Französische Gegenwartsliteratur bei Ullstein

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FRANZÖSISCHE GEGENWARTSLITERATUR bei Ullstein


„FRANCFORT EN FRANÇAIS“

„Francfort en français“ lautet das Motto des diesjährigen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse, und der Besucher darf sich auf ein reiches Angebot freuen, das den Esprit und die Dynamik der gegenwärtigen französischsprachigen Literaturlandschaft zum Ausdruck bringt. Nach den formalen Revolutionen der Avantgarde und der spielerischen Form der Oulipo-Autoren dominierte lange Zeit eine eher konservative Romanproduktion in unserem Nachbarland. Doch inzwischen hat ein Wandel stattgefunden. Eine neue Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern hat die Bühne betreten und die Literaturwelt thematisch wie formal bereichert: Sie stammen nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus seinen ehemaligen Kolonien oder haben Frankreich als Land ihres Exils gewählt. Besonders auffällig und provokant brach um die Jahrtausendwende Michel Houellebecq sowohl mit dem Habitus des Pariser Literaten als auch mit den Schreibutopien von einst. Dass der französische Roman dabei ist, sich weltweit zu öffnen, zeigen aber auch die Bücher von Yasmina Khadra, Alain Mabanckou, Atiq Rahimi, Shumona Sinha und Gaël Faye sowie der vielfach und international ausgezeichnete Autor Mathias Énard. Ebenso verbindet Karine Tuil den klassischen Gesellschaftsroman mit einer Öffnung zur globalisierten Gedankenwelt von heute, während die junge Autorin Sophie Divry auf phantasievollanarchische Weise die Grenzen traditioneller Prosa auslotet. Alexis Ragougneau bietet eine ungewöhnliche Spielart des Krimis, inspiriert vom literarischen „Polar“ einer Fred Vargas,

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bei dem der Plot streckenweise zurücktritt hinter die Schilderung des menschlichen Dramas in einer brutalen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frisch und für immer jung bleibt der Erstlingsroman von Françoise Sagan, Bonjour tristesse, das Kultbuch mit dem sprichwörtlich gewordenen Titel, dessen Autorin so schillernd wie keine andere die verführerische französische Lebensart verkörperte – längst wurde es Zeit, diesen Band in einer Neuübersetzung zu bringen. Es ist spannend, zu verfolgen, wie die französische Gegenwartsliteratur den Balanceakt vollführt, sich der Welt zu öffnen und zugleich die Eigenheiten zu bewahren. Diese Bewegung spiegelt sich im literarischen Programm der Ullstein Buchverlage, das wir Ihnen hier mit Blick auf die größeren Zusammenhänge vorstellen möchten. Der Buchmesseschwerpunkt Frankreich bietet eine wunderbare Gelegenheit, die Bandbreite und Fülle in diesem Umfeld (neu) zu entdecken. Die nachfolgenden Beiträge mögen Ihnen dabei eine hilfreiche Orientierung geben. Marcel Duchamp, Jacques Villon, Raymond Duchamp-Villon in the garden of Villons studio, Puteaux, France, c.1913

Mit herzlichen Grüßen,

Claudia Puls Leitende Lektorin, Französische Literatur

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SOPHIE DIVRY Wirklichkeit, die gar nicht heimliche Heldin französischer Gegenwartsliteratur Die Aberhundert Romane, die alljährlich in Frankreich erscheinen, sind so unterschiedlich wie ihre Autoren, und doch lassen sich seit etlichen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, einige Tendenzen erkennen: Autofiktion – die inzwischen auch in Deutschland Furore macht, mit Christine Angot als Wegbereiterin, Emmanuel Carrère als gefeiertem Großmeister (gewissermaßen das französische Pendant zu Karl Ove Knausgård) und Édouard Louis als jüngstem Neuzugang; Exofiktion – beispielsweise bei Patrick Deville, der mit seinem stetig wachsenden Romanzyklus eine weltumspannende Geschichte der Kolonialherrschaften und Revolutionsbewegungen verfasst, in der nur reale Figuren auftreten; biografische Fiktion – wie sie Jean-Luc Seigle mit seinem Roman Ich schreibe Ihnen im Dunkeln vorlegt, einem Buch über das Leben der berühmten Mörderin Pauline Dubuisson. Außerdem soziologisch grundierte, doch zweifelsfrei literarische Prosa mit stark autobiographischem Bezug, aus so 4 Sophie Divry


SOPHIE DIVRY unterschiedlichen Perspektiven wie der von Annie Ernaux oder Mathieu Riboulet, daneben geradezu klassische Familiengeschichten wie Das Versteck von Christophe Boltanski, Sohn des Soziologen Luc und Neffe des Künstlers Christian Boltanski. Die Fiktionen des vielfach ausgezeichneten Mathias Énard wurzeln nicht nur mit ihren essayistischen Exkursen tief in der vergangenen wie gegenwärtigen Kriegsund Kulturgeschichte, während Karine Tuils Romane sich zu einem differenzierten Sittenbild der französischen Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung fügen. Um die kaum überwindbar scheinende Zerrissenheit dieser Gesellschaft begreifbar zu machen, arbeitet die studierte Juristin Tuil mit starken Gegensätzen und erzeugt so eine verhängnisvolle Dynamik, die nicht nur für atemlose Spannung sorgt, sondern auch viel aussagt über die Sprengkraft sozialer Ungleichheit. Es gibt übermütige Varianten wie Laurent Binets kriminalistische Wissenschaftssatire Die siebte Sprachfunktion, die Roland Barthes als Opfer eines kalkulierten Mordes und Michel Foucault beim Saunagang schildert, oder die abgründige Spiegelung einer Schriftstellerinnenexistenz in Delphine de Vigans jüngstem Roman Nach einer wahren Geschichte – der Titel sagt schon alles. Wirklich? Die Nähe zur Realität, sei sie aktuell oder historisch, persönlich oder gesellschaftlich, bedeutet ja nicht, dass die genannten Autoren ihren Alltag beziehungsweise das Weltgeschehen aus einem Mangel an Vorstellungskraft oder Gestaltungswillen plündern, sondern dass sie daraus mit literarischen Mitteln etwas Neues erschaffen, das uns bei der Lektüre mal unheimlich vertraut, mal aufschlussreich verfremdet erscheint. Beides hat seinen Reiz und birgt, wie bei Karine Tuil, nicht nur Unterhaltungs-, sondern auch Erkenntniswert. 5


