HAUSARBEIT ZUR ERLANGUNG DES MAGISTERGRADES an der Ludwig-Maximilians-Universit辰t M端nchen
Wissen als industrielle Ressource Die Entwicklung der Gl端hlampe zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgelegt von Georg Rehberger
Fach: Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik Referent: Prof. Dr. Helmuth Trischler
! M端nchen, den 12. April 2012
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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1. Begriffe
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1.1 Wissen
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1.2 Wissensgesellschaft
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1.3 Wissenschaft & Technik
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1.4 Wissen als industrielle Ressource 2. Kontext
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2.1 Elektroindustrie, Gl端hlampenindustrie 2.2 Industrieforschung 2.3 Das Filament Race 3. Wissenstheorien 3.1 Philosophie
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3.2 Wirtschaftswissenschaft 3.3 Sozialwissenschaft
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3.4 Innovationsforschung 3.5 Historiographie
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4. Wissens-Quadranten
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I. Prozess / Persönlich
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II. Persönlich / Objekt
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III. Kollektiv / Objekt
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IV. Prozess / Kollektiv
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5. Fallbeispiel
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5.1 Die Person Coolidge
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5.2 Kultur, Ort und Träger des Wissens 5.3 Das Wissen selbst 5.4 Meta-Wissen
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5.5 Nicht anwendbare Begriffe
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5.6 Erklärungsmacht der Wissenstheorien Zusammenfassung Literaturverzeichnis Appendix
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Einleitung
„You can contract for a bridge according to specifications. […] No one, however, can draw up specifications for scientific discovery. No one can contract to deliver it on a specified day for a specified price. No employee can be hired to produce it in return for wages received.“ Prof. F.L. Nichols über die Zukunft der Wissenschaft, Dezember 1908.1
Noch während Professor Nichols in seiner Rede ausschloss, dass private Forschung zu neuem Wissen führen würde, geschah genau das – William Coolidge gelang im Labor von General Electric, was in der Wissenschaft als unmöglich galt: Er verwandelte das härteste Schwermetall der Welt in einen haarfeinen Draht.2 Erfolgreiche Forschung war damit nicht mehr nur an der Universität zuhause, sondern spätestens ab 1911 auch in der Industrie. Die Zeit um 1900 wird daher als der Beginn der modernen Wissensgesellschaft angesehen. Wo Wissen früher Mystik oder Privileg der Gebildeten war, ist Wissen heute überall: Wir sind Wissensarbeiter in der Wissensindustrie, handeln mit Wissen und besitzen Rechte daran. Wir produzieren Wissen durch Forschung, managen Wissensressourcen im Unternehmen, schaffen wissensgeleitet wunderbare Innovationen und wissen stets, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Diese Proklamationen werden heute in allen Medien ausgegeben und finden sich in der Literatur verschiedenster Disziplinen. Nun einmal angenommen, wir leben tatsächlich in einer Wissensgesellschaft – was heißt das genau? Dass der Mensch etwas weiß, ist keine Neuigkeit, sondern eine anthro1 Prof. Nichols argumentierte im Dezember 1908 in seiner Rede als Präsident der American Association for the Advancement of Science, dass der Ort von Wissenschaft und Entdeckung die Universität sei und bleiben müsse. Er wehrte sich gegen die Idee, Forschung in „autokratischen Organisationen“ wie Unternehmen betreiben zu lassen. Lehre und wissenschaftliche Gemeinschaft seien unverzichtbar bei der Lösung zukünftiger Probleme. Vgl. Science and the Practical Problem of the Future, in: Nature 1909 (79), S. 325–327. 2 Wolfram ist mit einer Mohshärte von 7,5 das vierthärteste chemische Element der Welt und außerdem das Schwermetall mit der höchsten Dichte. Vgl. Eintrag „Wolfram“, in: Harry Binder: Lexikon der chemischen Elemente, Stuttgart 1999.
