ob historische Ereignisse aus den Herkunftsländern der (Eltern) im Gedächtnis der Jugendlichen genauso stark, stärker oder weniger stark verankert sind als Ereignisse, die einen Österreich-Bezug aufweisen. »Historisches Ereignis« wurde dabei sehr weit interpretiert, um der Lebenswelt der SchülerInnen möglichst gerecht werden zu können. So wurde z. B. auch der von einem Jugendlichen genannte 5:0-Sieg des türkischen Fußballnationalteams über die österreichische Mannschaft im WM-Qualifikationsspiel 2001 in Istanbul als »historisches Ereignis« gewertet. Um einen Eindruck von den Antworten zu vermitteln bzw. wie diese Antworten den einzelnen Kategorien zugeordnet wurden, werden im Folgenden einige Beispiele angeführt. 12 Ein Rechtsanspruch auf die österreichische Staatsangehörigkeit besteht frühestens nach 15-jährigem rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich unter Nachweis der nachhaltigen persönlichen und rechtlichen Integration. 13 Es handelte sich dabei in beiden Fällen um offene Fragen.

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Abbildung 1: Historische Ereignisse, die Stolz hervorgerufen haben, nach Migrationshintergrund der Jugendlichen und Eltern (Anteile in Prozent) 80 70

68,8

60

55,7 48,6

50

43,8

40 30 22,2

20 12,3

10,8

10

9,7 8,5 7,0

13,5

15,3 10,4 9,4

13,5

0

Österreich-Bezug

Herkunftsland-Bezug

Europa-Bezug

international

kein Migrationshintergrund

mit Migrationshintergrund

beide Eltern im Ausland geboren

ein Elternteil in Ö geboren

Anmerkungen: Wortlaut der Fragestellung: »Erinnern Sie sich an ein geschichtliches Ereignis in der jüngeren Vergangenheit, auf das Sie stolz sind?« n gesamt = 301; n kein Migrationshintergrund = 157, n Migrationshintergrund = 144 (n beide Eltern im Ausland geboren = 106, n ein Elternteil in Ö geboren = 38). Quelle: Erhebung Demokratiezentrum Wien (2005–2006)

Beispiele für »Ereignisse«, die Österreich betreffen: Staatsvertrag und Neutralität, EU-Beitritt Österreichs, Meistertitel für Rapid Wien, österreichische EU-Präsidentschaft, Österreichs Hilfe in Krisengebieten der ganzen Welt. Beispiele für »Ereignisse«, die ein »Herkunftsland« betreffen: Sieg der Türkei beim Song Contest 2003, Auflösung der Tschechoslowakei, kroatische Unabhängigkeit, Ende der Diktatur in Chile, Beitritt Polens zur EU. Zu den Ereignissen mit Europa-Bezug wurden z. B. die Einführung des EURO und die EU-Erweiterung gezählt; Beispiele für internationale Ereignisse sind etwa der Fall des Eisernen Vorhanges oder der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York. Auch wenn die Ergebnisse wegen der geringen Fallzahl von Antworten vorsichtig interpretiert werden müssen, kann man festhalten, dass historische Ereignisse aus dem Herkunftsland (der Eltern) unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund Stolz SWS-Rundschau (47. Jg.) Heft 4 / 2007 : 477–499

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hervorrufen, und somit auch in ihrem Gedächtnis verankert sind.14 Sie werden von ihnen doppelt so häufig genannt wie historische Ereignisse mit Österreich-Bezug, wobei mehr als ein Viertel der 63 Nennungen dieser Gruppe explizit den Zerfall Jugoslawiens, die damit zusammenhängenden Unabhängigkeitserklärungen und die kriegerischen Auseinandersetzungen betreffen. Sind beide Eltern im Ausland geboren, erhöht sich der Anteil der herkunftslandbezogenen Antworten auf 56 Prozent; ist ein Elternteil in Österreich geboren, geben nur 11 Prozent der Jugendlichen Antworten, die sich auf das Herkunftsland beziehen – diese betreffen vielmehr häufig Österreich (49 Prozent). Ein Indiz dafür, dass die Erinnerung an historische Ereignisse tatsächlich mit territorialen Zugehörigkeitsgefühlen in Beziehung steht, liefern die Daten insofern, als Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich laut eigenen Angaben Österreich nicht »zugehörig fühlen«, seltener historische Ereignisse mit Österreich-Bezug nennen (15 Prozent) als Ereignisse mit Herkunftsland-Bezug (53 Prozent). 4.3 Österreichische Zeitgeschichte im historischen Bewusstsein der Jugendlichen