SOPHIE DIVRY Wenn manche Schriftsteller sich dabei strenge Regeln auferlegen, etwa Deville, der nach eigenem Bekunden „ausschließlich Romane“ produziert, in denen aber „kein einziges Wort erfunden“ sei, und gleichzeitig eine ungeheuer sinnliche Schreibweise entwickeln, zeugt das von ihrer Sprachmacht. Eine etwas andere Art der Spracherweiterung durch formale Zwänge hat in der französischen Literatur ohnehin Tradition und wurde vom legendären Oulipo-Kreis um Raymond Queneau und Georges Perec mit ansteckender Hingabe praktiziert. Oulipo existiert bis heute und beflügelt auch junge Autoren wie Sophie Divry, die sich in ihrem vierten Buch Als der Teufel aus dem Badezimmer kam allerdings von sämtlichen Zwängen befreit, der guten alten Romanform neues Leben einhaucht und die Wirklichkeit auf ganz eigene Weise in Fiktion überführt. Ihre Heldin heißt Sophie, sie ist Schriftstellerin und wache Beobachterin der politischen und gesellschaftlichen Lage – in all diesen Punkten stimmt sie mit ihrer Schöpferin überein. Im Roman betreibt Sophie jedoch brotlose Kunst, sie ist auf die spärlichen Zuwendungen der Arbeitsagentur angewiesen, die zwischendurch im infernalischen Getriebe der Bürokratie steckenbleiben – und dann müsste eigentlich Schluss mit lustig sein. Aber da zeigt sie sich wieder, die Macht der Sprache, der Phantasie und der Literatur, gerade, als die Heldin keinen Ausweg mehr sieht und, „vom Hunger wahnhaft verstört“ (eine Reverenz an Knut Hamsun), wild zu fabulieren beginnt und ihr persönlicher Dämon Gestalt annimmt. Wenn es sonst nichts zu fressen gibt, nähren und wärmen die Buchstaben, wenn man vor Einsamkeit vergeht, tröstet die Literatur vergangener und heutiger Zeit. So wirksam ist dieser Trost, dass die Buchstaben zu tanzen, die Wörter zu sprudeln beginnen, materielle Armut durch unermesslichen Einfallsreichtum ausgeglichen wird – und die fiktive Sophie sich möglicherweise aus der Brotlosigkeit herausschreiben kann, ganz nach dem Vorbild der realen Sophie. Die wiederum schreibt sich mit ihrer so gewitzten wie witzigen Behandlung eines überaus ernsten Themas in die „Laughterature“ ihres erklärten Vorbilds Raymond Federman ein, eines frühen Virtuosen der Autofiktion, der wie kein anderer für die grenzüberschreitende Faszinationskraft französischer Literatur steht. Patricia Klobusiczky 6


KARINE TUIL Von Liebe und Terror. Karine Tuil über das Ende der Unbekümmertheit Ausschweifend und ausgreifend kommt Karine Tuils Roman „Die Zeit der Ruhelosen“ daher, ein sehr französischer Ehe- und Gesellschaftsroman in ultramodernem Ambiente, mit globalen Schauplätzen und mit Fragen der Zeit, wie man sie in aktuellen Leitartikeln und Gesellschaftsanalysen findet, zur Rolle der Elite, der modernen Technologien in der neuen Geschäftswelt, zu Fragen von Religion und Identität, zum Gegensatz des oberen zum „peripheren“ Frankreich. Gleichwohl bleibt es ein Roman, denn die zerstörerische Kraft der Liebe gilt hier als ebenso groß wie die gesellschaftlichen Fliehkräfte und die Angriffe von außen durch Islamisten, die ihre Vorposten in den Randzonen der Gesellschaft haben. Angesiedelt ist die Story um das Jahr 2007, unter einem Präsidenten der sehr an Nicolas Sarkozy erinnert. Schauplätze sind Paris, die Zentren von Politik (Élysée-Palast) und sozialer Macht (der Industriellen-Treff beim Dîner du Siècle), der Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, wo einst heftige Auseinandersetzungen von Jugendlichen mit der Polizei stattfanden, aber auch die Kriegsländer Afghanistan und Irak. Karine Tuil verarbeitet reale gesellschaftliche Ereignisse und Persönlichkeiten, dabei legt sie großen Wert auf Recherche (etwa über Traumata von Kriegsheimkehrern). Es beginnt auf Zypern, wo sich der Soldat Romain Roller von seinem Afghanistan-Einsatz erholt, bei dem ein Teil seines Kommandos ums Leben kam, andere Kameraden schwer verwundet wurden. Er selbst trug ein seelisches Trauma davon, das ihn dauerhaft aus dem Gleichgewicht bringt. Er kommt ins Gespräch mit der Journalistin Marion Decker. Am Ende einer 7 Karine Tuil


KARINE TUIL kurzen Unterhaltung finden sie sich unversehens im Bett wieder. Der plötzliche und absichtslose, fast absurde Sex ist so intensiv, dass beide destabilisiert werden, wie von einer Droge, von der sie nicht mehr lassen können. Auf fast klassische Weise wird hier eine theatralische Intrige gesponnen: Roller findet seine Balance nicht wieder, findet auch nicht zu seiner Familie zurück, oder nur in einer kurzen Phase. Marion entfernt sich von ihrem Mann, dem reichen Industriellen, der sich Vély nennt, weil er seinen jüdischen Namen Lévy vergessen machen will. Seine zweite Frau hat sich das Leben genommen, als er sie für Marion verließ. Sein Sohn Thibault ist ein Spieler, bis er eines Tages seine jüdischen Wurzeln wiederentdeckt. Unterdessen macht der Vorstadtheld Osman Diboula Karriere in der Politik. Der Sozialarbeiter tat sich bei den Unruhen in Clichy-sous-Bois als Vermittler hervor, was ihm mediale Aufmerksamkeit und den Aufstieg als Vorzeige-Schwarzer ins Zentrum der Macht verschaffte. Osmans Verbindung mit Sonia Cissé, die ihrerseits einen guten Posten im Elysée erhält und im Gegensatz zu Osman Diplome von Eliteschulen vorzuweisen hat, gerät in die Krise. Nur für kurze Zeit erzeugen sie die Illusion, die französischen Obamas zu sein, das neue Powerpaar der französischen Politik. Wir finden viel Selbstreflexion über das Schreiben im Medium der Figur Marion, einer im Grunde ängstlichen Kriegsreporterin, die sozial von François Vély abhängig ist, den sie nicht für Roller verlassen will, wir finden viele literarische Zitate und Bezüge inmitten eines ansonsten atemlosen Erzähltempos. Marions Gatte Vély/Lévy kommt in geschäftliche Schwierigkeiten, ein Deal mit Amerika platzt, ein unglückliches Foto aus seiner großen, erotisch provozierenden Sammlung zeitgenössischer Kunst wirkt sich gegen ihn aus, eine Verleumdungskampagne wird entfesselt, in der er zugleich als Jude und 8 Clichy-sous-Bois