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pologe Konstante.3 Lebten dann nicht auch die Neanderthaler in einer Wissensgesellschaft? Diese neue Form, in der wir leben, muss also etwas anderes bedeuten, etwas grundsätzlich verschiedenes. Meist wird die Wissensgesellschaft zum Nachfolger der Industriegesellschaft erklärt, Wissen spielt angeblich darin eine besonders wichtige Rolle, die alle frühere Bedeutungen von Wissen überragt.4 Daraus ergeben sich zwei Fragen – erstens: Welches Wissen ist hier gemeint? Welches Wissen also prägt unsere Gesellschaft mit solcher Kraft, dass sein Eindruck alle anderen Geschehnisse und Veränderungen verblassen lässt? Und zweitens: Seit wann leben wir in dieser neuen Wissensgesellschaft? Wann hörte die Gesellschaft auf, Industriegesellschaft zu sein und wurde zu dem, was sie heute ist? Die Anzahl der Autoren in diesem Feld ist ebenso groß wie die der Interpretationen:5 Der Philosoph Jean-François Lyotard etwa verortet den Beginn der Wissensgesellschaft mit der „Informatisierung“, dem Siegeszug der Digitalisierung in den 1980er Jahren. Bereits 20 Jahre früher, 1966, sprach der Soziologe Robert E. Lane von der „knowledgeable society“, die einen Erfolg der wissenschaftlichen Denkweise bedeute. Lane wird damit als Urheber des Begriffes „Wissensgesellschaft“ zitiert, aber auch er legte keinen Anfangspunkt fest. Präziser beantwortet die Historikerin Margit Szöllösi-Janze die Frage nach dem Ursprung. Sie plädiert dafür, den umstrittenen Beginn der Zeitgeschichte auf die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert festzulegen. Als Begründung nennt sie die durchgreifende, allgegenwärtige und alle Bereiche der Gesellschaft und des Lebens durchdringende Verwissenschaftlichung. Somit beginnt unsere Wissensgesellschaft möglicherweise bereits um 1900. Ein Indikator dafür ist laut Szöllösi-Janze die Verwissenschaftlichung der Industrie, sichtbar an der Gründung außerakademischer Forschungseinrichtungen, wie etwa Zentrallaboratorien der Chemie- und Elektroindustrie um die Jahrhundertwende. Die aufkommende Industrieforschung konstituierte damit eine Manifestation der „Diffusion der Wissenschaft in alle Teilbereiche
3 Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 277–313, hier S. 278. 4 Eine umfassende und aktuelle Einführung in das Thema Wissensgeselllschaft findet sich beispielsweise bei Hans-Dieter Kübler, Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen, Wiesbaden 2009. 5
Eine detaillierte Ausführung folgt in Kapitel 2.
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der Gesellschaft“6 und erklärt, wieso Wissen jetzt als „Kapital“, „Ressource“ und „Produktionskraft“ in der Wirtschaft angesehen wird. Wollte man also die Wurzeln der Wissensgesellschaft veranschaulichen, könnte man deren „Kristallisation“ (Szöllösi-Janze) als Industrieforschung einer eingehenden Betrachtung unterziehen. Dazu stünden die aufkommenden Großforschungslabors in den sogenannten „science-based industries“ zur Auswahl; das größte und prestigeträchtigste unter ihnen war das ab 1901 entstehende General Electric Research Laboratory im Bundesstaat New York. Die dünne Forschungsliteratur zum Thema Industrielaboratorien konzentriert sich geographisch auf die USA und Deutschland, thematisch vor allem auf die Forschung in der Elektroindustrie. Besonders der Universalkonzern General Electric steht mit seinem 1901 gegründeten Zentrallabor im Fokus vieler Untersuchungen: Von Lobreden interner Forscher7 und Historiker8 über umfangreiche Biografien des ersten Forschungsleiters Willis R. Whitney9 bis hin zur Untersuchungen der Wurzeln USamerikanischer Industrieforschung10 ist alles vertreten. Die vorhandene Literatur befasst sich hauptsächlich mit der Gründung und der chronologischen Entwicklung des Labors, mit seiner Einbindung im Unternehmen, sowie der Verwaltungspraxis der internen Forschung. Obwohl die Verknüpfung von Industrieforschung mit Wissen und Innovation immer wieder anklingt, gibt es bisher
6 „[…] wissenschaftliches Wissen diffundiert in Politik, Wirtschaft oder Kultur, bis es alle öffentlichen wie privaten Lebensbereiche einschließlich der Intimsphäre durchdringt.“ Szöllösi-Janze, S. 279. Ähnlich drücken sich die Vertreter des „Mode1/Mode2“-Modells aus: „society as a whole has been permeated by science.“ Helga Nowotny et al., Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Oxford 2001, S.3. 7 Als Beispiel sei die Lobrede des Executive Engineers Hawkins zum 40-jährigen Bestehen des Zentrallabors erwähnt; vgl. L.A. Hawkins, The Research Laboratory of the General Electric Company, in: Science 93 (1941), S. 101–102. 8 Kendall Birr, Pioneering in Industrial Research. The Story of the General Electric Research Laboratory, Washington 1957. 9 John Broderick, Willis Rodney Whitney: Pioneer of industrial research, Albany NY 1946; sowie George Wise, Willis R. Whitney, General Electric and the Origins of U.S. Industrial Research, New York 1985. 10 Leonard Reich, The Making Of American Industrial Research: Science and Business at GE and Bell, New York 1985. Vgl. auch George Wise, A New Role for Professional Scientists in Industry: Industrial Research at General Electric, 1900-1916, in: Technology and Culture 21 (1980), S. 408–429, sowie Aaron A. Bright jr., The Electric-Lamp Industry: Technological Change and Economic Development from 1800 to 1947, New York 1949. Außerdem John W. Hammond, Men and Volts. The Story of General Electric, Philadelphia u.a. 1941.
