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ufuq.de JUGENDKULTUR, RELIGION UND DEMOKRATIE POLITISCHE BILDUNG MIT JUNGEN MUSLIMEN

Nr. 17/Mai 2010

EDITORIAL Liebe Leserinnen und Leser, die Einbürgerung des Islam in Deutschland ist längst nicht abgeschlossen – allerdings hat sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Deutsche islamische Medien oder die Gründung muslimischer Arbeitsgruppen in den politischen Parteien sind Beispiele dafür, dass der Islam in Deutschland mehr und mehr aus den Hinterhöfen in den öffentlichen Raum tritt. Junge Muslime haben an dieser neuen Sichtbarkeit des Islam in Politik und Alltag einen großen Anteil. Mit zahlreichen Initiativen und Vereinen wenden sich Jugendliche und junge Erwachsene an die Öffentlichkeit. Eine dieser religiösen Initiativen, deren Arbeit teilweise sehr kontrovers diskutiert wird, ist die Muslimische Jugend in Deutschland. Sie spielt in einigen Städten eine wichtige Rolle in der muslimischen Jugendarbeit und beschreibt sich als jung, hip, deutsch und muslimisch. Mit den Worten ihres Vorsitzenden Hisham Abul Ola: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“ (siehe Seite 7). Häufig wird der Begriff des „Pop-Islam“ zur Beschreibung der jungen Muslime herangezogen – aber er gibt die Vielfalt der religiösen Jugendszene(n) nur unvollständig wieder. Denn auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit geben Jugendliche sehr unterschiedliche Antworten. Deutsch, muslimisch, türkisch, arabisch oder aus Kreuzberg zu sein, schließt sich für viele von ihnen keineswegs aus. Oft entscheidet die konkrete Lebens- oder Alltagssituation, ob sie sich gerade mit dem „Deutschen“, „Türkischen“ oder „Muslimischen“ identifizieren (siehe Seite 4). Umso wichtiger ist es, dass Ansprechpartner an die sich junge Muslime mit Fragen und Problemen wenden können mit der Lebenswirklichkeit dieser Jugendlichen vertraut sind. Bei den etwa 2.000 Imamen in Deutschland ist das jedoch meist nicht der Fall. Die große Mehrheit ist nicht in Deutschland sozialisiert und kennt sich daher weder mit Behörden noch mit zivilgesellschaftlichen Einrichtungen aus. Hier besteht großer Nachholbedarf. Noch ist allerdings offen, ob und wie sich in nächster Zeit etwas daran ändern wird (siehe Seite 2). Wir hoffen, dass Ihnen diese Ausgabe des Newsletters, die sich vor allem mit religiösen jungen Muslimen beschäftigt, Erkenntnisse für die pädagogische Arbeit liefert und Anstoß zu – gerne auch kontroversen – Diskussionen gibt.

JUNGE RELIGIöSE MUSLIME IN DEUTSCHLAND Kopftuch, Kapuzenpulli und religiöse Botschaften: Junge religiöse Muslime leben ihre Religion häufig anders als ihre Eltern (Seite 4)

INHALT RELIGION UND IDENTITÄT · Der Imam in der muslimischen Gemeinde · Junge religiöse Muslime in Deutschland · Interview: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“

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JUGENDKULTUR UND MEDIEN · Das deutschtürkische Internet-Portal Vaybee! · Online-Foren für junge Erwachsene marokkanischer Herkunft · Workshop: „Die wollen den Islam schlecht machen“

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PUBLIKATIONEN · KanakCultures · Unsere Geschichten – eure Geschichte?

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SERvICE · Informationen und Materialien für Pädagogen

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In diesem Sinne wünschen wir eine interessante Lektüre, die Redaktion

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Eine Publikation von:

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RELIGION UND IDENTITÄT

Zwischen Religion und Alltag DER IMAM IN DER MUSLIMISCHEN GEMEINDE Wie lassen sich in Deutschland islamische Speisevorschriften einhalten? Was ist im Todesfall zu tun? Wie erziehe ich meine Kinder im Glauben? Die fehlende gesellschaftliche verankerung des Islam in Deutschland macht den Imam in muslimischen Gemeinden zum wichtigen Ansprechpartner. Aber wie weit sind Imame in der Lage, ihre vielfältigen Aufgaben zu erfüllen? Wie werden sie ausgebildet? Und welche Rolle sollen sie künftig spielen? Die Islamwissenschaftlerin Marfa Heimbach gibt Antworten. von Marfa Heimbach Mit dem Aufgang der Sonne beginnt der Arbeitstag des Imams einer islamischen Gemeinde – mit dem Untergang der Sonne endet er. Die zentrale Aufgabe des Imams, des Vorbeters, ist die Leitung der täglich fünf islamischen Pflichtgebete, eine der fünf Säulen des Islam: Das erste rituelle Gebet im Morgengrauen, das letzte bei Sonnenuntergang. Dazwischen noch je eines am Mittag, am Nachmittag und am Abend. Der Imam muss die rituellen Abläufe kennen, den Koran in Arabisch und „er sollte wenn möglich eine schöne Stimme haben, denn das Gebet nach dem Koran ist Rezitation, Ästhetik der Stimme, Musik, Klang, Atmosphäre.“ So beschreibt es Erol Pürlü, Imam und Dialogbeauftragter des Verbands der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Weitere Aufgaben des Imams sind das Hauptgebet am Freitag und vor allem die Freitagspredigt. Letztere erfordert allerdings die Zusatzqualifikation als Hatib, als Prediger, die nicht jeder Imam hat. Deshalb laden viele Gemeinden in islamischen Ländern und auch in Deutschland besonders an wichtigen religiösen Feiertagen, zum Beispiel im Fastenmonat Ramadan, häufig einen Prediger von auswärts ein. Eine dritte zentrale Aufgabe des Imams besteht in der religiösen Unterweisung von Kindern und Jugendlichen, wozu in erster Linie der Unterricht des Arabischen als Sprache des Korans sowie dessen klangvolle Rezitation gehört. Weder die Kenntnis des Konversationsarabisch noch Koraninterpretation sind Ziel dieses Unterrichts, sondern vor allem die Aussprache und Phonetik. Diese ist notwendig, „um den Koran zum Klingen zu bringen“, so Erol Pürlü. „Imam kann theoretisch jeder männliche Muslim werden, der die not-

wendigen Qualifikationen vorweist, der also die rituellen Waschungen genau kennt, die rituellen Gebete und den Koran“, so Pürlü. „Der Imam muss dieser Aufgabe nicht notwendigerweise hauptberuflich nachgehen, sondern er kann diese Tätigkeit auch neben seinem Beruf als Handwerker oder Kaufmann ausüben, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdient.“

rend des Ramadans, ist. Die Heirat selbst ist ein juristischer Akt und „für die rituellen Totenwaschungen, Krankenhausfürsorge oder seelische Betreuung zum Beispiel in Gefängnissen sind traditionell in den islamischen Ländern die Familien zuständig, nicht der Imam“, erläutert der marokkanische Imam Abdelmalik Hibaoui. Er ist Leiter des Projekts „Interkulturelle Öffnung und Qualifizierung islamischer Gemeinden“ der Stabsstelle für Integrationspolitik in Stuttgart. Die Geschichte islamischer Gemeinden in Deutschland ist vergleichsweise jung. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime ist im Rahmen der Gastarbeiteranwerbungen Anfang der 1960er-Jahre eingewandert. Die ersten Moscheevereine wurden in den 1970er-Jahren gegründet, die großen islamischen Verbände

Traditionell sind Imame primär Vorbeter – in Deutschland sind sie jedoch auch als Ratgeber, Lehrer und Seelsorger gefragt.

Aus dem Blickwinkel der überwiegend christlich geprägten Mehrheit in Deutschland wird die Rolle des Imams oft mit der eines christlichen Pfarrers verglichen. Dies trifft allerdings nur in Teilbereichen zu. Vor allem gibt es für Imame keine Weihe, das heißt keinen Amtsauftrag im Sinne der kirchlichen Ordination. Hochzeiten, Beerdigungen, Kranken- oder Gefängnisbesuche und viele weitere Aufgaben, die zum Arbeitsfeld eines christlichen Pfarrers gehören, fallen traditionell nicht unter die Aufgaben eines Imams – auch wenn der Imam gern gesehener Gast bei Hochzeiten, Beschneidungsfeiern oder dem Iftar-Essen, dem traditionellen Fastenbrechen wäh-

erst Ende der 1970er. Die Gemeinden sind also gerade 30 bis 40 Jahre alt. Und ihre Mitglieder befinden sich in einer Minderheitensituation in Deutschland. Gerade die kurze Geschichte islamischer Gemeinden in Deutschland, das fehlende islamisch-soziale Alltagsumfeld, der fortschreitende Verlust traditioneller Kenntnisse religiöser und ritueller Grundlagen in den Familien stellt den Imam in Deutschland vor Fragen, die ihm in den Herkunftsländern nie gestellt wurden: Wer vermag dem „Kleingedruckten“ auf deutschen Lebensmittelverpackungen heute schon zu entnehmen, was z.B. „bio“ oder was Kunstprodukt ist, geschweige denn, was Seite 2


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RELIGION UND IDENTITÄT: Der Imam in der muslimischen Gemeinde „halal“, was „haram“ ist? Wie lassen sich also hier die Speisevorschriften einhalten? Was ist im Todesfall zu tun? Wie erziehe ich meine Kinder im Glauben? Wie ist mit interreligiösen Ehen umzugehen? „Familien fragen um Rat bei Konflikten in der Ehe oder Problemen mit Jugendlichen; der Imam wird zu Totenwaschungen gerufen, weil die Familien die rituellen Waschungen nicht mehr kennen. Er muss heute erklären können, wie religiöses islamisches Leben in einem mehrheitlich nicht-islamischen Umfeld möglich ist: Er wird zum Berater in allen Lebenslagen, zum Psychologen, Lehrer und Seelsorger“, meint Abdelmalik Hibaoui. Mehr noch, der Imam ist auch im Dialog gefordert, denn Krankenhäuser, Unfallnotärzte, Gefängnisse, Kindergärten und viele andere Institutionen in Deutschland suchen Rat, wie sie mit muslimischen Bürgern umgehen sollen. Kurz, der Super-Imam ist gefragt.