Die »immerwährende Neutralität« und die Unterzeichnung des Staatsvertrags sind identitätsstiftende Bausteine in der Zweiten Republik. Die Neutralität ist im Bewusstsein der österreichischen Bevölkerung ein positiv besetzter Gedächtnisort, ein zentrales Symbol, das fix im kollektiven Gedächtnis der ÖsterreicherInnen verankert ist. Sie ist ein »Teil des österreichischen Selbstverständnisses, verbunden mit dem Bild der Ruhe, des Friedens und der positiv konnotierten politischen Kontinuität der Zweiten Republik« (Breuss u. a. 1995, 226). Die Bedeutung, die diesen Ereignissen beigemessen wird, ist nach wie vor ungebrochen.15 Dies gilt nicht nur für ZeitzeugInnen, sondern auch für Jugendliche mit den Geburtsjahren 1985 bis 1991. Die Bilder und Narrative zur österreichischen Nachkriegsgeschichte, die in den Köpfen der Jugendlichen verankert sind, entsprechen jenen des Großteils der österreichischen Bevölkerung. Die Neutralität ist für sie eine Selbstverständlichkeit, die nur von wenigen hinterfragt wird. Insgesamt 80 Prozent der befragten Jugendlichen geben an, das die Erklärung der Neutralität für sie persönlich sehr oder eher schon bedeutend ist, mehr als 90 Prozent sind – unabhängig von einem Migrationshintergrund – der Ansicht, dass Österreich auch in Zukunft ein neutraler Staat bleiben soll. Von allen abgefragten Ereignissen der österreichischen Nachkriegsgeschichte bezeichnen die Befragten die Unterzeichnung des Staatsvertrags, den Abzug der Alliierten und die Erklärung der Neutralität als die für sie persönlich am bedeutendsten (83 Prozent, 74 Prozent und 80 Prozent Nennungen). Dies ist ein Indiz dafür, dass sich quasi ein Hauptnarrativ durchgesetzt hat: Dieses wird durch Fernsehsendungen oder Gedenkveranstaltungen (z. B. zum 14 Die Frage war scheinbar eine der schwierigsten für die SchülerInnen. Nur 23 Prozent geben an, dass sie sich an ein geschichtliches Ereignis erinnern können. Mehr als drei Viertel verneinen dies. 15 In einer von FESSEL-GfK 2005 im Auftrag des ORF durchgeführten Umfrage zum Geschichtsbewusstsein in Österreich wurde u. a. nach der gefühlsmäßigen Verbundenheit mit bestimmten historischen Ereignissen gefragt. Die Erklärung der Neutralität und die Unterzeichnung des Staatsvertrags wurden mit jeweils rund 80 Prozent am häufigsten genannt (FESSEL-GfK 2005).

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»Gedankenjahr« 2005) verstärkt und auch in der Familie vielleicht zwar hinterfragt, schließlich aber doch akzeptiert oder zumindest nicht von einem anderen Narrativ überlagert. Der überlieferten Geschichte wird im Bewusstsein – auch in Bezug auf die persönliche Bedeutung – eine höhere Wertigkeit zuteil als historischen Ereignissen in der jüngeren Vergangenheit wie dem EU-Beitritt Österreichs, den insgesamt 64 Prozent der Befragten als für sie bedeutend einstufen. Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund haben eine starke affektive Verbundenheit mit den genannten zeitgeschichtlichen Ereignissen. Jeweils rund drei Viertel Abbildung 2: Zeitgeschichtliche Ereignisse und ihre Bedeutung nach Migrationshintergrund der Jugendlichen (Anteile in Prozent) 100% 87,8

Unterzeichnung des Staatsvertrags

74,6

Erklärung der Neutralität

73,9

87,2

82,2

Abzug der Alliierten

65,2 74,5

Gründung der Zweiten Republik

60,5

Rolle Österreichs während der NS-Zeit

60,7

66,5

56,8

Beitritt zur EU

72,5

0

20

40

kein Migrationshintergrund

60

80

100

mit Migrationshintergrund

Anmerkungen: »Die folgend genannten Ereignisse sind wichtige Punkte in der österreichischen Geschichte. Sagen Sie uns bitte, was diese Ereignisse für Sie persönlich bedeuten, ob Sie davon gefühlsmäßig berührt waren oder sind.« Die Angaben zu den Kategorien »sehr bedeutend« und »eher schon bedeutend« wurden jeweils zu einem gemeinsamen Wert addiert. Reihenfolge der Items: Werte absteigend bezogen auf die Gruppe »kein Migrationshintergrund«. n gesamt = 1.316, 1.313, 1.317, 1.319, 1.319, 1.318; n Migrationshintergrund = 622, 620, 620, 621, 621, 621; n kein Migrationshintergrund = 694, 693, 697, 698, 698, 697 (n jeweils von oben nach unten). Quelle: Erhebung Demokratiezentrum Wien (2005–2006)