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wenige historiographische Arbeiten, die konkret fragen: Welcher Art war denn dieses Wissen, das in der frühen Industrieforschung zur Innovation führte?11 Ebenso wird die Industrieforschung zwar in die unmittelbare Nähe der Wissensgesellschaft gerückt, konkrete Untersuchungen gibt es dazu aber noch keine. In der Elektroindustrie um 1900 war die Suche nach einem neuen Glühlampenfilament eine Aufgabe höchster Priorität.12 Wer auch immer den Nachfolger der ineffizienten, teuren und unzuverlässigen Kohlefilamente erfände, würde den heimatlichen, vielleicht sogar den internationalen Lampenmarkt kontrollieren. Dieses als „filament race“ bezeichnete internationale Wettrennen um die Innovation der Glühlampe endete 1911 mit der Entwicklung von Wolframdraht. Diese „Schlüsseltechnologie der Glühlampenindustrie“13 markiert zugleich eine Zäsur in der Geschichte der Industrieforschung. Der globale Erfolg des neuen Produktes sicherte den vom Management skeptisch behandelten, neuen Industrielaboratorien Anerkennung und einen festen Platz innerhalb des Unternehmens. Das GE Research Laboratory wuchs ab 1911 merklich an, gewann an Bedeutung und brachte GE Innovation, Profit und Ansehen. William David Coolidge, einem der wichtigsten Forscher bei General Electric, war dieser Coup gelungen: Er hatte mit seinen Kollegen etwas vollbracht, woran seit einem Jahrzehnt alle Erfinder, Forscher und Unternehmer gescheitert waren. Aber welches Wissen hatte Coolidge genutzt? Auf welche Faktoren lässt sich diese beispielhafte Leistung zurückführen? War es tatsächlich die Verwissenschaftlichung der Industrie, also der Einzug „wissenschaftlicher“ Standards, Methoden, wissenschaftlichen Wissens in die Werkstätten der Tüftler? Wurde Coolidge zum Zeugen oder gar zum Medium der „Diffusion von Wissenschaft in alle Bereiche des Lebens“? 11 Eine der wenigen Ausnahmen ist ein Aufsatz von Carlson und Sammis über die Forschung in der Glasindustrie bei der Firma Corning. Die Autoren betrachten R&D dabei aus konzeptioneller Sicht als Geschäftsprozess. Ihr Fokus liegt jedoch auf Wissen im Unternehmen vor der Errichtung eines Zentrallabors. Eine Analyse der Wissensarten auf theoretischer Basis erfolgt nicht. Bernard Carlson & Stuart K. Sammis, Revolution or evolution? The role of knowledge and organization in the establishment and growth of R&D at Corning, in: Management & Organisational History 4 (2009), S. 37–65. 12 Filament, von lat. filum, bedeutet Faser oder Faden. Mit Filament bezeichne ich übergreifend all jene Glühelemente der Lampe, die weder Stab noch Draht sind. Das können verkohlte Bambusfasern oder gebrannte Pasten sein, die durch Spritzen in Fadenform gebracht wurden. Erst wenn aus reinem Metall ein Draht gezogen wird, kann man von einem Glühdraht sprechen. 13 Günther Luxbacher, Massenproduktion im globalen Kartell. Glühlampen, Radioröhren und die Rationalisierung der Elektroindustrie bis 1945 (= Aachener Beiträge zur Wissenschafts- und Technikgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 4). Berlin 2003, S. 454.
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Ich stelle mir im Folgenden zwei spezifische Untersuchungsfragen. Erstens: Welcher Art war das Wissen, das Coolidge zur Entwicklung des Wolframdrahtes nutzte? Dazu untersuche ich verschiedene Typisierungen von Wissen: in Philosophie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in der Innovationsforschung und der Historiographie. Welche Arten von Wissen gibt es, wie wirken sie sich auf Innovation aus und lassen sie sich auf mein historisches Fallbeispiel anwenden? Zweitens frage ich: Wenn klar ist, welches Wissen in der Industrieforschung zu Beginn benutzt wurde – welche Auswirkungen hat dies auf die These der Verwissenschaftlichung der Industrie? Lässt sich zeigen, welchen Anteil die „hineindiffundierende Wissenschaft“ an der Innovationsleistung der entstehenden Industrieforschung hat?