MEHR ZUM THEMA Islam-Lexikon: Imam www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=TCCGGQ Kompromisslose Lehre, junge Fans: Der Prediger Pierre vogel www.bpb.de/themen/DY4AIX,17 Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

In diesem Zusammenhang steht die Debatte um die Aus- und Fortbildung der Imame: Auch wenn Form und Inhalte einer Imamausbildung in Deutschland noch kontrovers diskutiert werden, herrscht doch Konsens bezüglich einer generellen Notwendigkeit. Die meisten freien, arabischen Moscheegemeinden „importieren“ ihre Imame nach wie vor aus den Heimatländern. Auch der große türkische Verband DITIB (Türkisch I slamische Union der Anstalt für Religion) bekommt die Imame für seine rund 800 Gemeinden in Deutschland als Beamte des türkischen Staates vom Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei (Diyanet) gestellt – und bezahlt. Doch die Sprachprobleme und die fehlen-

de Kenntnis des soziokulturellen Umfelds in Deutschland erweisen sich hier als problematisch. Der Großteil der etwa 2.000 Imame in Deutschland verfügt weder über ausreichend Informationen noch über Verbindungen zu Behörden oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen. Sie sind daher oft nicht in der Lage, Ratsuchende – etwa bei Problemen mit Kindern und Jugendlichen – an Stellen zu verweisen, wo sie professionelle Unterstützung bekommen können und wo eventuell auch Mitarbeiter mit dem jeweiligen Migrationshintergrund bestehende Schwellenängste abbauen helfen. Sprach- und Landeskunde-Kurse, wie sie das Goethe-Institut in Ankara oder seit kurzem auch die Regierung in Marokko für die Auslandsimame durchführt, erweisen sich als hilfreich aber längst nicht ausreichend, um die fehlende Sozialisation zu kompensieren. Projekte wie BerlinKompetenz und MünchenKompetenz stellen hier Fortbildungsangebote auf landeskundlicher Ebene dar (siehe Newsletter Nr. 15). Eher interreligiös-interkulturell, an praxisorientierten Fragestellungen des Gemeindealltags orientiert, ist das bundesweite Projekt „Religionen im säkularen Staat – Dialogseminare für christliche PfarrerInnen, Imame, christliche und muslimische Gemeindeverantwortliche und kommunale Multiplikatoren“, das die Bundeszentrale für politische Bildung seit 2004 in Kooperation mit den Kirchen und islamischen Verbänden durchführt.

Vor allem aber hat sich bislang kein fundierter theologischer Diskurs in Deutschland entwickeln können, der die religiöse Lehre und religiöse Fragestellungen im Kontext des hiesigen Lebens- und Sozialraums wissenschaftlich reflektiert bzw. analysiert, formuliert und weitervermittelt. Die Folge ist, dass Imame in den Gemeinden viele Antworten schuldig bleiben – oder sie greifen zu normativen Aussagen, um sich als Respektpersonen keine Blöße zu geben. Diese gehen allerdings häufig an der Lebensrealität der Gläubigen in Deutschland schlicht vorbei. Einen großen Schritt auf dem Weg zur Imamausbildung in Deutschland bildet der im Herbst 2010 an der Universität Osnabrück – zunächst als Fortbildungsprogramm – beginnende Aufbaustudiengang für Imame. Er soll den gewachsenen Anforderungen für Imame auf wissenschaftlich-universitärer Ebene Rechnung tragen. Inwiefern sich die Imamausbildung mit einem geplanten Studiengang Islamische Theologie an drei deutschen Hochschulstandorten in Zukunft verbinden lässt, wird gegenwärtig noch diskutiert.

Doch für die Zukunft universitär aus- und fortgebildeter Imame wird auch der Fortschritt des innermuslimischen Dialogs in Deutschland eine wichtige Rolle spielen. Die zentrale Frage ist, ob die islamischen Verbände künftig bereit sind, einen Teil ihrer bisher ausgeübten Dominanz abzubauen und die Konkurrenz untereinander einzuschränken. Bisher reagieren sie eher Der Verband der Islamischen Kulturzentren skeptisch und fürchten um ihren Einfluss. (VIKZ) oder die Islamische Gemeinschaft An der Basis müssten die neuen Imame Milli Görüş (IGMG) bilden bereits seit den zudem die Anerkennung der Gemeinde 1980er-Jahren einen Großteil ihrer Imame gewinnen. Denn hier erfüllt der Imam seine in Deutschland aus. Allerdings berücksich- primären Aufgaben. tigen diese Ausbildungen bislang nur geringfügig die neuen Herausforderungen für In der nächsten Ausgabe setzen wir das den Islam in Deutschland, da sie überwie- Thema mit einem Beitrag über die Jugend an den traditionellen Aufgaben des gendarbeit von Imamen und islamischen Imams orientiert sind. Auch die Imame der Verbänden fort. Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) studieren bislang in Sarajewo Theologie und erhalten dort Marfa Heimbach M.A. ist Islamwisauch ihre Ausbildung zum Imam. Das Türsenschaftlerin und freie Autorin des kische Amt für religiöse Angelegenheiten Westdeutschen Rundfunks Köln. Sie in Ankara hat 2006 ein Stipendienproleitet im Auftrag der Bundeszentrale für gramm aufgelegt: Deutsche Abiturienten politische Bildung das Dialogprojekt können in Ankara Theologie studieren, um für Pfarrer und Imame, „Religionen im anschließend in Deutschland wieder zum säkularen Staat“. Einsatz zu kommen. Seite 3


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RELIGION UND IDENTITÄT

Religiosität und Zugehörigkeit JUNGE RELIGIöSE MUSLIME IN DEUTSCHLAND Junge religiöse Muslime leben ihre Religion häufig anders als ihre Eltern. Ihr Festhalten an Ritualen gilt als demonstrative Bestätigung der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime. Gleichwohl sehen sich muslimische Jugendliche und junge Erwachsene oft ausdrücklich als Teil der deutschen Gesellschaft, auch weil sie sich mit der Heimat ihrer Eltern wenig verbunden fühlen. von Götz Nordbruch/ufuq.de

Moderner Lifestyle und die bewusste Selbstdarstellung als Muslimin: Mode des islamischen Labels Style-Islam

Der Name ist Programm: Muslim – The Next Generation. Das Online-Projekt, das im Januar von einer Gruppe junger deutscher Muslime gestartet wurde, steht unter dem Motto „Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Jetzt sprechen wir!“ (muslim-generation.de). In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe ähnlicher Initiativen von zumeist sehr religiösen muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestartet worden. Die Online-Community myumma.de oder das Online-Forum misawa.de sind vergleichbare deutschsprachige Angebote, in denen sich eine wachsende Zahl junger religiöser Muslime austauscht. Die Popularität dieser Angebote beschränkt sich nicht auf das Internet. Im Verständnis der Initiatoren sind sie auch Anregung für gemeinsame Aktivitäten außerhalb des World Wide Web. Online- und

Offline-Realitäten gehen hier ineinander über, wobei die Organisation gemeinsamer Veranstaltungen, der Austausch von Informationen oder Absprachen für die gemeinsame Teilnahme an Seminaren im Mittelpunkt stehen. Schließlich gehört die Dawa – die „Einladung zum Islam“ – ebenso zum Selbstverständnis vieler Jugendlicher wie die Ausrichtung des eigenen Alltags an den Regeln des Islam. Junge Muslime, die sich explizit und selbstbewusst zu ihrer Religion bekennen, haben an der neuen Sichtbarkeit des Islam in Deutschland einen großen Anteil. Ob beim „Tag der offenen Moschee“, auf Diskussionsveranstaltungen zu den Themen Islam und Migration, oder in den neuen Medien – oft sind es gerade junge Muslime, die den Kontakt zur Öffentlichkeit suchen. Im Mittelpunkt steht dabei der Wunsch, den Islam als selbstverständlichen Teil der Gesellschaft zu etablieren.

Vereine wie die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) (siehe Seite 7), die Lifemakers oder die Lichtjugend, die in vielen Städten auch mit nicht-islamischen Akteuren zusammenarbeiten, haben sich in vielen Orten als Alternativen zu den traditionellen Moscheevereinen und den großen Islam-Verbänden etabliert. Es sind nicht die Mitgliederzahlen, die die Bedeutung dieser Initiativen ausmachen. Von den 3,8 bis 4,3 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen beteiligt sich nur eine kleine Minderheit an den Aktivitäten dieser Vereine. Nur selten sind es mehr als einige Dutzend Personen, die formal als Mitglieder registriert sind. Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit, die sich an Muslime wie an Nicht-Muslime richtet, erreichen sie allerdings ein Publikum, das weit über den Mitgliederkreis hinausgeht. Dies haben auch die traditionellen islamischen Organisationen erkannt: Verbände wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) oder die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt um einen modernen Auftritt bemüht, mit dem sie auch junge Muslime der zweiten und dritten Generation ansprechen wollen. So gehören das Multimedia-Portal waymo.de und das Online-TV-Angebot sogesehen.tv zu den Projekten, mit denen der ZMD gezielt auf jüngere Muslime zugeht. Dabei geht es den Verbänden auch darum, ihren Einfluss auf die Auslegung der islamischen Lehre und religiöser Praktiken zu bewahren. Denn die neuen Initiativen junger religiöser Muslime akzeptieren nicht mehr unhinterfragt die Deutungshoheit etablierter religiöser Autoritäten und deren Vertretungsanspruch gegenüber der nicht-islamischen Öffentlichkeit. RüCKKEHR ZUM ISLAM – ODER NEUE RELIGIOSITÄT?

Die große Bedeutung des Islam für junge Muslime wird von vielen Studien bestätigt, die in den vergangenen Jahren unter Muslimen in Deutschland durchgeführt wurden. Laut einer Untersuchung der Bertelsmann -Stiftung von 2008 findet sich unter den 18- bis 29-Jährigen ein besonders großer Anteil „hochreligiöser“ Seite 4


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RELIGION UND IDENTITÄT: Junge religiöse Muslime in Deutschland Muslime. Mit 43% ist ihr Anteil in dieser Altersgruppe am größten (BertelsmannStiftung, Religionsmonitor 2008. Muslimische Religiosität in Deutschland). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Umfrage des Zentrums für Türkeistudien, die Ende 2008 unter türkischstämmigen Muslimen durchgeführt wurde. Knapp 75% der 18-bis 29-Jährigen beschreiben sich hier als „eher“ oder „sehr religiös“, während sich nur knapp 60% der 45- bis 59-Jährigen entsprechend äußern (Zentrum für Türkeistudien, Türkeistämmige Migranten in Nordrhein-Westfalen und in Deutschland).