KARINE TUIL als Rassist beschimpft wird. Öffentlich verteidigt ihn einzig Osman, der dank eines Artikels in Le Monde wieder die Aufmerksamkeit der politischen Kaste erweckt. Am Ende verlagert sich das sehr verwickelte Geschehen in den unfriedlichen Irak. Innere und äußere Konflikte fließen in eins, wie in den Tragödien der Leidenschaft bei Racine. Denn auch in diesem modernen Gewand ist die klassische Grundstruktur leicht zu erahnen. Osman leitet eine französische Delegation auf der BagdadMesse, der auch François Vély angehört. Marion begleitet ihren Mann auf dieser gefährlichen Reise. Romain Roller hat inzwischen Frau und Kind und auch die Armee verlassen und bei einem internationalen Wachdienst angeheuert, nun muss er in Bagdad für die Sicherheit der Franzosen sorgen. Die Wiederbegegnung mit Marion, die er vergessen wollte, ist unvermeidlich; zugleich schlägt das Schicksal von außen zu: Ein Trupp Dschihadisten entführt François Vély, der Franzose wird lange gefangen gehalten, grausam gequält (als Jude!) und schließlich vor laufender Kamera geköpft. Ob Roller und Marion später zusammenfinden und endlich zur Ruhe kommen, bleibt offen. Wir sehen lauter prekäre Identitäten, bis hinauf zum Präsidenten persönlich; Geld, Luxus, Komfort, etwas Kokain und guter Sex sind die eigentlichen Werte. Ein Hauch von gesellschaftlichem Verfall liegt über der Szenerie – glücklich ist nur, wer sich darüber hinwegzutäuschen vermag. Dieser Roman ist ein gutes Beispiel für die Ausweitung der Erzählzone in der gegenwärtigen französischen Literatur. Die Autorin, Tochter jüdisch-tunesischer Einwanderer, übernimmt Themen und Probleme, wie sie die Stimmen aus der weiten Welt der „Frankphonie“ eingeführt haben. Das Problemsetting bleibt traditionell französisch, doch die Autofiktion, die so lange en vogue war, wird zugunsten eines krassen Wirklichkeitsbezugs überwunden. Ist es ein Problemroman oder eine Art gehobene Unterhaltungslektüre? Sind die Figuren zu schemenhaft flüchtig gezeichnet oder ist gerade das die heute angemessene, „realistische“ Weise der Darstellung? Darüber lässt sich trefflich streiten, wenn man denn genug Leidenschaft für literarische Fragen aufbringt. Das aber ist eine Voraussetzung für die Annäherung an die neuen Stimmen von der Seine. Manfred Flügge 9


YASMINA KHADRA Ein Berber boxt sich durch. Ein Kolonial-Roman von Yasmina Khadra. 1997 wurde man in Frankreich auf den Namen Yasmina Khadra aufmerksam, Jahre später erfuhr man, dass es sich um einen algerischen Autor mit weiblichem Pseudonym handelt. Mohammed Moulessehoul wurde 1955 in einem Sahara-Dorf geboren. Als er neun war, schickte ihn sein Vater, der in der algerischen Befreiungsarmee gekämpft hatte, auf eine Militärschule, die er als Offizier verließ. Schon mit 18 Jahren hatte er Novellen geschrieben, auf Arabisch. Im Jahr 2000 schied er aus der Armee aus, zog mit seiner Frau und den drei Kindern nach Mexiko, ließ sich 2001 im südfranzösischen Aix-en-Provence nieder, wo er immer noch lebt. Erst als französischsprachiger Autor brachte er es zu Weltruhm. Sein Pseudonym behielt er bei, auch als er keine Rücksichten mehr auf die Verhältnisse in Algerien nehmen musste. Yasmina Khadra sind die beiden Vornamen seiner Frau, sie bedeuten „grüne Jasminblüte“. Khadra versteht dies als eine Hommage an alle algerischen Frauen, die in einem hoffnungslosen Land die Hoffnung wachhalten. Zwischen 2008 und 2014 leitete er auf Bitten des algerischen Präsidenten Bouteflika das algerische Kulturzentrum in Paris, sah dies aber bald als sinnlos an, angesichts der politischen Verhältnisse daheim. Überdies war er längst zum Franzosen und Teilnehmer an innerfranzösischen Debatten geworden. Khadras Werk umfasst mittlerweile über zwanzig Bände, seiner Absicht jedoch, den Rest der Welt mit Algerien vertraut zu machen und darüber hinaus als Vermittler zwischen Okzident und Orient in einer Zeit der schweren Konflikte und Verwerfungen zu wirken, ist er nirgends so nahegekommen wie in dem Roman Die Engel sterben an unseren Wunden. Diese Geschichte eines Berberjungen aus ärmsten Verhältnissen, der um 1937 eine Karriere als Boxer beginnt, nach einer Serie von Erfolgen aber abstürzt, erweist sich in Anlage, Erzählperspektive, Stil und Story als großer Wurf. Turambo nennt sich der Held, was aber kein Name ist, sondern nur die Verstümmelung des Namens der schlichten Siedlung, 10