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1. Begriffe 1.1 Wissen Die Literatur zu Wissen ist unglaublich redundant: der durchschnittliche Autor macht sich weder die Mühe, aus der Fülle älterer Werke andere Ansätze zu rezipieren, noch den eigenen Begriff von Wissen klar vorzustellen oder gar zu definieren. Für die folgende Untersuchung ist dies jedoch essenziell: Ich betrachte daher kurz die etymologische Herkunft, Begriffsdeutungen und Gegensätze von Wissen; Da für meine Arbeit die anglo-amerikanische Literatur eine große Rolle spielt, soll knowledge bzw. to know ebenfalls kurz erwähnt werden. Der Begriff des Wissens wandelte sich über die Zeit, zuletzt auch unter dem Einfluss der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, wie das Grimmsche Wörterbuch nachzeichnet: „wissen wird in zunehmendem masze der ausdruck für geistige kenntnisse und erkenntnisse, vor allem seitdem […] wissenschaft mehr und mehr in die objective bedeutung übergeht“ 14 Wenn Wissen also geistige Kenntnis und Erkenntnis ist, dann existiert laut Grimm sowohl „wissen subjectiv als persönlicher geistiger Besitz“, wie auch „wissen objectiv“ als das (absolute) Wissen. Dabei gilt Wissen in beiden Fällen als eine Art Objekt, sprachlich geworden als Substantiv. Das Wissen ist laut dem Grimmschen Wörterbuch erst gebräuchlich im Frühneuhochdeutschen, dort in der Bedeutung „Kunde, Nachricht, Kenntnis“.15 Der Ausdruck „ich weiß“ und damit wissen als Verb ist erheblich früher bezeugt; dieser lexikalische Unterschied deutet bereits auf zwei grundverschiedene Dimensionen des Wissensbegriffs hin: das Objekt Wissen, das man hat oder besitzt, und der Prozess Wissen, der sich etwa im Vorgang des Erkennens zeigt. Das (Er)kennen als Bedeutung sieht man auch am englischen to know: Dessen Herkunft führt das Oxford English Dictionary auf das altenglische cnāwan (erkennen, identi14 Jakob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, überarbeitete und neu strukturierte Auflage 1960, S. 746f. 15 Zwar sei im Mittelhochdeutschen schon ein wizzen belegbar, doch dieser Begriff sei auf mystische Inhalte beschränkt gewesen. Grimm, S. 743–770.
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fizieren) zurück. To know teilt damit eine Indo-Europäische Wurzel zusammen mit dem lateinischen (g)noscere, sowie dem englischen can.16 Vom Kennen ist es zum Können nicht weit – dennoch gilt eben dieser Ausdruck von Fähigkeit und Fertigkeit als kontradiktorischer Gegensatz zu Wissen.17 Andere gegensätzliche Begriffe können je nach Bedeutungskontext sein: Meinung (gr. doxa) als die nicht überprüfte Aussage gegenüber dem theoretischen Wissen; Handeln als der ausführende Teil des inneren Prozesses Wissen; Hoffen als unsicheres Wissen, &c. Die Liste ist unerschöpflich. Ich werde daher in den Kapiteln 4 und 5 ausschließlich die Wissensbegriffe meiner ausgewählten Theorien und Autoren übernehmen, klassifizieren und am historischen Fallbeispiel testen. Diese Begriffe umfassen verschieden Ansätze: von Wissen als Kommunikationsaspekt über Wissen als know-how, bis hin zu Wissen als Formeln, Daten und Tabellen. Mit der Wissensgesellschaft liegt der Fokus vorliegender Arbeit auf Wissen, das im Zusammenhang mit der Innovation der Glühlampe durch William Coolidge entsteht, in Verbindung steht und verwendet wird. Das schließt aus dem Begriffsmeer einige Deutungen von vorneherein aus, etwa Wissen als Wissensbestand der Gesellschaft, Wissen als absolute Wahrheit, Wissen als Wissen um Erlösung, &c. Zunächst werfen wir jedoch einen Blick auf verschiedene Konzepte von Wissensgesellschaft und sehen, welches Wissen darin eine Rolle spielt.
1.2 Wissensgesellschaft Wie der Medienwissenschaftler Hans-Dieter Kübler in seiner Monographie „Mythos Wissensgesellschaft“ ausführt, sind die Begriffe „Informationsgesellschaft“ und „Wissensgesellschaft“ keinesfalls Gegensätze: sie würden meist synonym, bisweilen additiv gebraucht. Wenn eine Unterscheidung gemacht werde, dann stehe Informationsgesellschaft zumeist für eine Technisierung, Wissensgesellschaft für eine umfassende Modernisierung aller Lebensbereiche.18 Der Beginn der Wissensgesellschaft wird ganz unterschiedlich verortet: Die Ansätze liegen bis zu einhundert Jahre auseinander. 1966 spricht der Soziologe Robert E. Lane von einer „knowledgeable society“, in der 16
The Concise Oxford Dictionary of Current English, Oxford 81990, S. 656.
17 Schon Aristoteles unterschied in der Nikomachischen Ethik episteme von techne und damit theoretisches Wissen von praktischem Können. Vgl. etwa Ursula Wolf, Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“, Darmstadt 2002. 18 Kübler, S. 90.