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geben an, dass sowohl die Erklärung der Neutralität als auch die Unterzeichnung des Staatsvertrags für sie persönlich sehr oder eher schon bedeutend seien. Ob dies als Hinweis darauf interpretiert werden kann, dass hier tatsächlich ein Teil der österreichischen Geschichte als »eigene Geschichte« empfunden und angenommen wird, oder einfach gängige Einstellungen und Meinungen unhinterfragt übernommen werden, lässt sich mit einer Fragebogenerhebung allerdings schwer fassen. Eine weiter gehende Arbeit mittels qualitativer Interviews ist dafür notwendig. Auffallend sind die Bedeutungsunterschiede im Hinblick auf den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Dabei handelt es sich um das einzige abgefragte Ereignis, das 73 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund als für sie persönlich bedeutender einstufen als ÖsterreicherInnen ohne Migrationshintergrund – von diesen bewerten 57 Prozent den EUBeitritt als das unwichtigste aller abgefragten zeitgeschichtlichen Ereignisse. Besonders Jugendliche mit ex-jugoslawischem und türkischem Hintergrund stufen den EUBeitritt als für sie persönlich sehr bedeutend ein. Generell lassen sich unsere Daten so interpretieren, dass die Europäische Union für Jugendliche mit Migrationshintergrund wichtiger ist als für die Befragten ohne Migrationshintergrund. So bewerten z. B. mehr als 70 Prozent der SchülerInnen mit Migrationskontext den EU-Beitritt als ein wichtiges Mosaiksteinchen für die »Erfolgsgeschichte« Österreichs in der Zweiten Republik.16 Von den Befragten ohne Migrationshintergrund ist nur rund jede/r zweite dieser Ansicht. Mit der Europäischen Union werden – so eine potenzielle Interpretation dieses Ergebnisses – Möglichkeiten verbunden, die den MigrantInnenjugendlichen in Österreich verwehrt bleiben. Hoffnungen auf einen diskriminierungsärmeren Raum und die Einschätzung der EU als Ort unbegrenzter Mobilität machen Europa und die Europäische Union zu einem Sehnsuchtsort. Jenseits von Herkunftskontexten und möglichen zwiespältigen Gefühlen gegenüber Österreich bietet Europa jedoch auch eine Identifikationsmöglichkeit. Bürger/in der Europäischen Union zu sein, ist z. B. für jene Jugendlichen besonders wichtig, deren beide Elternteile zugewandert sind.

5. Zusammenfassung und Ausblick – über das Erinnern in der Einwanderungsgesellschaft Die eingangs gestellte Frage nach einem dissonanten Geschichtsbewusstsein zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ist nicht eindeutig mit Ja oder Nein zu beantworten. Es gibt die – zumindest scheinbar – homogenen Geschichtsbilder ebenso wie die inkonsistenten, dissonanten. In Bezug auf alle in unserer Befragung behandelten Themen sind die Unterschiede nach Migrationshintergrund relativ gering. Dissonanzen bestehen jedoch – nicht nur zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, sondern ebenso innerhalb der Gruppe der (autochthonen) 16 Wortlaut der Fragestellung: »Die 2. Republik, also die Zeit nach dem II. Weltkrieg wird in Österreich oft als Erfolgsgeschichte bezeichnet. Was macht für Sie diese Erfolgsgeschichte aus?« Die Mitgliedschaft in der EU war eine von acht Antwortkategorien.