YASMINA KHADRA

aus der er stammt; sie wurde von den Kolonialherren angelegt und nach Arthur Rimbaud benannt, alsbald jedoch von einem Erdrutsch verschluckt. Die Herkunft bleibt an dem Romanhelden kleben, der ein Held wider Willen ist. Seine (körperliche) Stärke und seine (seelische) Schwäche haben denselben Ursprung, so auch sein Glück und sein Unglück. Er ist ein einfältiger, analphabetischer Berberjunge, der sich streng an muslimische Lebensregeln hält, ein leicht entzündbares Temperament hat und gerne zuschlägt. Sein Hieb, genauer gesagt sein linker Aufwärtshaken, entpuppt sich als gefährliche Waffe. Er setzt sie auch gegen einen unzufriedenen Kunden in der Autowerkstatt ein, der ihn grob rassistisch beleidigt. Dieser Schlag, der ihn seinen Job kosten könnte, eröffnet indes neue Lebensperspektiven. Der Kunde mit dem Luxusauto, das versehentlich verdreckt wurde, gehört zu einem Boxerstall. Und dort wird man durch diese Kostprobe auf das Naturtalent Turambo aufmerksam. Man macht ihm ein Angebot. Boxen als Beruf? In seiner armen, aber stolzen Familie kommt das nicht gut an, sie kann es jedoch nicht verhindern. Der Roman hebt mit dem an, was das Ende sein könnte: Turambo ist zum Tode verurteilt worden, er hat einen Menschen umgebracht, hockt nun in seiner Zelle, von einem Gefängniswärter verhöhnt, und wartet auf den Morgen der Hinrichtung durch die Guillotine, diesem Kulturexport aus der Kolonialmacht Frankreich. Vor der letzten Morgenröte erzählt Turambo in IchForm sein Leben, eine geschickte Perspektiv-Wahl, die wirkliche Einfühlung in einen scheinbar sehr fremden Charakter erlaubt. Dieser Anfang ist auch sprachlich packend: Wir erleben eine klare, kraftvolle Sprache, in kalten kurzen Sätzen, die zuweilen an 11 Yasmina Khadra


YASMINA KHADRA Sozialromane aus den USA erinnern. Man spürt: hier kämpft (und erzählt) einer um sein Leben. Die Sprache ist immer wieder von blumigen Metaphern und Bildern durchwirkt, nicht selten auch von kühnen Wortschöpfungen. Die Geschichte spielt vor 1940, auch das ein gelungener Griff des Autors. Wir verstehen, aus welchen Fernen und Tiefen sich das algerische Volk erheben musste, lange vor den blutigen Jahren des Befreiungskrieges nach 1956. Zugleich verstehen wir dessen Wurzeln besser. Das ist dicht und zügig erzählt, bei aller Ausführlichkeit gehen nie das Tempo und die Härte verloren. Wir empfinden die Demütigungen nach, die Konflikte, das ständige Ringen um

Selbstachtung und Selbstbehauptung, das seine Höhepunkte in den Boxkämpfen findet. Turambo besteht sie alle, ist auf dem Weg nach ganz oben, wird Nordafrikameister und eines Tages vielleicht Weltmeister. Er lernt Strategie und Taktik eines Kampfes, lernt Schläge zu ertragen, und vor allem schafft er es, im richtigen Augenblick den linken Aufwärtshaken anzubringen, seine Wunderwaffe. Zum Absturz bringt ihn die Liebe, die Vorstellung von einem gesicherten Leben mit einer guten Frau. Dafür ist jedoch kein Platz. Er verkauft seinen Körper, genau wie die Prostituierte, in die er sich zunächst naiv verliebt hatte, er ist ein Instrument für Trainer, Sponsoren, Medien. Er wird zum Idol der jungen Algerier, aber er kann nicht leben, wie er es sich wünscht. Frauenideale markieren Turambos Lebensetappen, zunächst Nora, die märchenhaft schöne Kusine, die mit einem reichen älteren Mann verheiratet wird, Aïda, die auf ihn prinzessinnen12


YASMINA KHADRA haft wirkende Prostituierte, deren Status er nicht begreift, und schließlich die ältere Irène, bei der er wahre Liebe findet. Viele Figuren lernen wir kennen, Krämer, Ganoven, Boxmäzene, Prostituierte und ihre Kunden, darunter europäische Polizisten, Politiker, Journalisten, die sozial bunte Welt dieser französischen Kolonie, die herrschenden Vorurteile. Wir sehen die kleinen Orte und die großen Städte des Landes in jener Zeit. Einfühlsam und kunstvoll gelingen Khadra Beschreibungen und Porträts, die alle Distanzen überbrücken. Als Turambo auf Drängen seiner Verlobten Irène das Boxen aufgeben will, überwirft er sich mit seinen Freunden und Förderern. Von da an führt sein Weg stetig bergab, führt in ein Bordell,

wo er einen europäischen Freier ersticht, der Anspruch auf seine ehemalige Geliebte Aïda erhebt, und wird zum Tode verurteilt. Offenbar brachte es der Autor nicht übers Herz, seinen Helden sterben zu lassen: Am Tag der Hinrichtung versagt das Herz des ehemaligen Boxers, er liegt lange im Koma, die Hinrichtung wird abgesagt. Reumütig, körperlich beschädigt, aber hellsichtig lebt Turambo viele Jahre in Kliniken und im Gefängnis, wird sehr alt und ein wenig weise. 1962 wird er begnadigt, im Jahr der algerischen Unabhängigkeit, die von anderen erkämpft wurde, um einen hohen Preis. Am Ende des Lebens verkörpern wir nur noch unsere eigenen bösen Geister, heißt es am Ende, unsere (Schutz)Engel starben längst an unseren Wunden, das heißt: an unseren Schwächen. Und so sind nicht nur die äußeren Umstände Schuld an dem Elend, das man im Leben erfährt. Dieser große, dichte Roman ist kein Buch der Anklage, sondern eines der Hoffnung. Manfred Flügge 13 Adrar Ahnet in Algerien