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wir uns endlich befänden und legt damit den Grundstein der Wissensgesellschaft als Begriff.19 Im „technologischen Optimismus der 1960er Jahre“, so Kübler, meinte Lane mit seiner neuen Gesellschaftsform einen Bedeutungszuwachs wissenschaftlichen Wissens zu erkennen, der die Gesellschaft rationell werden lasse. Mit diesem positivistischen Wissenschaftsbild sieht Lane die Welt verbessert, denn Mitglieder dieser knowledgeable society ergründeten ihre Vorstellungen vom Menschen, der Natur &c. aufs Tiefste; sie folgten objektiven, der Realität angemessenen Standards; sie forschten nach Regeln wissenschaftlicher Beweisführung und würden umfangreiche Kenntnisse erwerben, die sie zur Erläuterung, Änderung und Verwirklichung ihrer Werte und Zielvorstellungen benutzten. Lane zufolge befinden wir uns in den 60er Jahren in einer Wissensgesellschaft – wie und wann wir dort hineingekommen sind, erklärt er aber nicht. Laut Hans-Dieter Kübler veranschaulicht diesen Übergang das Fortschrittsmodell, bei dem ein Wechsel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft mit einer Veränderung bzw. Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen verbunden ist: So wird angeblich die monotone Handarbeit und Massenproduktion von „intelligenten und sauberen Jobs“ abgelöst.20 Die durch neue Technologien entstehende „Digitalisierung“ brächte fundamentale Änderung: in der Nutzung, der Vertreibung und der Speicherung von Wissen. Der Philosoph Jean-François Lyotard versah 1982 die westliche Gesellschaft mit der Bezeichnung „informatisiert“.21 Mit den wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen seit 1945, vor allem mit der in den 80er Jahren spürbaren Digitalisierung beginnt für Lyotard der Zerfall der „Moderne“. In der Moderne hätten demnach MetaErzählungen existiert, wie etwa die Marxistische Geschichtstheorie, die nun zerfielen und in der Postmoderne lediglich Einzeldiskurse zurückließen. In der Moderne habe sich auch die Wissenschaft eine eigene Meta-Erzählung erschaffen, nämlich 19 Nico Stehr verfolgt in seiner Monographie Arbeit, Eigentum und Wissen (1994) den Ursprung des Begriffs der Wissensgesellschaft zurück zu dem Soziologen Robert E. Lane. Dessen Aufsatz The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society war 1966 in der American Sociological Review erschienen. Vgl. Stehr, S. 26 sowie Kübler, S. 91. Die Verbreitung des Begriffes Wissensgesellschaft aber wird meist Daniel Bell und seiner Monographie The Coming of Post-lndustrial Society (1973) zugeschrieben. 20 Diese Fortschrittsutopie ist laut Kübler in der aktuellen Literatur selten, aber noch vorhanden. Vgl. Kübler, S. 92. 21 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz u.a. 1986 (Original frz. 1982). Er spricht von einer „Hegemonie der Informatik“, die auch die Form des modernen Wissens mitbestimme, vgl. Lyotard, S. 24.
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das Deutungsmonopol der Rationalität. Die besondere rationale Qualität wissenschaftlichen Wissens sei außerhalb der Wissenschaft letztlich aber nicht legitimierbar, sondern eine unter vielen Wissensformen in einem unter vielen Diskursen. Die postmoderne (Wissens)gesellschaft zeichnet sich nach Lyotard also durch die Skepsis gegenüber Meta-Erzählungen aus und beginnt spätestens in den 1980er Jahren. Um das Ende der 1990er beginnt die Wissensgesellschaft für die Soziologen Michael Gibbons, Helga Nowotny und Paul Scott.22 Sie postulieren einen Umbruch im Modus der Produktion wissenschaftlichen Wissens: von einer autonomen, autarken Akademia als Produktionsort mit klaren Grenzen im „Mode 1“ hin zum Verschwinden der Grenzen (contextualization) und der Fremdbestimmung der Wissenschaft durch die Gesellschaft (reverse communication) im „Mode 2“. Dieser Modus beginne genau jetzt, so die Autoren von „New Production of Knowledge“ (1994) und „Re-Thinking Science“ (2001). Damit ist der Beginn der Wissensgesellschaft durch Mode 2 der späteste – der vielleicht früheste Beginn wird bereits hundert Jahre früher ausgemacht. Die Historikerin Margit Szöllösi-Janze legt den Beginn der Wissensgesellschaft bereits auf die Jahre 1880-1930.23 Ihre Begründung ist die alle Bereiche des Lebens betreffende Verwissenschaftlichung, beispielhaft gezeigt an der Verwissenschaftlichung der Technik, der Wirtschaft und der Politik. Szöllösi-Janze identifiziert eine Anzahl an Soziologen als Vertreter der These von der Wissenschaftsgesellschaft, unter anderen auch Gibbons und Nowotny. Sie schließt sich ihnen an, um das nötige historische Unterfutter beizusteuern, das den soziologischen Thesen noch fehle. Die Vorstellung von der Diffusion der Wissenschaft in alle Subsysteme der Gesellschaft übernimmt sie damit von Systemtheoretikern wie Niklas Luhmann, Nico Stehr und Peter Weingart. Die Diffusion oder Verwissenschaftlichung ist nach Szöllösi-Janze ein sicherer Indikator für den Beginn der Wissensgesellschaft. Sichtbar werde dieses Eindringen der Wissenschaft in die Systeme Wirtschaft und Staat bereits um 1900, beispielsweise an der Gründung außerakademischer Forschungseinrichtungen, wie der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (Verbindung von Wissenschaft und Staat), der KaiserWilhelm-Gesellschaft (Verbindung von Wissenschaft, Staat und Wirtschaft) und den
22 Helga Nowotny, Michael Gibbons und Paul Scott, Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Oxford 2001. Siehe auch die umfangreiche Rezension bei Terry Shinn, The Triple Helix and New Production of Knowledge, in: Social Studies of Science 32 (2002), S. 599–614. 23 Szöllösi-Janze, s. Anm. 3.