Jung, modern und vor allem islamisch: Das Online-Projekt Muslim – The Next Generation

Dabei gibt es durchaus generationsbedingte Unterschiede, wie religiöse Muslime ihre Religion leben. Junge Muslime, die etwa in Duisburg oder Berlin aufgewachsen sind, teilen nicht zwangsläufig die Vorstellungen und Traditionen, mit denen ihre Eltern oder Großeltern in der Türkei oder dem Libanon groß geworden sind. Anders als in den Herkunftsländern der Eltern- und Großelterngeneration, in denen die Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft als selbstverständlich galt, haben junge Muslime in der nicht-islamischen deutschen Umwelt oft das Bedürfnis, ihre religiöse Identität und ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime herauszustellen – und demonstrativ durch Rituale und Symboliken zu bekunden. Rituale wie das Fasten, das Einhalten der Gebete oder das Tragen des Kopftuchs gewinnen damit auch eine identitätspolitische Bedeutung: Gerade die nach außen demonstrierte Orientierung an Speisegesetzen und die strenge Unterscheidung zwischen islamisch Zulässigem („halal“) oder Unzulässigem („haram“) dient der Identifikation mit der Gemeinschaft – und der Abgrenzung

gegenüber Nicht-Muslimen. Das zeigt sich zum Beispiel in der Einhaltung des Verbots von Alkohol und Schweinefleisch, das viele junge Muslime sehr ernst nehmen (Religionsmonitor). In diesem Zusammenhang steht auch das Phänomen der „Neo-Muslimas“ oder der „New-born-Muslims“. Dabei handelt es sich um Jugendliche, die von ihren Eltern nicht religiös erzogen wurden und in deren Leben Religion lange keine Rolle spielte. Im jungen Erwachsenenalter wenden sich diese „wiedergeborenen Muslime“ umso entschiedener dem Islam zu. Die betonte Orientierung an religiösen Werten und Geboten markiert für sie einen biografischen Bruch, mit dem eine neue Lebensphase eingeleitet wird. Für einige dieser Muslime steht die wiederentdeckte Religiosität auch für die Abwendung von einem Lebensstil, der geprägt war von Alkohol- und Drogenkonsum, sexueller Freizügigkeit oder auch von Kriminalität. Auch der Wunsch nach Abgrenzung vom Elternhaus ist für viele ein Grund, sich der Religion zuzuwenden. Die Glaubenspraxis der Eltern, die oft mit sehr traditionellen Rollenvorstellungen einhergeht, erscheint vielen jungen Muslimen in Deutschland nicht mehr angemessen. Gerade für junge religiöse Musliminnen bietet das demonstrative Bekenntnis zum Islam die Möglichkeit, sich gegen patriarchalische Traditionen in der Familie zur Wehr zu setzen. Der Islam, so argumentieren sie gegenüber ihren Eltern, gebe ihnen zum Beispiel das Recht auf eine Ausbildung und ein Studium. Das gewissenhafte Tragen des Kopftuchs und die betonte Orientierung an religiösen Regeln kann für sie somit ein Mittel sein, Rechte und Freiheiten gegenüber den Eltern und Brüdern einzufordern. Als überzeugte muslimische Frau entwickeln sie ein standing, das ihnen „nur“ als Frau mitunter verwehrt bleibt. Auch gegenüber der nicht-islamischen Gesellschaft bestehen junge Muslime häufig auf ihrem Recht, ihre Religion nach eigenen Vorstellungen zu leben. Dabei birgt der betonte Bezug auf die eigene religiöse Gemeinschaft auch Konflikte. So dokumentiert die im Sommer 2007 veröffentlichte Studie „Muslime in Deutschland“ die Verbreitung von Vorbehalten unter jungen Muslimen gegenüber der nicht-islamischen Gesellschaft. Bei 11,6% der befragten muslimi-

schen Jugendlichen beobachten die Autoren eine hohe Distanz zur demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaftsform. 11,1% der Jugendlichen bringen politischreligiös motivierter Gewalt Verständnis entgegen (Bundesministerium des Innern, Muslime in Deutschland). Problematisch ist auch das Festhalten an rigiden Vorstellungen über Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie die Ablehnung von sexuellen Orientierungen, die mit traditionellen Vorstellungen des Islam nicht im Einklang stehen. Die Diffamierung von Homosexualität als unislamisch oder das Beharren auf einer Trennung der Geschlechter in Schule und Freizeit sind Beispiele für entsprechende Einstellungen, die von vielen jungen Muslimen geteilt werden (Zum Verhältnis vom Religiosität und Homophobie unter Schülern mit türkischem Migrationshintergrund siehe Simon-Studie 2007). DEUTSCH UND MUSLIM – RELIGION UND ZUGEHöRIGKEIT

In der meist konservativen Auslegung und der konsequenten Einhaltung religiöser Gebote und Rituale spiegeln sich nicht nur individuelle Entscheidungen. So deuten Studien auch auf den gesellschaftlichen Kontext hin, durch den die individuelle religiöse Praxis beeinflusst wird. Eine 2009 in drei europäischen Ländern durchgeführte Gallup-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung der Religion im Alltag der Muslime in Deutschland im Vergleich mit Großbritannien und Frankreich am größten ist: 82% der befragten deutschen Muslime beschreiben den Islam als wichtigen Teil ihres Alltages, während die Werte in Großbritannien (70%) und Frankreich (69%) deutlich niedriger ausfallen (Gallup Coexist Index 2009: Weltweite Studie interkonfessioneller Beziehungen). Eindeutige Aussagen zum Zugehörigkeitsgefühl von Muslimen lassen sich nur schwer treffen. So geben zwar 59% der deutschen Muslime in der Gallup-Umfrage an, sich ihrer Glaubensgemeinschaft „äußerst“ oder „sehr stark“ verbunden zu fühlen, während nur 40% eine ähnliche Verbundenheit mit Deutschland empfinden. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung ist diese Zahl allerdings beachtlich. Hier sind es lediglich 32%, die sich ebenso deutlich Seite 5


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RELIGION UND IDENTITÄT: Junge religiöse Muslime in Deutschland mit Deutschland identifizieren. Das heißt, die Identifikation mit Deutschland ist unter Muslimen stärker ausgeprägt als in der Gesamtbevölkerung. Dies spiegelt sich auch in dem Vertrauen, das den staatlichen Institutionen entgegengebracht wird. Während 73% der deutschen Muslime den Gerichten vertrauen, liegt die Zustimmung in der Gesamtbevölkerung mit 49% deutlich niedriger. 61% der Muslime bringen der deutschen Regierung Vertrauen entgegen – in der Gesamtbevölkerung sind dies nur 36% (Gallup Coexist Index 2009). Das Engagement von Vereinen wie der Muslimischen Jugend in Deutschland oder von Initiativen wie dem Arbeitskreis Grüne MuslimInnen von Bündnis90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen sind Hinweise darauf, dass diese Identifikation mit Deutschland zunehmend auch mit dem Interesse einhergeht, sich als deutsche Muslime in Politik und Gesellschaft einzubringen. Das spiegelte sich zuletzt im Vorfeld der Europa- und Bundestagswahlen, als islamische Vereine unter Muslimen dafür warben, sich aktiv an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen (siehe Sonderausgabe des Newsletters zur Bundestagswahl 2009, Wählen ist eine „Muslimpflicht“). Gerade junge Muslime übernehmen dabei

eine Vorreiterrolle. So sind Initiativen wie die Lifemakers schon seit Längerem auch im ehrenamtlichen Bereich engagiert. Mit Aktionen zur Unterstützung von Obdachlosen oder im Gesundheitsbereich profilieren sie sich als gesellschaftliche Akteure, die auch in die nicht-islamische Gesellschaft hineinwirken. In mancher Hinsicht zeigt sich darin eine Parallele zu christlichen Strömungen. Nicht zufällig sehen sich diese Initiativen oft selbst als Pendant zu den Pfadfindern oder christlichen Organisationen, die einen religiösen Lebensstil mit dem Dienst an der Gesellschaft verbinden. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese jungen Muslime ihre Religiosität mit der Zugehörigkeit zur modernen Gesellschaft verbinden, ist auch ein Beispiel für die wachsende Normalität des Islam in Deutschland – wobei Normalität nicht gleichbedeutend ist mit Harmonie und Konfliktfreiheit. Konflikte sind Teil dieses Prozesses, dafür sorgt schon die strenge Auslegung religiöser Normen, die von vielen dieser Jugendlichen verfochten wird. Dennoch: Junge Muslime haben sich zunehmend als gleichberechtigte Akteure in politischen und sozialen Diskussionen etabliert. Ihr Drang in die Öffentlichkeit bietet ihnen auch die Chance, mittels offener Kritik und Widerspruch ei-

nen Beitrag zu mehr Transparenz zu leisten und das muslimische Selbstverständnis kritisch zu reflektieren.

Dr. Götz Nordbruch ist Mitherausgeber des Newsletters „Jugendkultur, Religion und Demokratie. Politische Bildung mit jungen Muslimen“ und Mitbegründer des Vereins ufuq.de. Der Islamwissenschaftler arbeitet an der Süddänischen Universität in Odense.

MEHR ZUM THEMA „Coole Zeltlager“: Ferienfreizeiten für junge Muslime www.bpb.de/themen/5ZGTL4 „Heimat ist...“ – Ein Gespräch mit türkischen Jugendlichen über Kurden, Graue Wölfe, Islam und Deutschland www.bpb.de/themen/4QGI5A Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

POP-ISLAM – RELIGION LIGHT? „Der Begriff Pop-Islam steht für den Remix der Lebensstile. Die Jugendlichen greifen westliche Mode, Musik und TV-Kultur auf und versehen sie mit islamischem Vorzeichen“, schreibt Julia Gerlach. Mit ihrem Buch „Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland“ prägte die Islamwissenschaftlerin und Journalistin den Begriff Pop-Islam, der sich seither in den Diskussionen um den Islam in Deutschland eingebürgert hat. Er beschreibt junge Muslime, die sich zugleich als deutsch und als muslimisch definieren. Sie haben ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, sehen sich als aktiver Teil der Gesellschaft – orientieren sich aber an den Werten und Glaubensvorstellungen des Islam.