ATIQ RAHIMI Zeichen und Wunden. Atiq Rahimis Ballade vom Schreibrohr Ein sonderbares Textobjekt wurde in der literarischen Saison 2008 gesichtet. Schon der Titel klang befremdlich: Syngué Sabour – Stein der Geduld. Der Stein, Zuhörer eines langen Leidensmonologs, ist ein männlicher Körper. Die Stimme, die Klage erhebt, ist die einer Frau. Diese Frau wacht neben ihrem Mann, der nach einer Schussverletzung in tiefem Koma liegt, hoffnungslos verloren, aber sie bleibt bei ihm, träufelt ihm süß-salziges Wasser ein, weil das seine Lebenskräfte stärken könnte. Er war ein harter Krieger, wie ihn die Konflikte dieses Landes hervorbrachten, ging mit seiner Frau nicht gerade rücksichtsvoll um. Nun ist er auf sie angewiesen, wird für sie, die sich immer wieder ihrer Haut erwehren muss und deren karge Hütte im Krieg zunehmend zerfällt, zum stummen Stein, dem man nach einem altem persischen Brauch sein Leid klagen kann. Und so erzählt sie die Mühsal ihrer Tage, den Schmerz ihrer Verluste, berichtet von Demütigungen aller Art und der flüchtigen Liebe mit einem jungen Kämpfer. Erst diese Geständnisse bringen den leblosen Körper wieder zu Bewusstsein: Der Mann erwacht und erwürgt die Frau, die ihn gepflegt hat. Eine originelle Form für eine schwer erträgliche Geschichte aus der Feder von Atiq Rahimi, die zur Allegorie für ein geschundenes Land und eine verlorene Kultur wurde – belohnt mit der höchsten literarichen Auszeichnung Frankreichs, dem Goncourt-Preis. Im Vielklang der neuen französischen 14 Kalligraphie von Atiq Rahimi


ATIQ RAHIMI Stimmen, die von außen gekommen sind, ist Rahimi ein besonderer Fall, was auch sein neuestes Buch Heimatballade beweist. Der Autor, zugleich Zeichner, Kalligraph und Filmemacher, stammt aus der persischen Minderheit in Afghanistan. Persisch ist seine Muttersprache, auch die seiner ersten literarischen Versuche, eine Sprache mit einer alten lyrischen Tradition, in der Erzählformen westlicher Art historisch etwas Neues sind. Rahimis jüngstes Werk nun führt zurück zu den lyrischen Ursprüngen dieser ganz anderen Literatur, ja zu den Wurzeln des Schreibens selbst. „Die Ballade vom Schreibrohr“, wie der französische Titel lautet, bietet eine Poetik, ein Prosagedicht und ganz nebenbei einen Hauch von Autobiographie. Sie ist eine poetische Meditation über Exil und Literatur. Erörtert werden die Abgründe, die in jedem Wort stecken, in jedem Buchstaben, und die Schönheit des Schreibens. Kalligraphie ist die Kunst, mit einem schräg angespitzten Schreibrohr (aus Schilf, aus Gänsefedern oder aus Metall) verschiedene Charaktere zu zeichnen und den einzelnen Abschnitten der Zeichen auf dem Papier oder dem Papyros eine je eigene Form und Stärke zu geben. In der griechischen Antike hieß das Instrument Kalamos, auf Arabisch Qualam, auf Französisch calame. Und da es um kulturelle und geographische Herkunft geht, ist die „Ballade des Schreibrohrs“ auch eine Heimatballade. In der islamischen Tradition gilt das Schreibrohr als das edelste Schreibgerät, es wird im Koran erwähnt, wo es sogar heißt, dass Gott zuerst das Schreibrohr schuf und damit ein himmlisches Instrument der Schöpfung. Rahimi erzählt uns also eine Schöpfungsgeschichte, wobei es nicht um die Erschaffung der Welt geht, sondern um das Erschaffen von Erinnerung und Erzählung durch © ??

15 Atiq Rahimi


ATIQ RAHIMI gemalte Zeichen. Es geht um die Erinnerung an die (verlorene) Heimat, um Exil und um Zugehörigkeit, allerdings nicht in Form einer ausschweifenden Erzählung, sondern auf minimalistischer Ebene. Es geht um die Ehrfurcht vor dem elementaren Schöpfungsakt des Schreibens, um das Zittern und Zagen vor der (noch) leeren Seite. Beim Nachdenken über die eigene Furcht vor dem ersten Wort, erinnert sich Rahimi an seine Mutter, ihre große Angst vor den Wörtern und deren magischer Wirkung. Auf diesem Umweg erfahren wir von seiner Familie, von der Flucht aus Afghanistan nach Indien, von der Ermordung des Vaters und des Bruders, von den dreißig Jahren des Autors im Exil - wir erfahren es wie nebenbei, im Zusammenhang mit dem Nachdenken über die Wirkung des Schreibrohrs. Mit feinen, sinnlichen und poetischen Zeichnungen illustriert Rahimi in diesem Essay seine Gedanken und Gefühle. „Kallimorphien“ nennt er seine Bildbeispiele, die meist stark erotisch aufgeladene Körperumrisse von Frauen erkennen lassen. Die persische Buchstabenpoesie wirkt zurück auf die französische Erzählung, die einst fremde Sprache ist für den Autor mehr als ein Mittel zum Transportieren von Inhalt. Sie spiegelt zugleich die gemischte Identität des Autors, im sprachlichen, im kulturellen und sogar im religiösen Sinn. So entsteht ein sehr persönliches Buch, ohne dass der Autor viel preisgibt, alles ist nur angedeutet, wie in den Bildzeichen, die jedoch eine transzendente Energie besitzen, ja von göttlicher Essenz sind. Die Kalligraphie gilt als heilige Kunst. Sie soll das Unendliche durch das Unscheinbare darstellen, das Unsichtbare erfahrbar machen. Das ist fast eine Theologie des Schreibens und Erzählens: Das Gezeigte ist immer nur der Schatten von etwas Unsichtbarem. Aber das richtige Wort und das passende Zeichen wollen gefunden sein; wenn nur ein Wort fehlt, bleibt alles namenlos. Und das ist die Angst des Schreibenden, des Zeichnenden, die auf diesen „losen Blättern“, den Skizzen und den geradezu sezierten Zeichen(teilen) zum Ausdruck kommt. Heimatballade ist keine Erzählung, kein Erinnerungsbuch, kein Ausstellungskatalog, aber es hat Elemente und Züge von all dem; es ist etwas, das vor allem Auserzählten liegt, ein Zurückgehen in den Urzustand. Kurz bevor das Schilfrohr das allererste Zeichen setzt. Manfred Flügge 16