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industriellen Forschungslaboratorien (Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft). Die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft belegt Szöllösi-Janze auch mit der Entstehung der „science-based industries“; der Verwissenschaftlichung der Technik durch den „Aufstieg“ der Techniker zum akademischen Level mit einem Diplom der neuen Technischen Hochschulen; der Taylorisierung der Wirtschaft durch Rationalisierung und Maschinisierung der Fertigungsabläufe; und letzlich mit der Technisierung des Alltags, etwa in der Bauhausbewegung, die Hausfrauen als Ingenieurinnen sieht, die über Maschinen und Apparate herrschen. Hauptsächlich wissenschaftliches und technisches Wissen sei es, das die Gesellschaft von da an bestimme, auch wenn andere Formen weiter bestünden. Was genau dieses Wissen besonders macht, erwähnt Szöllösi-Janze nicht; aber die besondere Rolle des wissenschaftlichen Wissens und der Akademiker steht für sie außer Frage. Die „Kristallisation“ dieses Wissens sei demnach in den Forschungslabors der Industrie zu finden und setze durch die Verwissenschaftlichung der Wirtschaft den Beginn der Wissensgesellschaft bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, den andere erst achtzig Jahre später verorten. Insgesamt gibt es also verschiedene Indikatoren für die Wissensgesellschaft: die Annahme rationeller Denkweisen (Lane), der Bedeutungszuwachs wissenschaftlichen Wissens (Stehr), das Infragestellen der Besonderheit wissenschaftlichen Wissens (Lyotard) oder die Ausweitung (Szöllösi-Janze) respektive das Verwischen (Gibbons) der Systemgrenzen der Wissenschaft. Ebenso werden verschiedene Startpunkte der Wissensgesellschaft definiert: um 1900, um 1960, 1980 oder 2000. Je nachdem, welchem Begriff man folgt, muss man andere Aspekte von Wissen und Gesellschaft untersuchen. In einem Punkt aber sind sich alle Autoren einig: Wissenschaftliches Wissen spielt die dominante Rolle in der Wissensgesellschaft. Sei es als bestes, einflussreichstes, seiner Einzigartigkeit wegen kritisiertes oder Systemgrenzen überschreitendes Wissen; nur wissenschaftlich muss es sein. Was genau ist damit nun gemeint? Die genannten Autoren hüllen sich diesbezüglich in das Schweigen der Selbstverständlichkeit. Wissenschaftlich – der Name suggeriert bereits, dass es Wissen aus und in der Wissenschaft sein muss, also Wissen der Biologie, Physik, Psychologie und allen anderen Disziplinen, die sich als wissenschaftlich bezeichnen. Oder gibt es dabei Unterschiede? Wie der Innovationsforscher des Fraunhofer-Institutes Ulrich Schmoch aufzeigt, gibt es sehr wohl bevorzugte Disziplinen, die „Wissenschaft“ in der Literatur implizit vertre13
ten.24 Dabei fällt auf, dass immer wieder von „wissenschaftlich-technischem“ Wissen die Rede ist. Gilt es hier zu differenzieren? Was genau macht dann Wissenschaft, was Technik aus?