Diese Haltung markiert einen Bruch mit der Kultur der Hinterhofmoscheen, die den Islam in Deutschland noch vor wenigen Jahren bestimmte. Den „Pop-Muslimen“ ist es wichtig, ihren Glauben auch in der Öffentlichkeit zu praktizieren. Spricht man mit Aktivisten dieser Strömung, trifft man auf die Hoffung, dass sich dahinter mehr verbirgt als eine Mode. So verbindet Fatma Camur mit dem Phänomen des Pop-Islam auch eine neue Offenheit der Muslime, die „Religion und Alltag verbinden und sich zudem für die deutsche Gesellschaft engagieren wollen.“ Camur ist 20 Jahre alt, Studentin und Betreiberin des Blogs Habse(e)ligkeit. Sie schreibt auch als Autorin für das Webzine Muslim – the next Generation, das jungen Muslimen eine Stimme geben will. Mit der

neuen Offenheit der Muslime hänge auch zusammen, dass sich viele Moscheen und islamische Verbände in den vergangenen Jahren um mehr Transparenz bemühten. Junge Muslime, so vermutet Camur, hätten an dieser Öffnung einen großen Anteil. Dennoch stößt der Begriff des Pop-Islam bei manchen Muslimen auch auf Vorbehalte: Neben der Assoziation von Religion und Kommerz ist es vor allem das Lockere und Unverbindliche, das ihnen suspekt ist. Den „Pop-Muslimen“ allerdings geht es mitnichten um einen „Islam light“. Sie sehen sich als vollwertige Muslime und wollen als solche ernst genommen werden. von Götz Nordbruch/ufuq.de

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RELIGION UND IDENTITÄT

„Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“ EIN GESPRÄCH MIT HISCHAM ABUL OLA, vORSITZENDER DER MusliMischen Jugend in deutschland, üBER DIE JUGENDARBEIT DER MJD Herr Abul Ola, die Muslimische Jugend in Deutschland veranstaltet regelmäßig Jugendcamps. In den Sommerferien kommen dort bis zu tausend junge deutsche Muslime zusammen. Was passiert in diesen Camps? An diesen Freizeiten nehmen religiöse Jugendliche mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aus ganz Deutschland teil. Sie verbringen hier gemeinsam Freizeit und tauschen sich aus – es geht um Themen wie Freundschaft, Eltern oder Schule und insbesondere auch um ihre Religion. Oder um „Integration und Partizipation aus muslimischer Sicht“: Hier diskutieren wir anhand islamischer Quellen ein modernes Verständnis von der Pflicht, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Worum geht es dabei genau? Zum einen um Glaubensinhalte, wir haben ja hauptsächlich mit religiösen jungen Leuten zu tun. Wir möchten sie in die Lage versetzen, sich in einem kritischen Diskurs selbst eine Meinung zu islamischen Themen zu bilden. Dann geht es um Themen, die insbesondere Muslime im Westen betreffen, also um Demokratie, den interreligiösen Dialog, Bildung und Identität sowie um Zwangsheirat, Terrorismus und Extremismus. Meistens steht allerdings das Jugendliche im Vordergrund, also Workshops, in denen kreative Fähigkeiten gefördert werden – etwa Schreibwerkstätten, Video Workshops, Folklore, Rap oder Theater. Außerdem haben wir in den letzten Jahren AGs mit Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen angeboten. Zuletzt hatten wir Leute von Greenpeace, der Polizei und jüdischen Organisationen hier. Wir möchten auf diesem Weg zur Entwicklung einer deutschmuslimischen Identität beitragen und die Jugendlichen zur gesellschaftlichen Partizipation motivieren.

Deutsche, sondern vor allem als Türken, Araber oder Bosnier. Aber die meisten von ihnen stehen irgendwann vor den Fragen: Wie weit bestimmt mich die Herkunft meiner Eltern in meinem Leben und in meinem Handeln? Welche Sitten und

Hischam Abul Ola ist Diplom-Informatiker. In den vergangenen 15 Jahren hat sich der 29-Jährige in der muslimischen Jugendarbeit engagiert und dabei zahlreiche Dialogprojekte mit nicht-muslimischen Partnerorganisationen durchgeführt. Seit 2001 ist er Mitglied im Bundesvorstand und seit 2008 Vorsitzender der Muslimischen Jugend in Deutschland.

Normen der Mehrheitsgesellschaft habe ich mir angeeignet und wie sind sie mit meinem Islamverständnis zu vereinbaren? Eine deutsch-muslimische Identität hilft, diese Fragen zu beantworten: Sie trägt dazu bei, scheinbare Widersprüche aufzulösen und sich eine individuelle Identität aus den verschiedenen Elementen zusammenbasteln. Dabei verstehen wir unter einer deutsch-muslimischen Identität, sich bewusst als deutscher Muslim zu sehen. Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat, der wir uns verbunden und verpflichtet fühlen. Das ist das Land, in dem wir geWas ist das für Sie, eine „deutsch- boren sind, dessen Werte, Bräuche und muslimische Identität“, und warum halten Sprache wir kennen, wie keine anderen. Wir machen deutlich, dass es für uns keiSie diese für wichtig? Sehr viele Jugendliche muslimischer Her- ne Alternative hierzu gibt, weil wir genau kunft sehen sich zunächst gar nicht als das sind: Deutsche Muslime.

Und auf welche Weise versuchen Sie, den Jugendlichen das zu vermitteln? Zunächst versuchen wir, den Ursachen für die generelle Haltung vieler Jugendlicher nachzugehen, die sich den Heimatländern ihrer Eltern zumindest verbal verbundener fühlen. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen spielen hier eine entscheidende Rolle. Wir versuchen diese Erfahrungen zu kompensieren – vor allem durch Reflexion und Diskussion, aber auch durch positive Vorbilder, die zeigen, wie sich Integration und Religiosität vereinen lassen. Eine weitere Ursache dafür, dass junge Muslime sich nicht mit Deutschland identifizieren wollen, ist die Behauptung, dass Islam und europäische Lebensweise nicht mit einander vereinbar seien. Das erklären ja Radikale auf muslimischer ebenso wie auf nicht-muslimischer Seite. Einer solchen Radikalisierung wirken wir entgegen, indem den Jugendlichen ein authentischer Islam und ein ausgewogenes Religionsverständnis vermittelt wird, das in keinem Widerspruch zur europäischen Lebensweise steht. Was genau meinen sie mit einem „ausgewogenen Religionsverständnis“? Wenn Jugendliche zu uns kommen, die meinen, religiöse Gebote wie das Beten spielten für sie überhaupt keine Rolle; oder solche mit einem sehr einengenden, wortwörtlichen Islamverständnis, in dem auch die kleinsten Punkte wie die Länge des Bartes oder der Hosen zu essentiellen Fragen stilisiert werden.... Also Leute, die diesen beiden Extremen folgen, werden sich bei uns nicht wohl fühlen. Für uns ist wichtig, dass der Islam ja die Flexibilität mitbringt, sich an örtliche und zeitliche Gegebenheiten anzupassen. Als verbindliches Wertesystem lässt er nicht nur genug Freiraum zur Integration in andere politische Systeme, sondern stimmt mit der demokratischen Ordnung im Wesentlichen überein – zum Beispiel bei den Grundrechten wie Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, der Unantastbarkeit der Würde. Sie sind dem Islam immanent. Seite 7


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RELIGION UND IDENTITÄT: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“ Ein Grundsatz der Jugendarbeit ist, dass sie nicht „moralisch überwältigen“ und dem Prinzip der Kontroversität verpflichtet sein sollte. Demnach wäre es gerade wichtig, Konflikte zu thematisieren, mit denen religiöse Jugendliche in ihrem Alltag konfrontiert sind. Solche Konflikte – um das Kopftuch oder die Sexualität – finden sich aber auf der MJD Website sowie in Ihren Publikationen nicht wieder. Daraus entsteht der Eindruck, dass die MJD ein islamisches Ideal in Form einer religiös „korrekten“ Lebensweise vorgibt. Sicher vertreten wir eindeutige Position zu verschiedenen religiösen Fragen, wir setzen uns aber gleichzeitig auch mit Gegenansichten auseinander. Und hier kommt es durchaus zu kontroversen Diskussionen. Dabei versuchen wir, Meinungen nicht vorzugeben, sondern den Jugendlichen das nötige Handwerkszeug zu vermitteln, um sich anhand religiöser Quellen ein selbstständiges Urteil zu bilden. Wie sieht das konkret aus? Sie haben das Kopftuch angesprochen. Wir behandeln da den generellen Rahmen der Kleidervorschriften im Islam und tragen die entsprechenden Zitate aus Koran und Sunna zusammen, denn das sind unsere Ideengeber. In der Diskussion würden wir mögliche Extreme wie Burka, Niqab oder sehr kurze und eng anliegende Kleidung thematisieren. Dann würden wir sowohl die Meinung islamischer Rechtsgelehrter wiedergeben, die der Ansicht sind, dass

das Kopftuch eine religiöse Pflicht ist. Wir würden aber auch auf andere Positionen und Argumente eingehen und beispielsweise Referentinnen einladen, die eine konträre Ansicht vertreten. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Mädchen jahrelang in der MJD aktiv sind, die außer zum Gebet kein Kopftuch tragen. Prinzipiell würden wir bei jedem Thema so vorgehen, zu dem es unterschiedliche religiöse Auslegungen gibt. Das ist aber nicht immer der Fall. Zur Frage vorehelicher Sexualität zum Beispiel herrscht, soweit mir bekannt ist, ein eindeutiger religiöser Konsens. Es mag Vertreter geben, die das aus persönlicher Überzeugung anders handhaben, uns ist allerdings kein Referent bekannt, der diese Ansicht auch religiös begründet.

ne Entscheidungen zu sanktionieren oder unter Druck zu setzen.