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»ÖsterreicherInnen« oder nach speziellem Herkunftskontext. Diese Dissonanzen sind jedoch weniger als tatsächlich konkurrierende Gedächtnisse zu interpretieren, sondern vielmehr als Hinweis auf eine gewisse Diversität von Geschichtsbildern und historischem Bewusstsein »im Kleinen«. Narrative bestehen nebeneinander, ohne sichtbar miteinander in Wettstreit zu liegen. Ein Beispiel aus der Erhebung, wo dies deutlich wird, betrifft die Geschichtserzählungen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus in Österreich.17 Dominantes Narrativ zum »Anschluss Österreichs« ist z. B., dass dieser ein tragisches Kapitel der österreichischen Geschichte darstellt. 80 Prozent stimmen dieser Aussage zu. Andererseits sind aber immerhin 40 Prozent der Ansicht, dass der »Anschluss« wirtschaftliche Vorteile gebracht hat. Die relativ geringen Unterschiede im Geschichtsbewusstsein zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund würden den Schluss nahe legen, dass der Schule eine große Deutungsmacht im Hinblick auf geschichtliche Ereignisse zukommt. Unsere Ergebnisse unterstreichen einerseits diese Interpretation, sie zeigen aber auch, dass eine differenziertere Einschätzung notwendig ist. Dies insofern, als je nach Thema und Kontext sowohl die Familie als auch die Medien als Überlieferungs- und Informationsquellen eine wesentliche Rolle spielen (siehe Kap. 4.1). Diese Einschränkung ist auch für die Beantwortung der Frage und die Überprüfung der zugrunde liegenden Hypothesen wichtig, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund ein hybrides Geschichtsbewusstsein ausbilden: Tendenziell kann diese Frage mit Ja beantwortet werden. Jugendliche mit Migrationshintergrund haben einerseits einen Bezug zur österreichischen Geschichte (siehe Kap. 4.3), sie integrieren andererseits aber auch geschichtliche Ereignisse und deren Erzählungen aus dem Herkunftskontext in ihr historisches Bewusstsein. Dies zeigt sich z. B. bei den Antworten auf die Frage nach den geschichtlichen Ereignissen, auf die die Jugendlichen stolz sind (vgl. Kap. 4.2). Nehmen Jugendliche mit Migrationshintergrund die österreichische Geschichte bzw. Ausschnitte daraus als ihre »eigene Geschichte« wahr oder distanzieren sie sich davon, indem sie sie als »fremde Geschichte« wahrnehmen? Diese ebenfalls eingangs gestellte Frage lässt sich mit den Ergebnissen der Erhebung leider nur ansatzweise beantworten. Es gibt sowohl Hinweise dafür, dass die betreffenden Jugendlichen Ausschnitte der österreichischen Geschichte bzw. deren Narrative als Teil ihres historischen Selbstverständnisses verinnerlicht haben, insofern als sich eine starke affektive Verbundenheit nachweisen lässt (siehe Kap. 4.3). Ebenso können die Ergebnisse jedoch auch die Hypothese bestätigen, dass sich Jugendliche von bestimmten Teilen der österreichischen Geschichte distanzieren. Dies betrifft z. B. die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust. Ein Beispiel dafür: Jede/r vierte Befragte mit Migrationshintergrund 17 Wortlaut der Fragestellung: »Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein, und Österreich wurde ein Teil des ›Dritten Reiches‹ unter dem Reichskanzler Adolf Hitler. Zu diesem Abschnitt der österreichischen Geschichte gibt es verschiedene Darstellungen. Wie sehr stimmen Sie den folgenden Aussagen zu?«

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stimmt der Aussage zu, dass die Verbrechen während des Nationalsozialismus nichts mit ihm/ ihr zu tun hätten, weil er/ sie sich nicht als Österreicher/in fühle.18 Eines ist im Laufe des Forschungsprozesses deutlich geworden. Die Frage nach der Konstitution von Geschichtsbildern und der Überlieferung von Geschichtserzählungen (Narrativen) in Einwanderungsgesellschaften ist ein Thema, dessen Bearbeitung sowohl in den Geschichtswissenschaften als auch in der Migrationsforschung zwar immer öfter eingefordert und überlegt wird, das aber – zumindest in Österreich – Forschungsneuland darstellt: Auf vergleichbare Erhebungen konnte nicht zurückgegriffen werden. Offensichtlich ist, dass die Gewinnung empirischen Materials mittels Fragebogen nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden Analyse eines so komplexen Themas wie der Entwicklung von historischem Bewusstsein sein kann. Die Ergebnisse ermöglichen es, Fragestellungen, die sich im Laufe des Forschungsprozesses eröffnet haben, genauer zu formulieren. Klar ist aber auch, dass weitere, vor allem qualitative und vergleichende Forschung notwendig ist. Vor allem wenn es um die Rolle der Schule und speziell des Geschichte-, aber auch des Geographie- oder Deutschunterrichts als Überlieferer von (nationalen) Geschichtserzählungen geht, muss das methodische Instrumentarium um qualitative Interviews mit SchülerInnen und LehrerInnen, aber auch um teilnehmende Beobachtungen im Unterricht erweitert werden. Der vorliegende Beitrag versteht sich über die konkreten Fragen zur Konstruktion von historischem Bewusstsein und historischer Identität auch als Impuls, um einen Diskurs über Erinnerung und Gedächtnis in der österreichischen Einwanderungsgesellschaft zu eröffnen. Er wirft die Frage auf, wie es um die Repräsentation von Migrationsprozessen, Migrationsgeschichte sowie von MigrantInnen und deren Geschichte(n) im kulturellen Gedächtnis europäischer Einwanderungsgesellschaften bestellt ist. Und es gilt zu hinterfragen, ob die Überlieferung stark nationalstaatlich geprägter Narrative bei gleichzeitiger Nichtanerkennung der eigenen nationalen Einwanderungsgeschichte nicht einen weiteren gesellschaftlichen Ausschluss von MigrantInnen und deren Nachkommen bedeutet.19

18 Wortlaut der Fragestellung: »Wenn Sie an die Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus denken, wie fühlen Sie sich dabei?« 19 Mit diesen und damit in Verbindung stehenden Fragen beschäftigt sich zur Zeit ein Forschungsschwerpunkt am Ludwig-Boltzmann-Institut für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit in Wien.

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