1.3 Wissenschaft & Technik Die Definition und Unterscheidung von Wissenschaft und Technik ist wohl eher eine Aufgabe für Wissenschaftstheoretiker und -philosophen; trotzdem ist sie für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung. Wenn nämlich das Wissen der Wissensgesellschaft ein wissenschaftliches ist, was bedeutet das konkret? Was ist mit diesem Wissenschaftsbegriff gemeint? Könnte er sich nicht auf ein möglicherweise falsches Verständnis von Wissenschaft und Technik beziehen? Bevor ich die Arten von Wissen der einzelnen Autoren betrachten kann, gilt es zunächst die Grundlagen zu klären, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen werden wird. Was also ist Wissenschaft, was ist Technik und was unterscheidet die beiden Begriffe? Ulrich Schmoch definiert Wissenschaft in drei Bedeutungsdimensionen: Wissenschaft vereine (1) die systematische Genese neuen Wissens, (2) den systematisch organisierten Bestand wissenschaftlichen Wissens und (3) die soziale Organisation der Wissenschaftler. Er zitiert den Wissenschaftstheoretiker Helmut Seiffert mit einer entwaffnend einfachen Definition: „Wissenschaft ist dort, wo diejenigen, die als Wissenschaftler angesehen werden nach allgemein als wissenschaftlich anerkannten Kriterien forschend arbeiten.“25 Schmoch weist darauf hin, dass Technologie oftmals als eigenständige Definition nicht berücksichtigt werde, etwa von den Systemtheoretikern. Diese listeten zwar Wissenschaft als ein Subsystem von Gesellschaft, Technologie aber bekäme kein eigenes System zugestanden.26 Die Definition von Technologie lautet nach Schmoch ähnlich 24 Schmoch kritisiert die Klassifizierung von Wissenschaft in „angewandt“ und „rein“. Akademische Forschung werde als „rein“, Industrieforschung dagegen als „angewandt“ gesehen. Wenn von Wissenschaft die Rede ist, sei meist implizit die „reine“ Wissenschaft gemeint: empirische Untersuchungen zur Wissenschaftstheorie etwa suchten sich als Untersuchungsobjekt immer die „reinste“ Wissenschaft heraus, meist theoretische Physik; vgl. Ulrich Schmoch, Hochschulforschung und Industrieforschung. Perspektiven der Interaktion, Frankfurt 2003, S. 27. 25 Ibid., S. 26 26
14
Ibid., S. 63
wie die der Wissenschaft; ebenfalls in drei Dimensionen bedeute Technologie: (1) die systematische Genese neuen Wissens über Technik(en), (2) den systematisch und unsystematisch organisierte Bestand an Wissen über Technik(en) und (3) den Komplex von Wissen und Technik, also wissensbasiertes Handeln bei der Erzeugung und Nutzung sachlicher Artefakte.27 Hier wird bereits eine klares Unterscheidungsmerkmal der Technik deutlich, nämlich der Fokus auf sachliche Artefakte. Was nun dieses Wissen genau ist, das in der Wissenschaft systematisch generiert werde, das bleibt unklar. In Kapitel 4 werde ich darauf zurückkommen. Die Definition von Wissenschaft als Ort und Selbstbild von Mitgliedern dieser Gruppe ist bewusst unscharf gehalten, ist doch das Feld der wissenschaftlichen Disziplinen mittlerweile unüberschaubar geworden. Für Wissenschafts- und Technikhistoriker ist es heute keine Neuigkeit, dass Wissenschaft keine homogene, objektive Gruppe darstellt und dass wissenschaftliche Fakten keinesfalls wie reife Früchte herabfallen, sondern immer in einem zeitlichen, räumlichen und sozialen Kontext konstruiert werden.28 Autoren wie Bruno Latour, HansJörg Rheinberger, Steve Shapin und andere haben in den letzten Jahrzehnten die soziale und kulturelle Abhängigkeit der Wissenschaft betont; dass dies jedoch keine selbstverständliche Sichtweise ist, zeigt die Innovationsforscherin Wendy Faulkner am wandelbaren Verständnis von Wissenschaft und Technik.29 So existierte lange ein „lineares Modell“, das die Erfindung (Invention) in der Wissenschaft verortete und als Ursprung der Innovation in der Technik festlegte. Dieses Modell wurde von Derek de Solla Price und anderen ab den 1960er Jahren kritisiert. E.T. Layton etwa argumentierte 1988 am historischen Beispiel der Dampfmaschine, dass Technik durchaus der Wissenschaft vorangehen konnte und es auch tat. Die Wissenschaftssoziologen Gibbons und Johnson zeigten 1982 am Beispiel des Transistors, dass Theorie Innovation zwar ermöglicht, nicht aber suggeriert und erst recht nicht erzwingt. Solla Price stellte 1965 sein Alternativmodell vor, in dem Wissenschaft und 27
Ibid., S. 40.
28 Die Konstruktion wissenschaftlicher Fakten erläutert etwa Jan Golinski: Making Natural Knowledge, Cambrige 1998. Zu den sozialen Faktoren in Wissenschaft und Wahrheit vgl. auch Steven Shapin: A Social History of Truth, Chicago 1994. 29 Wendy Faulkner, Conzeptualizing Knowledge Used in Innovation: A Second Look at the Science-Technology Distinction and Industrial Innovation, in: Science, Technology & Human Values 19 (1994), S. 425–458. Die folgende Darstellung orientiert sich an Faulkners detaillierten Ausführungen.