Nun wird der MJD vom Verfassungsschutz vorgeworfen, in Verbindung zu islamistischen Netzwerken zu stehen. Genannt werden der Europäische Fatwa -Rat oder die Muslimbruderschaft. Damit verbunden ist auch der Verdacht, die MJD würde Jugendarbeit mit dem politischen Ziel betreiben, die Gesellschaft zu islamisieren. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen? Die MJD ist eine unabhängige und transparente Organisation, die sich für die freiheitlich demokratische Grundordnung engagiert. Die Vorwürfe basieren auf einer selektiven, verzerrten und willkürlichen Auseinandersetzung mit unserer Arbeit. So heißt es, dass die MJD ihren Mitgliedern Demnach dürfte aber zum Beispiel empfehle, sich in Fragen des islamischen eine muslimische Frau keinen nicht- Rechts an die Aussagen des angeblich muslimischen Mann heiraten... mit der Muslimbruderschaft verbundenen Ja, auch hier gibt es keinen anerkannten European Council for Fatwa and Research religiösen Gelehrten, der dies theologisch (ECFR) zu halten. Diese Behauptung ist legitimieren würde. Trotzdem sind wir na- falsch. Lediglich einmal haben wir vor Jahtürlich der Meinung, dass jede den heira- ren in einem MJD-Newsletter geschrieben, ten kann, der ihm gefällt – also auch eine dass der Vorstand zur Frage, ob VersicheMuslima einen Nichtmuslim. Allerdings rungen islamisch erlaubt sind, eine Anfrabegeht sie damit aus religiöser Sicht eine ge an den ECFR geschickt hat. Die MJD Verfehlung. Entscheidung und Verantwor- hat nie den Rat gegeben, sich generell am tung liegen aber bei jedem selbst. Schließ- ECFR zu orientieren. Dies würde auch unlich gibt es keinen Zwang im Glauben und serem Selbstverständnis widersprechen. keinen Zwang zur Befolgung religiöser Wir schätzen Verhaltens- und MeinungsGebote, sei es beim Genuss von Alkohol vielfalt und es liegt uns fern, durch den oder bei der Wahl des Ehepartners. Dar- Verweis auf eine verbindliche Rechtsmeiaus folgt für uns auch, niemanden für sei- nung Uniformität zu schaffen. Gerade weil es islamische Gelehrte mit zweifelhaften Ansichten gibt und sie ja häufig aus dem arabischen oder türkischen Kontext kommen, bemühen wir uns um eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Ob wir dann Meinungen annehmen oder ablehnen, hängt von ihrer Vereinbarkeit mit unserem deutschen Islamverständnis ab.

Muslimas mit Mumm – Werbung für das Muslimische Mädchen Meeting 2010 der MJD

Die führende Figur im ECFR ist der Gelehrte Yusuf Al -Qaradawi. Er vertritt teils sehr radikale Positionen: Außerehelicher Sexualverkehr und Homosexualität zum Beispiel sind für ihn schwere Sünden, die auch mit drastischen Körperstrafen bis hin zur Todesstrafe geahndet werden sollen. Auch Selbstmordattentate in Israel hat er gerechtfertigt. Wie steht die MJD zu solchen Positionen? Ist Qaradawi für die MJD eine der von Ihnen genannten anerkannten Autoritäten? Gleich wie man zum ECFR stehen mag und wie man ihn ideologisch zuordnet – Seite 8


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RELIGION UND IDENTITÄT: „Der Islam ist unsere Religion, Deutschland unsere Heimat“ unbestreitbar ist, dass er zu den Wenigen gehört, die, zumindest in Teilbereichen, zufrieden stellende Antworten für religiöse Muslime in Europa liefert. Dennoch haben wir Qaradawi nie als für uns wichtige Autorität bezeichnet. Wir haben uns lediglich in einzelnen Fragen auf den ECFR bezogen – etwa zu Fragen des Reisens, der Musik und der Teilnahme an Wahlen. In Fragen, bei denen wir uns nicht auf ihn beziehen, haben wir eine erkennbar eigene Position. In einigen Fällen betreffen uns seine Ansichten als deutsche Jugendorganisation nicht. Das ist vor allem bei außenpolitischen Themen der Fall. Es wundert uns eher, wie schnell wir in eine Schublade

gesteckt werden und ein Zusammenhang konstruiert wird, weil man Mal eine Meinung übernimmt oder eine Schrift übersetzt. Die MJD ist jedenfalls nicht Pressesprecher dieser Gelehrten. Schließlich fordert man vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend auch nicht, zu den Prügelvorwürfen gegen Bischof Mixa oder zu den Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen Position zu beziehen. Herr Abul Ola, vielen Dank für das Gespräch!

MEHR ZUM THEMA „Jung & Muslim“: Ein Buch bietet Einblick ins Islamverständnis der MJD www.bpb.de/themen/YNMI8O Die muslimische Jugendszene www.bpb.de/themen/ZOEWPE Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

Eine ungekürzte Fassung des Interviews ist auf der Website der bpb erschienen.

DIE MUSLIMISCHE JUGEND IN DEUTSCHLAND (MJD) Die Muslimische Jugend in Deutschland wurde 1994 gegründet und gewann in den vergangenen Jahren vor allem unter sehr religiösen muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Popularität. In zahlreichen Städten unterhält sie sogenannte Lokalkreise. Zu ihren etwa 900 registrierten Mitgliedern gehören überwiegend bildungsnahe junge Muslime zwischen 13 und 30 Jahren. Der Verein wendet sich aber ausdrücklich an alle Muslime – unabhängig von Nationalität und Herkunft. Sich selbst beschreibt die MJD auf ihrer Vereinshomepage mit den Schlagworten „multikulturell“, „islamisch“, „mittendrin“ und „hip“. Im Jahr 2008 nahmen über 1.000 Jugendliche am Jahrestreffen der MJD teil. Das Programm war weit gefächert: Neben Rap-Workshops, Origami-Kursen

und Koranlektüre fanden auch Diskussionen mit Greenpeace-Vertretern statt. Beim Jahrestreffen 2009 referierte ein Vorstandsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland und ein Vertreter der Polizei informierte über das Thema häusliche Gewalt. Die MJD steht unter Beobachtung von Verfassungsschutzbehörden, die ihr unter anderem personelle und organisatorische Verbindungen zum Netzwerk der islamistischen Muslimbruderschaft in Deutschland und Europa vorwerfen. 2003 beendete das Bundesfamilienministerium die finanzielle Förderung der MJD. In den letzten Jahren hat sich die Jugendorganisation bemüht, Vertrauen zurückzugewinnen und nicht-islamische zivilgesellschaftliche Akteure für Kooperationen zu gewinnen – etwa im interreligiösen Dialog.

Die Diskussion über die MJD und die Förderung ihrer Jugendarbeit geht allerdings weiter: Zwar erreicht die MJD ein junges und religiöses Publikum, das sich von den Angeboten der herkömmlichen Jugendarbeit ebenso wenig angesprochen fühlt wie von den „klassischen“ Moscheegemeinden. Doch ihre Positionen reichen bis in das moderat-islamistische Spektrum hinein: Bei vielen Veranstaltungen herrscht Geschlechtertrennung und religiöse Gebote werden meist im engen Rahmen der Positionen traditioneller islamischer Religionsgelehrter ausgelegt. Kritiker werfen der MJD daher Uniformität vor und fragen, ob die Organisation die Integration muslimischer Jugendlicher in Deutschland fördert oder eher behindert.

JUGENDKULTUR UND MEDIEN

Pop, Politik und Boulevard DAS DEUTSCHTüRKISCHE INTERNET PORTAL Vaybee! Crossover statt Parallelwelt: Im populärsten deutschtürkischen Internet- Portal Vaybee! schaffen sich die jugendlichen Nutzer einen deutschtürkischen Kommunikationsort und verbinden hier ihre unterschiedlichen Lebenswelten. Nach eigenen Angaben ist Vaybee! (deutsch etwa: „Wow“ oder „Klasse“) mit 400.000 Mitgliedern die populärste deutschtürkische

Online-Community. Die Vaybee!-Plattform bietet ihren Nutzern sowohl Beiträge aus der eigenen Redaktion als auch Foren, in denen

die Mitglieder selbst Beiträge verfassen und sich miteinander vernetzen können. Mit einer Mischung aus Politik und Boulevard spricht Vaybee! vor allem Jugendliche und Erwachsene „zwischen 14 und 40 Jahren“ der zweiten und dritten Generation an. Ihnen versucht die Vaybee!-

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JUGENDKULTUR UND MEDIEN: Das deutschtürkische Internet-Portal vaybee!

Redaktion mit Nachrichten aus Politik und Gesellschaft sowie einem hohen Anteil an Lifestyle-Themen, Musik, Sport und viel nackter Haut eine, wie es heißt, „virtuelle Heimat“ zu geben. So ist der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel beim türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan ebenso ein Thema für Vaybee! wie die türkischsprachige Beratung von Rentnern durch die Deutsche Rentenversicherung oder freizügig ins Bild gesetzte Sexpositionen. Mit dieser deutschtürkischen Mischung aus Boulevard und Politik dürfte Vaybee! konservative und streng religiöse User eher abschrecken. Neben der Freizügigkeit tragen dazu auch Berichte über sexuelle Aufklärung oder homosexuelle türkische Männer bei. Die Redaktion greift hier Themen auf, die sowohl in der Türkei als auch unter vielen Migranten türkischer Herkunft in Deutschland häufig tabuisiert werden. In den diversen Foren schaffen sich die Nutzer ihre Inhalte hingegen selbst. Dabei wechseln sie in ihren Beiträgen häufig zwischen Deutsch und Türkisch hin und her. Hier fällt auf, dass religiöse Themen und persönliche Fragen besonders häufig gelesen und kommentiert werden. So haben fast 4.000 Leser den Thread zur Frage von H.* angeklickt, ob denn Ehepartner aus der Türkei „anständiger“ seien als solche, die bereits in Deutschland aufgewachsen sind. Dazu meint D., dass dies nicht pauschal zu beantworten sei: „Die 3. heranwachsende Generation“, erklärt sie, „ist viel bunter, als meine 2., in der die Eltern zumeist strenger und religiöser gewesen sind, und ihren Lebensstil ihren Kindern auferlegen wollten...“. Der User T. ist hingegen der Überzeugung, dass sich „die türkischen weibs in deutschenland verhalten, reden wie männer. kein respekt, keine manieren“ – woraufhin andere Teilnehmer nach einem Teppichklopfer rufen, um T. mal „übers Knie zu legen“. Der Bezug auf das Herkunftsland spielt oft eine wichtige Rolle in den Diskussionen. In der konkreten Frage findet D. den Vergleich mit der Türkei aber unpassend, „weil

Politik und Kultur, Lifestyle-Themen und viel nackte Haut: Vaybee! ist die populärste deutschtürkische Online-Community.