ALEXIS RAGOUGNEAU Abgründig. Spurensuche im Schatten von Notre-Dame Jules Maigret, Nestor Burma, Laviolette, Fabio Montale, Kommissar Llob, Jean-Baptiste Adamsberg, um nur die herausragenden zu zitieren ‒ es sind die Namen unverwechselbarer Ermittlerpersönlichkeiten, die jedem Leser französischer Kriminalromane sofort dramatische Geschichten in Erinnerung rufen, aber auch die mitunter skurrilen Eigenheiten dieser Männer, ihre Vorlieben, Unverträglichkeiten, ihre Methoden bei der Aufklärung eines Verbrechens, ihre kulinarischen Leidenschaften, die dem Vergnügen, das man bei der Lektüre der Romane hat, das besondere Kolorit verleihen. Maigret, legendärer Held der 75 Romane des Belgiers Georges Simenon und Urvater aller späteren Kommissare, ist der bullige Typ mit Pfeife und Melone, der sich mit unerschütterlicher Ruhe und Beharrlichkeit an die Aufklärung eines Verbrechens macht, wobei er sich mehr für das psychologische Motiv hinter der Tat als für die Verurteilung des Täters interessiert. Dabei verlässt er sich weniger auf Ratio und Logik als auf seine Intuition und sein Einfühlungsvermögen ‒ eine Methode, die ein halbes Jahrhundert später von Fred Vargas‘ Kommissar Adamsberg zu poetischer Perfektion entwickelt werden wird. Seit Léo Malets Kriminalromanen um den ebenfalls Pfeife rauchenden Privatdetektiv Nestor Burma rückt Paris als Schauplatz des finsteren Verbrechens in den Fokus des Erzählers. Jeder seiner Nestor-Burma-Romane spielt in einem Pariser Arrondissement, dessen Namen es meist auch im (französischen) Buchtitel trägt. 17 Alexis Ragougneau


ALEXIS RAGOUGNEAU Pierre Magnan dagegen, Provenzale mit Leib und Seele, lässt seine schaurigen Mordfälle ausschließlich in kleinen Orten der Haute-Provence spielen. Sein Ermittler ist der kauzige Kommissar und Genussmensch Laviolette, der seine Trüffel und seinen Bordeaux über alles liebt, buchstäblich also mehr mit dem Bauch als dem Kopf recherchiert. Zur Leitfigur für eine ganz neue Generation französischer Krimiautoren wird seit den 1970er Jahren Jean-Patrick Manchette. „Ein guter roman noir ist ein sozialer, ein sozialkritischer Roman, der sich die Geschichte eines Verbrechens zur vordergründigen Fabel nimmt“, mit diesem Programm begründet Manchette, an die Tradition des amerikanischen Hardboiled-Krimis von Chandler und Hammett anknüpfend, den französischen néo-polar. In dessen Tradition steht auch Jean-Claude Izzo in den abgründigen Romanen seiner „Marseiller Trilogie“. Marseille, insbesondere die Marseiller Altstadt, Schmelztiegel der Kulturen und Heimat vieler in Europa Gestrandeter, werden bei Izzo zum Schauplatz düsterer Verbrechen vor dem Hintergrund eines korrupten Polizeiapparats und der Mafia. Mit ihnen nimmt Inspektor Fabio Montale, der melancholische Einzelgänger, den Kampf auf, „getrieben von unstillbaren Einsamkeiten“ (Tobias Gohlis in: Die Zeit), und muss ihn am Ende verlieren. Die alles überstrahlende französische Krimiautorin der letzten zwei Jahrzehnte ist Fred Vargas, die bei allem Respekt vor den Gesetzen des Genres das stille Moment der Poesie, den Humor und die musique des mots, die Musik der Wörter, in den Polar einbringt. Ihrem Kommissar Adamsberg, dem Einzelgänger mit dem schönen, zerklüfteten Gesicht und dem ewig zerknautschten schwarzen Jackett, gelingen ‒ gegen den Widerstand der Polizeihierarchie, versteht sich ‒ immer wieder spektakuläre Lösungen undurchschaubar gewordener Verbrechen, allein dank seiner Intuition und phantastischen Beobachtungsgabe. Manches 18


ALEXIS RAGOUGNEAU in Vargas‘ Geschichten ist nicht real, ist märchenhaft, jeder weiß es, und doch erliegt jeder ihrer erzählerischen Magie. Jüngster Stern am französischen Krimihimmel nun ist Alexis Ragougneau. Mit nur zwei Romanen, „Die Madonna von NotreDame“ und „Der Tote aus der Seine“, die beide die berühmte Kathedrale zum Schauplatz haben, hat er sich in die Herzen des Publikums wie der Kritik geschrieben. Denn auch dieser Autor hat, bei allem, worin er auf die Tradition zurückverweist, wieder seine ganz eigene, packende Sicht auf die französische Wirklichkeit. An einem Abend vor Ostern wird die Leiche eines Obdachlosen aus der Seine gefischt, eines blutjungen Mannes, dessen Hände und Füße durchbohrt sind wie die des gekreuzigten Jesus, und auch die Einstichwunde unterhalb des Brustkorbs ist da. Derselbe Mouss hatte Monate zuvor, in der Nacht vor Weihnachten, ein gewaltiges Medienecho ausgelöst, als er mit einer Handvoll anderer Obdachloser die Kathedrale von Notre-Dame besetzt, sich in ihr eingeschlossen und ihrer aller Recht auf ein Dach überm Kopf eingefordert hatte. Da die Polizei den nicht zu klärenden Fall bald zu den Akten legt, begibt sich der schmächtige kleine Pater Kern, Aushilfsprediger in Notre-Dame und als Ermittler wider Willen schon aus dem ersten Buch bekannt, auf die Spurensuche in die Unterwelt der Stadt. Mit Geduld, Selbstzweifel und wachsender Erschütterung. Aber nicht das Whodunit ist das Entscheidende in diesem dramatischen Roman (obwohl er am Ende eine überraschende Lösung von geradezu biblischer Wucht bereithält), sondern die geniale Idee, die Passionsgeschichte im Gewand eines Kriminalfalls neu zu erzählen. Und das in einer literarischen Sprache, die die Abgründe des nächtlichen Paris in so grausigen und so schönen Bildern zu evozieren vermag, dass einem mitunter der Atem stockt. Waltraud Schwarze 19 Notre Dame de Paris


FRANÇOISE SAGAN Hochmütig klassisch und ewig jung: Françoise Sagans Erstlingsroman Bonjour tristesse in neuer Übersetzung Michel Houellebecq hat nichts erfunden. Das Lebensgefühl seiner Figuren, spaßsüchtig und leicht angewidert, resolut unangepasst und nur den eigenen Empfindungen folgend, findet sich schon in einem Roman von 1954, den eine damals Achtzehnjährige über eine siebzehnjährige „Heldin“ verfasste. Erfunden hat er auch nicht den Skandal als literarisches Mittel und als Lebensform, die enge Verwandtschaft des Autors mit seinen Figuren, auf dem schmalen Grat zwischen Prostest und Selbstgenuss, und auch nicht die unmittelbare Zeitgenossenschaft des Erzählten. Allerdings steht Houellebecq ganz am Ende einer gesellschaftlichen Periode, der Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit, nach dem Scheitern der privaten Befreiungsideologien. Françoise Sagan stand ganz am Anfang dieser Epoche. Dabei hat sie einen Mythos geschaffen, den vom ungezwungenen Leben an der Côte d’Azur, zwischen Cannes und Saint-Tropez. Genau wie ihr später Nachfolger hat sie mit ihrem Erstling sich selbst zur mythischen Figur gemacht, die das Lebensgefühl aus ihren Romanen verkörpert. Beim Wiederlesen von Bonjour tristesse ist man erstaunt, wie klassisch diese leichte Erzählung daherkommt, der man kaum die gewichtige Bezeichnung „Roman“ anhängen mag. Man denkt an Marivaux und dessen sorglos tändelnde Bühnenfiguren, die am Ende enttäuscht werden, weil sie sich täuschen ließen, man denkt an Musset und dessen kokett vergebliche Warnung Man spielt nicht mit der Liebe. Denn an der Liebe (auch am Sex) hängt die Seele, das Selbstwertgefühl, die Identität, was man im Rausch der entfesselten Gefühle gern vergisst, wenn man glaubt, die Liebe sei nur ein Konsumgut wie andere auch. Auch wenn der Ehrgeiz allein auf Glück, Lust und Freiheit gerichtet ist – das 20


FRANÇOISE SAGAN

Streben nach Exzess und Intensität, ob erfüllt oder nicht, erzeugt nur Melancholie. Und wie in barocken Gemälden lugt über nackten Schultern der Tod ins Bild herein. Sagans Erstling ist durch und durch unmoralisch, und noch seine Moral ist unmoralisch. Durchkommen ist alles, um den Preis eines seelischen Nachbebens, denn auch diese Nuance steckt im vielschichtigen Begriff der tristesse. Der Titel ist einem Gedicht von

Paul Éluard entnommen, erstmals 1932 in dem Band La vie immédiate veröffentlicht, womit das unvermittelte und ungefilterte Leben gemeint ist - auch dieser Titel hätte zu Sagans Roman gepasst. „Adieu tristesse, bonjour tristesse“ hebt das Gedicht an; die Aufforderung, sich nicht zu sperren gegen diese Gefühlstönung, sie vielmehr zu durchleben an Leib und Seele, auch wenn die unwiderstehliche Liebe monströse Folgen hat. Sagans nonchalante Erzählung deutet Éluards Gedicht mit Hilfe einer Geschichte aus, einer modernen Tragödie, und ihr Erzählton findet eine eigene Version der seligen Trauer, die auch aus den Versen Éluards spricht. 21 Françoise Sagan


FRANÇOISE SAGAN

Man muss sich immer wieder in das Erstaunen zurückversetzen, welch reife Leistung dieses Werk einer Anfängerin darstellt. Durch eine perspektivische Verschiebung - sie erzählt etwas, das schon länger zurückliegt - gelingt es ihr, den Eindruck von Abgeklärtheit herzustellen. Die junge Françoise Sagan, die ihr Pseudonym einer Nebenfigur bei Proust entlieh, schrieb auf dem schmalen Grat zwischen klassisch und ganz modern. Was die Liebe ist und was

sie bewirkt, ihre verführerische und zerstörerische Kraft erlebt die Halbwaise Cécile zum ersten Mal. Sie hat einige Jahre in einer Klosterschule zugebracht, bevor sie nun einen Sommer mit ihrem Vater Raymond verbringt, einem reichen Industriellen, der viele Amouren aneinanderreiht. In jenem Sommer spielt er mit der jungen Elsa Mackenbourg, bis plötzlich Anne Larsen auftaucht, eine reife, selbstbewusste und hinreißend elegante Frau, die Raymond für sich gewinnt und schon bald beginnt, sich als Stiefmutter aufzuführen, auf das Verhalten von Cécile einzuwirken, sie zur Vorbereitung auf eine nachzuholende Prüfung anzuhalten. Cécile aber will ihre Freiheit genießen, will eine erste Sommerliebe mit dem jungen Schönling Cyril erleben, will niemanden zwischen sich und ihren Vater drängen lassen, zu dem sie eine seltsam intensive und exklusive Beziehung hat. Sie will Spaß 22 Paris, Tuilerien