wir hier unter völlig anderen Umständen aufgewachsen sind“. Auch die Menschen in der Türkei hätten ihre Macken – aber diese „haben nichts gemein mit unseren Konflikten, die uns während der Erziehung in einem deutschen Umfeld mit türkischen Eltern beigebracht wurden.“ Sie kommt zu dem Schluss, dass man sich dennoch nicht allein oder „exotisch“ fühlen müsse, „wenn nur das Verständnis von Mensch zu Mensch zählt und nicht Nationalität zu Nationalität“. Mit dieser Haltung steht D. stellvertretend für viele Nutzer in der Vaybee!-Community: Mal locker und flapsig, mal aggressiv und in chauvinistischem Ton oder aber mit ausführlichen Argumenten diskutieren hier deutschtürkische Jugendliche und junge Erwachsene über politische, kulturelle, moralische und religiöse Fragen. Die Vaybee!-Foren zeigen, wie sie dabei Sprache, Themen und kulturelle Codes aus dem türkischen und dem deutschen Kontext in spezifischer Weise miteinander

verbinden. Und sie geben Auskunft über den Lebensalltag vieler junger Deutschtürken, die sich weder religiös, noch national oder kulturell festlegen (lassen) wollen. *Namen der Community -Mitglieder anonymisiert

MEHR ZUM THEMA „Was guckst Du?“ – Zur Mediennutzung von Jugendlichen mit arabischem, türkischem und muslimischem Familienhintergrund www.bpb.de/themen/QvCSG9 Glossar: Türkisches Tv www.bpb.de/themen/DY4AIX,21 Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

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Kollektive Suche nach der Identität ONLINE -FOREN FüR JUNGE ERWACHSENE MAROKKANISCHER HERKUNFT MarocZone und dimadima sind Internet-Portale für Jugendliche und junge Erwachsene marokkanischer Herkunft. Diese Herkunft spielt für die Nutzer der Foren eine zentrale Rolle bei der Bewertung ihrer „deutschen“ Umwelt. In den Diskussionen wird deutlich, dass die Identitätsbildung der jungen Deutsch- Marokkaner in der ständigen Auseinandersetzung mit beiden Lebenswelten stattfindet.

Schwitzen ohne Männer – und ohne Kopftuch: MarocZone hat nach eigenen Angaben 45.000 Mitglieder.

„Eine Community rund um Marokko. Mit der Möglichkeit, eigene Artikel zu verfassen und im Forum zu diskutieren. Mit Chat, Music und Bildergalerie.“ So beschreibt sich das Online-Forum dimadima, das wie die MarocZone-Community vornehmlich Jugendliche und junge Erwachsene marokkanischer Herkunft in Deutschland anspricht (siehe Kasten). Bei dimadima sind nach eigenen Angaben etwa 20.000 Mitglieder aktiv, MarocZone spricht von 45.000 Mitgliedern und 11.000 aktiven Nutzern. Wie beim deutschtürkischen Forum Vaybee! (siehe Seite 9) sind auch hier die Themen, über die sich die Nutzer austauschen, vielfältig: Von alltäglichen Fragen wie Bewerbungsschreiben, Schmink-, Flirt- und Küchentipps reicht das Spektrum über „marokkanische Hochzeiten“ bis zu aktueller Politik, Sport und religiösen Themen. Der Thread mit den meisten Beiträgen auf MarocZone (nahezu 28.000) findet sich in der Rubrik „Unterhaltung und

Fun“ und ist an alle „Büromäuse“ gerichtet, die sich in ihrem Arbeitsalltag gerade genauso langweilen wie M.*, die mit ihrer Nachricht aus dem Büro die Diskussion eröffnet hat. Andere Themen haben hingegen mehr mit der Herkunft der Teilnehmer zu tun: Etwa wenn auf dimadima Heirat und Partnerschaft zwischen einer muslimischen Frau und ihrem nicht-muslimischen Freund in den meisten Postings abgelehnt wird (siehe Newsletter 16). Es wird deutlich, dass ein meist konservatives Verständnis von Religion und Tradition für viele User den gemeinsamen Nenner darstellt. Kritische Stimmen sind dabei selten. So erklärt S. zwar, dass die in Deutschland aufgewachsenen Marokkaner „sowas von hinterm Mond in Sachen Fortschritt“ seien. Dass eine muslimische Frau einen Nicht-Muslim heiraten könnte, lehnt aber auch er ab. Ablehnend steht die Mehrheit der Nutzer auch Homosexuellen gegenüber. Für

die meisten gilt es als Widerspruch und Sünde, muslimisch und schwul zu sein. In vielen Postings äußern sie sich verächtlich gegenüber Homosexualität. Ein Großteil der Teilnehmer von MarocZone ist zudem sehr empört wegen der von B. geposteten Nachricht, dass demnächst ein von marokkanischen Homosexuellen herausgegebenes Online-Magazin erscheinen soll: Als „Anfang vom Untergang“ bezeichnet ein Nutzer Homosexualität, und D. erklärt: „Ich verlange Todesstrafe für solche Ungläubigen ohne Stolz und Ehre.“ Homosexuelle seien „abnormal“ meint A. und auch der Vorwurf der Pädophilie gehört zum hier vorgetragenen Repertoire typischer homophober Stereotypen. Deutlich wird in diesen Reaktionen der jungen Deutsch-Marokkaner ein Bedürfnis nach Abgrenzung, das gegenüber Homosexualität besonders stark zu sein scheint. Nur wenige Stimmen rufen zur Mäßigung auf. So wendet sich F. gegen die Gleichsetzung von Pädophilie und Homosexualität und L. sorgt sich um die Reputation des Forums: Die „Außenwirkung“ solcher Diskussionen werde unterschätzt. „Echt schädigend“ sei es daher, dass die Moderatorin des Forums die beleidigenden Äußerungen noch unterstützt habe, statt mäßigend einzugreifen. Gleichzeitig schätzen viele der Nutzer dieser Foren Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, materielle Sicherheit und soziale Absicherung in Deutschland. Das geht aus dem Thread auf dimadima unter dem Titel „Was ist der krasseste Unterschied zwischen dem Leben in Marokko zu Deutschland?“ hervor. Dort beschreibt etwa T. die „Angstfreiheit“ als größten Unterschied: In Marokko habe er immer Angst vor Armut, Kriminalität und staatlicher Willkür gehabt. Emotional sind viele allerdings stärker mit der Heimat der Eltern und Großeltern verbunden. So schreibt G. über Marokko: „Die Menschen sind freundlich, das Wetter ist traumhaft (...) man hört wirklich selten mal jmd. meckern. Hier (in Deutschland; d. Red.) haben die Menschen fast alles (Auto, Arbeit ein warmes Zuhause) und trotzdem beklagen sie sich (...). Ich muss gestehen, dass ich jene bewundere, die hier aufgewachsen sind und in ihr Land zurückSeite 11


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JUGENDKULTUR UND MEDIEN: Online-Foren für junge Erwachsene marokkanischer Herkunft kehren, mithelfen es aufzubauen. Das ist jmd., der das Wort ‚Heimat’ internalisiert hat und dementsprechend handelt.“ Die „Rückkehr“, das geht aus vielen Threads in beiden Foren hervor, ist für viele junge Deutsch-Marokkaner immer eine Option – auch wenn sie meist sehr theoretisch bleibt. Die Vielfalt der lebensweltlichen und politischen Themen, mit denen sich Jugendliche und junge Erwachsene in den beiden Online-Foren beschäftigen, zeigt, dass es sich hier keinesfalls um mediale Parallelwelten handelt. Vielmehr sind die Online-

Communities für ihre aktiven Nutzer wichtige Orte des Ringens um Integration: In der schwierigen Auseinandersetzung mit Fragen der kulturellen Heimat und dem Leben in Deutschland finden zentrale Prozesse kollektiver und individueller Identitätsfindung statt. Dabei ist der teils ganz selbstverständliche Umgang der jungen Deutsch-Marokkaner mit ihrer „deutschen“ Umwelt ebenso Teil solcher Prozesse wie die mitunter drastische und aggressive Abgrenzung von den „Anderen“. *Namen der Community- Mitglieder anonymisiert

MEHR ZUM THEMA „Unsterblich verliebt“. Im InternetForum Dimadima.de diskutieren Jugendliche ihre Fragen und Konflikte www.bpb.de/themen/FIUNHM Online-Forum Al-Hiwar: Dialog über die Ehe www.bpb.de/themen/F8I97N Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

MAROKKANER IN DEUTSCHLAND In der EU leben insgesamt über drei Millionen Menschen marokkanischer Herkunft. Nach den Migranten türkischer Herkunft stellen sie europaweit die zweitgrößte Migrantengruppe. Anders als etwa in Frankreich, wo über eine Million Marokkaner leben, finden sie in Deutschland meist weniger öffentliche Beachtung – hier leben nur etwa 100.000. Die marokkanische Zuwanderung nach Deutschland begann in den 1960er Jahren. Bis heute hat etwa ein Drittel dieser Einwanderer die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Knapp die Hälfte der marokkanischen Migranten in Deutschland ist unter 35 Jahren alt.

2005 waren bereits etwa 20 Prozent von ihnen in Deutschland geboren. Die Mehrheit lebt im Raum Frankfurt und Düsseldorf. Während viele Marokkaner zunächst in Industrie und Bergbau arbeiteten, ist heute die Mehrzahl im Dienstleistungssektor beschäftigt. Deutlich gestiegen ist zuletzt der Anteil berufstätiger Frauen: Lag dieser 1986 noch lediglich bei 7 Prozent, sind heute rund ein Drittel der Frauen berufstätig. Über 70 Prozent der marokkanischen Gemeinschaft in Deutschland stammen aus dem Rifgebirge, bis heute eine der

ärmsten und konservativsten Regionen des Landes. Die Region ist auch bei den Nutzern der Online-Foren immer wieder Gesprächsthema. Die soziale Ordnung der dort mehrheitlich lebenden nicht-arabischen Berber ist meist traditionell geprägt. Die Muttersprache der ersten und zweiten Generation marokkanischer Einwanderer ist meist nicht Arabisch, sondern eine Variante des Berberischen (Tarifit), das allerdings kaum als Schriftsprache verwendet wird. Mit dem Hocharabischen, der offiziellen Sprache in Marokko, kommen viele ihrer in Deutschland geborenen Kinder nur wenig in Berührung.