FRANÇOISE SAGAN

an der Sünde haben, an der Transgression, frei nach der Maxime von Oscar Wilde, dass allein das Verbotene dem modernen Leben Würze verleiht. Cécile rebelliert gegen Anne und alles, was sie darstellt: mütterliche Sorge, Lebensplanung, Ernsthaftigkeit. Sie spinnt eine bösartige Intrige, instrumentalisiert Elsa und Cyril, um ihren Vater und Anne auseinanderzubringen – mit Erfolg. Anne sieht ihre letzte Chance auf stabile Verhältnisse schwinden, fährt in ihrem Auto davon, stürzt an einer gefährlichen Straße in den Abgrund, lässt alles wie einen Unfall aussehen; sie zerstört ihren Körper, bevor ihn Alter und Enttäuschung zerstören können. Die Autorin skizziert in diesem Roman, der entstand, als der Feminismus noch in den Kinderschuhen steckte, mit leichter Hand mögliche (bourgeoise) Frauenschicksale in verschiedenen Lebensstadien. Emanzipation ist die Ausnahme in diesem Milieu. Aber durch seinen skandalösen Charakter - dass er damals ein Skandalerfolg war, muss man sich erst wieder vor Augen führen hatte der Roman durchaus emanzipatorische Wirkung. Er sprach für eine Generation von Töchtern, die frech und frühreif Lebensetappen überspringen wollten. Sonne, Sand und Saint-Tropez … Reich, sorglos und glücklich leben - ist Françoise Sagan ein Opfer des selbstgeschaffenen Mythos geworden? Einerseits schrieb sie Jahr um Jahr knappe, dichte Romane, deren Titel klassische Anklänge hatten (Dans un mois, dans un an: Racine, Bérénice) oder an Klassik erinnerten (Lieben Sie Brahms?). Andererseits genoss sie Ruhm und Erfolg, schnelle Autos und Drogen, musste sich bis zuletzt Entziehungskuren unterziehen, als ihr Körper bereits ausgezehrt und all ihr Geld aufgebraucht war. Das „charmante kleine Monster“, wie Mauriac sie nannte, schrieb zu viel, zu schnell, und sie konnte sicher sein, dass sich alle ihre Bücher gut verkaufen würden. Sie war ein französischer Exportschlager (wie es Houellebecq heute ist), gehörte zum Mythos des Landes wie Coco Chanel oder Astérix. Aber ihr erstes Werk hat seine Frische und sein Versprechen gehalten, es bleibt für immer jung und apart, eigentlich unübersetzbar wie sein Titel, wie das Lebensgefühl dieser Romanwelt: frivol, verführerisch und ein wenig diabolisch. Manfred Flügge 23


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Sophie Divry

Karine Tuil

Als der Teufel aus dem Badezimmer kam Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky Ullstein Verlag ISBN: 978-3-550-08136-1

Die Zeit der Ruhelosen Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff Ullstein Verlag ISBN: 978-3-550-08175-0

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Françoise Sagan

Titiou Lecoq

Bonjour Tristesse Aus dem Französischen von Rainer Moritz Ullstein Verlag ISBN: 978-3-550-08138-5

Die Theorie vom Marmeladenbrot Aus dem Französischen von Stefanie Schäfer Ullstein Verlag ISBN: 978-3-550-0811-8

Yasmina Khadra

Yasmina Khadra

Die Engel sterben an unseren Wunden Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Ullstein Taschenbuch ISBN: 978-3-548-28880-2

Die Landkarte der Finsternis Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe List Taschenbuch ISBN: 978-3-548-61213-3


Yasmina Khadra

Atiq Rahimi

Die Schuld des Tages an die Nacht Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe List Taschenbuch ISBN: 978-3-548-61022-1

Stein der Geduld Aus dem Französischen von Lis Künzli List Taschenbuch ISBN: 978-3-548-61002-3

Atiq Rahimi

Alexis Ragougneau

Heimatballade Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze Ullstein Verlag ISBN: 978-3-550-08139-2

Der Tote aus der Seine Aus dem Französischen von Olaf M. Roth List Verlag ISBN: 978-3-471-35145-1

Atiq Rahimi

Alexis Ragougneau

Verflucht sei Dostojewski Aus dem Französischen von Lis Künzli List Taschenbuch ISBN: 978-3-548-61163-1

Die Madonna von Notre-Dame Aus dem Französischen v. T. Scheffel/Max Stadler Ullstein Taschenbuch ISBN: 978-3-548-28721-8


Die Beiträger Manfred Flügge lebt als freier Autor, Übersetzer und Literaturkritiker in Berlin. Er schrieb über 20 Bücher, Romane, Essays, Theaterstücke und Biographien, darunter den Bestseller Das Jahrhundert der Manns und der Essay Die Wiederkehr der Spieler. Der französische Roman nach Sartre. Patricia Klobusiczky studierte Literaturübersetzen und arbeitete lange als Lektorin. Seit 2006 übersetzt sie aus dem Englischen und Französischen, unter anderem Werke von William Boyd, Marie Darrieussecq, Stéphane Hessel und Sophie Divry.

Waltraud Schwarze, studierte Romanistin, betreute über viele Jahre im Aufbau Verlag die Literatur aus den romanischen Sprachen und entdeckte Fred Vargas für den deutschen Buchmarkt. Sie lebt als Übersetzerin und freie Lektorin in Berlin. 26


Zu Gast auf der Frankfurter Buchmesse:

SOPHIE DIVRY YASMINA KHADRA ATIQ RAHIMI KARINE TUIL Für Interviews und weitere Informationen wenden Sie sich bitte an unsere Presseabteilung

Christine Heinrich Leitung email: christine.heinrich@ullstein-buchverlage.de Tel.: +49 (0) 30-23 456 433

Fotonachweis: S. 2 Duchamp/Villon gemeinfrei S. 4 Sophie Divry Tim Douet S. 5 Oulipo Grafik Rudolf Müller S. 7 Karine Tuil JF Paga S. 8 Clichy-sous-Bois Wikipedia CC3 Maryanna S. 11 Yasmina Khadra R. Espalieu S. 12 Adrar Ahnet in Algerien Wikipedia CC3 Zossolino S. 14 Kalligraphie Atiq Rahimi S. 15 Atiq Rahimi A. Walker S. 17 Alexis Ragougneau A. Rozes S. 18 Notre Dame de Paris Wikipedia CC2 B. Weber S. 21 Françoise Sagan * S. 22 Paris Tuilerien CC0 Public Domain S. 26 Kalligraphie Atiq Rahimi *Copyright: trotz intensiver Bemühungen war es nicht möglich, den Rechteinhaber ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Rechteinhaber, die Urheberrechte geltend machen möchten, wenden sich bitte an den Verlag.

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FRANCFORT EN FRANÇAIS

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