JUGENDKULTUR UND MEDIEN

„Die wollen den Islam schlecht machen“ EIN WORKSHOP MIT JUNGEN MIGRANTEN ZUM ISLAMBILD IN DEN MEDIEN Terrorismus, das Kopftuch oder der Nahostkonflikt: In einem Workshop mit einer Oberstufenklasse in Berlin -Kreuzberg geht es um die Darstellung des Islam und von Muslimen in den deutschen Medien. Die fünfzehn Schüler sind zwischen 16 und 18 Jahre alt und türkischer sowie arabischer Herkunft. von Jochen Müller/ufuq.de „Reporter haben doch gar keine Ahnung“, meint Fatme. Mit dieser Meinung über Journalisten steht sie nicht allein: „Die schreiben doch nur ihre Meinung und interessieren sich gar nicht dafür, was wir denken“, erklärt Ahmed. Auch Muhammad

pflichtet bei: „Die Journalisten sollten sich lieber ausgewogen informieren und nicht in aller Eile was runterschreiben. Was machen denn die meisten: Artikel schreiben, Geld bekommen, fertig! Aber wer denkt an die Muslime und ihre Gefühle?“

Auch Beispiele für die, wie sie meinen, „verantwortungslose“ Medienberichterstattung zählen die Schüler auf: Es fallen Stichworte wie Islam und Terrorismus, kriminelle Jugendliche, das Kopftuch oder der Nahostkonflikt. Bei diesen Themen konzentriere sich die Berichterstattung deutscher Medien auf negative Nachrichten über den Islam. Außerdem sei sie einseitig und politisch „gesteuert“ – so sehen es die Jugendlichen. Die Medien trügen damit die Hauptschuld dafür, dass der Islam und die Muslime in Deutschland so „schlecht angesehen“ seien. Dabei verweisen die Schüler auf einzelne Medien, Seite 12


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JUGENDKULTUR UND MEDIEN: „Die wollen den Islam schlecht machen“

Den Workshop-Teilnehmern nicht bewusst: Die Beteiligung des Springer-Konzerns an der auflagenstarken türkischen Boulevardzeitung HÜRRIYET

Verlage und Titel: der Springer Verlag, die BILD-Zeitung und eine Reihe von SPIEGELAufmachern dienen ihnen als Beleg. Mit großer Selbstverständlichkeit verbinden einige der Schüler ihre Vorbehalte zudem mit antisemitischen Stereotypen: Die Medien seien fast alle in „jüdischer Hand“, heißt es. Hinter dem SPIEGEL stehe ein „jüdisches Netzwerk“ und auch das Symbol des Magazins STERN – davon ist ein Schüler fest überzeugt – verweise auf dessen jüdischen Hintergrund. „Jüdischer Einfluss“ präge nicht nur die Berichterstattung der Medien über den Nahostkonflikt. Er ziele auch darauf, ein insgesamt schlechtes Bild des Islam und von Muslimen zu verbreiten, so die Haltung einzelner Jugendlicher. Auf Grundlage dieser undifferenzierten Überzeugungen und Vorbehalte stilisieren die Jugendlichen „die Medien“ zu einem Feindbild. Auf Nachfragen des Moderators zeigt sich allerdings, dass die Gymnasiasten sehr wenig darüber wissen, wie Journalisten arbeiten, wie eine Zeitung bzw. eine Sendung entsteht oder wie die Verlagshäuser wirtschaften. Auch mit der politischen Vielfältigkeit der Medienlandschaft haben sie offenbar kaum eigene Erfahrungen gemacht – so lässt sich die überraschte Reaktion auf den Nachweis deuten, dass

in einer Zeitschrift gelegentlich sehr unterschiedliche Positionen etwa zum Nahostkonflikt oder zur Rolle des Islam publiziert werden. Der Workshop macht deutlich, dass Unkenntnis über die Vielfalt der Medienlandschaft und die Arbeitsweise von Journalisten Vorurteile begünstigen und Verschwörungstheorien fördern können. Die Vermittlung kritischer Medienkompetenz sollte daher mit der Vermittlung von Wissen und grundlegenden Informationen über journalistische Techniken beginnen: Anhand von Beispielen lässt sich zeigen, was die Reportage vom Kommentar unterscheidet. Zudem kann darauf aufmerksam gemacht werden, wie TV-Programme, Zeitungen und Magazine mit Bildern, Titeln oder Bildunterschriften bestimmte Lesarten nahelegen oder Stimmung machen und Klischees verbreiten können. Dazu empfehlen sich auch Verweise auf ausländische Medien, die den Jugendlichen bekannt sind: Im Workshop zeigten sie großes Interesse an Produkten und Verflechtungen türkischer und arabischer Medienkonzerne. Neu war den Schülern zum Beispiel, dass der deutsche Springer-Konzern an der einflussreichen türkischen Dogan-Gruppe beteiligt ist, die unter anderem die auflagenstarke Boulevardzeitung HÜRRIYET herausbringt.

Am Ende des Workshops waren die Schüler sowohl für die Vielfalt der Medien als auch für eine differenziertere Wahrnehmung sensibilisiert. Hieß es anfangs noch: „Die Journalisten wissen gar nicht, worüber sie berichten und wollen nur den Islam schlecht machen!“, intervenierten jetzt einzelne Schüler gegen pauschale Urteile sowie prinzipielle Medien- und Journalistenkritik: „Du weißt doch gar nicht, was die denken! Wir sollten nicht alle Journalisten in eine Schublade stecken. Sonst machen wir ja das gleiche, was wir ihnen vorwerfen!“ MEHR ZUM THEMA Anerkennen und Abgrenzen. überlegungen zur Pädagogik gegen Antisemitismus und Israelhass unter jungen Muslimen www.bpb.de/themen/NNW3X7 YouTube-videos: Pädagogik mit dem Teufel www.bpb.de/themen/LEJFW4 Das Islambild von ARD und ZDF www.bpb.de/publikationen/BSF019 Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

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PUBLIKATIONEN

KanakCultures MIGRATIONSHINTERGRUND ALS QUALIFIKATION „Ich bin stolz, ’ne Kanake zu sein“: In dem Buch „KanakCultures“ kommen jugendliche Migranten unterschiedlicher Jugendkulturen zu Wort. Für sie ist das Attribut „mit Migrationshintergrund“ kein Makel, sondern eine Kompetenz, die es zu nutzen gilt. „Kanak Attak ist eine Haltung und keine Gruppe“, erklärt Cevat. Der 33-Jährige ist Geschäftsführer eines IT-Unternehmens und Mitgründer des Tübinger Ablegers von Kanak Attak, einem bereits seit über zehn Jahren bestehenden Netzwerk junger Migranten. Cevat ist einer jener jungen Deutschen „mit Migrationshintergrund“, über die man in der Öffentlichkeit wenig

Es ist das Schubladendenken – hier Migrant, da Deutscher –, gegen das sich das Netzwerk Kanak Attak wendet: Das Denken in Kategorien und die damit verbundene Bevormundung. „Wir haben es satt, auf irgendwelchen Straßenfesten für das Kulinarische zu sorgen. Wir haben auch inhaltlich was zu melden und unsere Wünsche können wir besser formulieren als ihr.

den 29-Jährigen auf dem Jahrestreffen der Muslimischen Jugend in Deutschland (siehe Seite 7). Als Mitorganisator der Veranstaltung erklärt der Politikwissenschaftler, was es mit islamischer Jugendkultur auf sich hat – wobei ihm der Begriff „islamische Jugendkultur“ nicht behagt. Schließlich gehe es ja um deutsche Jugendliche, die zwar muslimisch, aber auch deutsch sind. Dennoch gibt es Besonderheiten, die für ihn das Islamische ausmachen. Beispielsweise, dass er statt eines Hemdes von Nike ein T-Shirt von Style-Islam trägt – einem islamischen Modelabel, das Kleidung mit islamischen Botschaften anbietet: „I love Mekka“ statt „I love New York“. Ein solches T-Shirt trägt er am Freitag in der Moschee: „Weil das passt einfach.“ Religion steht allerdings für die meisten der im Buch dargestellten Jugendlichen nicht im Mittelpunkt ihres Alltags. Die Herkunft der Eltern schon eher. So ärgert sich Elif, die sich als Fußballspielerin einen Ruf als „weiblicher Ronaldinho“ erworben hat, immer wieder über die selektive Wahrnehmung ihrer Person. Ihre deutschen Freundinnen betonten, dass sie ja wie „eine Deutsche sei“, beklagt sie. Für sie ist das kein Kompliment, denn sie versteht dies vor allem als Kritik an „den Türken“. „Ich bin einfach eine Türkin und nicht alle Türken sind Scheiße“, antwortet sie ihren Freundinnen in Situationen, wenn diese wieder einmal versuchen, ihren Erfolg einzudeutschen.

Projektgruppe JugendArt: KanakCultures. Kultur und Kreativität junger MigrantInnen, Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag, 2010, 204 S.

hört. Dabei haben sie etwas zu sagen – und zwar nicht nur im Hip-Hop. Das Buch „KanakCultures. Kultur und Kreativität junger MigrantInnen“ porträtiert neben Cevat weitere Jugendliche und junge Erwachsene, die in Kultur, Medien, Politik oder Sport aktiv sind. Studenten der Hochschule Esslingen haben diesen Jugendlichen in Interviews das „Sprachrohr gereicht“, damit sie ihre Perspektive darlegen: Was bedeutet ihnen die Herkunft der Eltern, wie definieren sie ihren Platz in der Gesellschaft und wie versuchen sie, ihre von der Mehrheit zugeschriebenen Rollen zu verändern?

Warum soll ich da zur AWO?“, fragt Cevat. Selbst das Wort ergreifen, eigene Foren schaffen – im Alltag, in der Politik oder der Kultur – das sind einige Ziele, für die sich Kanak Attak einsetzt. „Ich bin stolz, ’ne Kanake zu sein“, betont Adalla, eine 13-jährige Schülerin und Hauptdarstellerin eines Musicals. Sie sehe vielleicht deutsch aus, fühle sich aber „eher arabisch“. Die Schauspielerei und der Tanz auf der Bühne sind für sie Möglichkeiten, um sich gegenüber anderen zu beweisen. Für Hakan ist es hingegen keine Frage, dass er sich als Deutscher sieht. Die Autoren treffen

Diese Erfahrungen sind typisch für viele der Gesprächspartner, die in dem Buch zu Wort kommen. Selma, die Architektin, oder Büsra, die Jugendrätin aus Stuttgart-Degerloch: Sie alle erzählen von ihrem Alltag in Deutschland und von dem, was sie bewegt. Die Autoren des Buches versuchen dabei, das „Normale“ ihrer Gesprächspartner herauszustellen. Damit vermeiden sie Fehler, die man mit einem solchen Projekt leicht begehen kann: Denn nicht alles was Migranten tun, lässt sich eben mit dem Migrant-Sein erklären. Oder, wie es Razi, die Lehramtsstudentin und Fotografin, formuliert: Sie glaube nicht, dass ihr Interesse an der Fotografie mit ihrem Migrationshintergrund zu tun habe. „Ich fotografiere einfach, weil es mir Spaß macht.“ Seite 14


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PUBLIKATIONEN

Unsere Geschichten – eure Geschichte? NEUKöLLNER „STADTTEILMüTTER“ UND DIE BEDEUTUNG DES NATIONALSOZIALISMUS IN DER EINWANDERUNGSGESELLSCHAFT Mehr als 160 Frauen mit Migrationshintergrund wurden in den vergangenen Jahren in dem Stadtteilmütter -Projekt des Diakonischen Werkes Neukölln- Oberspree dazu ausgebildet, anderen Müttern in verschiedenen Lebenslagen Hilfe anzubieten. Zu ihrer Ausbildung gehören mittlerweile auch veranstaltungen, in denen es um die Geschichte des Nationalsozialismus geht. Für die Migrantinnen ein Anlass, sich die Frage nach ihrer Identifikation mit Deutschland und seiner Geschichte zu stellen. Die Broschüre „Unsere Geschichten – Eure Geschichte?“ stellt die Erfahrungen mit diesem Projekt vor. In kurzen Beiträgen geben 14 Stadtteilmütter mit türkischem, irakischem, kosovarischem, tamilischem, eritreischem und polnischem Migrationshintergrund darüber Auskunft, was sie dazu bewog, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen. „Für manche Frauen bot die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen Anknüpfungspunkt für die Beschäftigung mit dem selbst erfahrenen Leid und eigenen traumatischen Kriegs- und Gewalterfahrungen“, schreibt Jutta Weduwen, die für Aktion Sühnezeichen Friedensdienste in der Ausbildung der Stadtteilmütter aktiv ist. „Beeindruckend war für mich, dass es den Frauen oft gelang, diese Gewalterfahrungen zueinander in Beziehung zu setzen, ohne sie gleichzusetzen oder zu vereinnahmen.“ Informationen über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und die Begegnung mit Überlebenden des Holocaust sind aber nicht nur Anlass, sich der eigenen Geschichte und Verfolgungserfahrung bewusst zu werden. Sie dienen auch dazu, sich des persönlichen Verhältnisses zur deutschen Gesellschaft bewusst zu werden. Zugehörigkeit und Verbundenheit mit einem Land bedeuten nicht, „dass ich alles wunderbar finde und mich mit allem identifiziere“, erklärt Astrid Messerschmidt, die sich als Professorin für interkulturelle Pädagogik mit Fragen der Geschichtspolitik in der Einwanderungsgesellschaft beschäftigt: „Zugehörigkeit kann kritisch sein, kann gebrochen sein, kann mit Verunsicherungen leben.“ Dies gelte nicht zuletzt angesichts der Geschichte des Nationalsozialismus: „Auf dem Hintergrund der NS-Verbre-

hatte ich einen sehr guten Geschichtsunterricht. Über den Zweiten Weltkrieg haben wir viel gelernt, nicht aber über den Nationalsozialismus und die Vernichtung der Juden.“ Auch für die Kurdin Perwin Rasoul Ahmad, die aus dem Irak nach Deutschland flüchtete, ist die Geschichte des Nationalsozialismus wichtig. „Ich interessiere mich für die deutsche Geschichte und für die Zeit des Nationalsozialismus, weil ich hier lebe“, sagt sie. Dabei erinnert sie auch an die lange Nachbarschaft, die Juden und Kurden im Irak verband. Die in der Broschüre zusammengetragenen Geschichten der Stadtteilmütter in Berlin-Neukölln sind ein Beispiel dafür, wie eine kritische Annäherung an die deutsche Geschichte möglich ist, die durch alternative Perspektiven ergänzt wird. Dabei werfen die Stadtteilmütter Fragen nach der Bedeutung auf, die der Erinnerung an den Nationalsozialismus auch heute noch im deutschen Selbstverständnis zukommen. Einem Schlussstrich unter die Vergangenheit mag dabei niemand das Wort reden. Im Gegenteil: Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte scheint für sie hochaktuell.

Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF): Unsere Geschichten – Eure Geschichte? Neuköllner Stadtteilmütter und ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, Berlin, 2010, 72 S., download auf www.asfev.de.

chensgeschichte kann es keine ungebrochene Identifikation mit der deutschen Gesellschaft geben. Dies gilt nicht nur für Migrationsdeutsche, sondern auch für die Nachkommen der Tätergeneration“, gibt Messerschmidt zu bedenken. Umso wichtiger sei es, multiperspektivische Ansätze der Erinnerungsarbeit zu verfolgen, die unterschiedliche Standpunkte einbeziehen. „Ich wollte einfach mehr über dieses Thema wissen“, sagt Makfirete Bakalli, eine der 14 Stadtteilmütter, die während des Kosovo-Krieges nach Deutschland floh. „Während meiner Schulzeit im Kosovo

MEHR ZUM THEMA Schüler mit Migrationshintergrund und der Holocaust www.bpb.de/themen/2U78WH Junge Migranten und die Geschichte des Nationalsozialismus www.bpb.de/publikationen/HYPRN9 „Zukunftsforum Islam: Muslime im demokratischen verfassungsstaat“ www.bpb.de/veranstaltungen/S7LIQX Newsletter-Archiv unter: www.bpb.de/jugendkultur-islamdemokratie

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Nr. 17/Mai 2010

SERvICE CROSSOvER GESCHICHTE Mit multiperspektivischen Ansätzen der Erinnerungspolitik beschäftigt sich das aktuelle Buch „Crossover Geschichte“, das sich mit Fragen der Geschichte in der Einwanderungsgesellschaft auseinandersetzt. Dabei geht es vornehmlich um die Bedeutung von Geschichtsbewusstsein und Fragen der Zugehörigkeit und Identität, mit denen sich insbesondere junge Migranten konfrontiert sehen. Im Mittelpunkt steht der Nationalsozialismus. Aber auch andere historische Ereignisse wie der Mauerfall und die Wiedervereinigung werden mit Blick auf die integrationspolitischen Folgen diskutiert. Nicht weniger wichtig sind die historischen

Erfahrungen und Erinnerungen, die den Jugendlichen von ihren Eltern und Großeltern vermittelt werden. Mit Hintergrundartikeln und Berichten aus der pädagogischen Praxis zeigt der Sammelband Perspektiven auf, wie ein „Crossover“ unterschiedlicher Erinnerungen aussehen könnte.

Viola B. Georgi/Rainer Ohliger (Hrsg.): Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2009, zu bestellen unter www.bpb.de.

Informationen und Materialien für Pädagogen FACHBRIEFE FüR PÄDAGOGEN Informationen und praktische Hinweise für Pädagogen stellt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung regelmäßig auf ihrer Website in Form von Fachbriefen zur Verfügung. Diese erscheinen in unterschiedlichen Reihen, unter anderem zu den Themen „Interkulturelle Bildung und Erziehung“, „Sprachförderung/Deutsch als Zweitsprache“ sowie „Kooperation von Schule und Eltern mit Migrationshintergrund“. In den einzelnen Ausgaben greifen Beiträge aktuelle Fragen aus dem Bereich Schule und interkulturelle Bildung auf oder stellen Best-Practice-Beispiele aus der pädagogischen Arbeit vor. Die Ausgaben enthalten überdies Materialien und Informationen für Lehrkräfte. So geht es im Fachbrief Nr. 5 (März 2010) aus der Reihe „Kooperation von Schulen und Eltern mit Migrationshintergrund“ um die Zusammenarbeit mit Eltern. Beispielhaft werden der Aufbau von Elternklassen,

Elternseminaren und die Erfahrungen mit Elternlotsen an verschiedenen Schulen vorgestellt. Um das Thema „Schule in der Einwanderungsgesellschaft“ kreist auch der einleitende Beitrag des Fachbriefs Nr. 8 aus der Reihe „Interkulturelle Bildung und Erziehung“ (12/2009). Im Mittelpunkt steht hier der Umgang mit (kultureller) Identität und Differenz im Schulalltag. Der Fachbrief verweist ferner auf Materialien für den Unterricht zum Thema Einbürgerung sowie auf eine Medienbox mit 80 Unterrichtseinheiten für Grundschüler.

monatlich Arbeitsblätter für den Unterricht zu einem aktuellen Thema des Zeitgeschehens zum Download zur Verfügung – darunter auch zum Themenbereich Islam und Muslime in Deutschland. Die vor allem für die Oberstufe geeigneten Arbeitsblätter bestehen zumeist aus Zeitungsartikeln, zu denen bereits Fragestellungen und Lernziele für den Unterricht formuliert sind. Angefügt sind jeweils Hinweise auf Quellen im Internet und weitere Beiträge zum Thema. Das Angebot ist kostenlos, lediglich eine Anmeldung auf zeit.de ist erforderlich. Folgende Arbeitsblätter sind erhältlich:

· Geteilte Erinnerung – Deutschtürken und der Holocaust (02/2010) · Angst vor dem Islam (01/2010) · Terrorismus und Sicherheitsgesetze (10/2007) · Diskriminierung von Randgruppen ARBEITSBLÄTTER FüR (5/2007) DEN UNTERRICHT · 5 Jahre 11. September (9/2006) Die Wochenzeitung DIE ZEIT stellt in Zu- · Einbürgerungstest (4/2006) sammenarbeit mit dem Cornelsen Verlag · Ghettokids (12/2005) Die bisher erschienenen Fachbriefe können auf der Website der Berliner Senatsverwaltung heruntergeladen werden.

Herausgeber Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn © 2010 Redaktion ufuq e.v. Dr. Götz Nordbruch, Dr. Jochen Müller Der Newsletter wird im Auftrag der bpb erstellt durch ufuq.de - Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, Lohmühlenstr. 65, 12435 Berlin, E-Mail info@ufuq.de Redaktion bpb Martin Hetterich, Sebastian Kauer (verantwortlich), Christoph Müller-Hofstede Wissenschaftliche Beratung Dr. Michael Kiefer Redaktion 3pc Berke Tataroglu, Sonia Binder, Alexandra Lau Layout 3pc – www.3pc.de Bildnachweise S. 7: privat; S. 1, 2, 4, 13: AP Urheberrecht Alle Beiträge sind, soweit nicht anders angegeben, unter der Creative Commons-Lizenz by-nc-nd/3.0/de lizenziert.

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