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Technik nicht linear voneinander abhängen, sondern sich parallel entwickeln – in zwei Strömen (two-streams). Später ergänzte Solla Price sein Modell um die „Instrumentalities“, also die Fähigkeit, Labormethoden und -geräte zur Forschung einzusetzen. Das sei etwa die Fähigkeit Rosalind Franklins gewesen, mit Röntgenstrahlen Kristallbilder zu erzeugen; so habe sie erst die „Entdeckung“ der DNA-Struktur durch Watson und Crick ermöglicht. Diese Instrumentalities könnten nach Solla Price in beiden Strömen parallel zu Innovationen führen. Eine starke Kopplung der Ströme sieht Faulkner bei der Herausbildung neuer Technologien; Disziplinenbildung sei wie Innovation und Wachstum der Wirtschaft zu Beginn „wissensgeführt“.30 Die starke Verbindung von Wissenschaft und Technik im 20. Jahrhundert habe ihre Wurzeln in der „Forschung und Entwicklung“, wo Wissenschaft und Technik zusammenflössen. Ein linearer Fluss von Wissenschaft in die Technik ist also ein überholtes Modell, das historisch nicht haltbar ist. Technik scheint mehr eine eigenständige Entität zu sein, parallel zur Wissenschaft gelagert und mit ihr durch wechselnde Kopplungen verbunden. In der „Verwissenschaftlichung der Technik“, von der Szöllösi-Janze spricht, ist der Eindruck von Wissenschaft auf Technik dennoch überwältigend. Ist die Technik letztlich doch nur Rezipient? Robert Bud und Susan Cozzens zufolge nicht: die Soziologen zeigen 1992 umgekehrt die „Technisierung“ von Wissenschaft. Demnach findet eine starke Spezialisierung der Wissenschaftler statt, bei der der hochkompliziertes technisches Equipment und Instrumente eine tragende Rolle spielen.31 In gewisser Weise sind Wissenschaftler damit Nutzer technischer Geräte, mit denen sie wissenschaftliche Fakten „produzieren“. Hans-Jörg Rheinberger spricht etwa von „Experimentalsystemen“, also einer Ansammlung von Geräten, Praktiken und Symbolen, die auch unabhängig von der wissenschaftlichen Theorie eine große Rolle für die Wissenschaft spielten.32 Wenn nun eine Technisierung von Wissenschaft stattfindet, und Szöllösi-Janze ihre These von der „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ um 1900 hauptsächlich mit der Akademisierung der Technik und der Technisierung von Wirtschaft und Archi-
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Faulkner, S. 428.
31 Robert Bud und Suzan Cozzens, Invisible Connections: Instruments, Institutions and Science, Bellingham 1992, vgl. etwa S. 16. 32 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme, Experimentalkulturen, Wissenschaftsgeschiche, in: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 1 (1994), S. 69–83; vgl. Mitchell Ash, Räume des Wissens, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3 (2000), S. 235–242, hier S. 235.
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tektur belegt – wo bliebe die klare Trennung von Wissenschaft und Technik? In der rationellen Methodik? Diese Frage zu klären, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen; festzuhalten bleibt jedoch: Wenn Szöllösi-Janze von „Verwissenschaftlichung“ spricht, zeichnet sie damit de facto ein Bild der Technisierung. Im Übrigen scheinen die Grenzen zu verfließen: Faulkner zeigt, dass Wissenschaft und Technik zwar zwei semi-autonome Aktivitäten darstellen, mit den Instrumentalities als Übergangsbereich, dass diese Aktivitäten aber stark verbunden sind und sich gegenseitig immer wieder durchdringen;33 Bruno Latour spricht 1987 von „Technoscience“ als neuer Form, scharfe Trennungen scheinen nicht zu existieren.34 Otto Mayr schlussfolgert, man könne grob Wissenschaft als Verstehen der Natur durch Produktion von Wissen bezeichnen, Technologie dagegen als Kontrolle über Natur durch Produktion von Artefakten. Diese Unterscheidung sei jedoch lediglich semantischer Art und spiegle sich nicht zwangsweise in der Praxis.35 Dagegen argumentiert der Technikhistoriker Walter Vincenti für eine sichtbare Trennung.36 Er begreift die Ingenieurswissenschaften (Engineering) als Vertreter der Technik, und die praktische Artefaktorientiertung von Technik als Alleinstellungsmerkmal. Zwar gebe es starke Einflüsse der Theorie und experimentellen Methode, die zentrale Aktivität der Technik sei aber weiter die Herstellung von Artefakten; die Ingenieurskunst, die praktische Intuition, dominiere noch immer Berechnung und Analyse. Weil in der Technik die Replizierung von Experimentent eine geringe Rolle spiele, sei im Kontrast zum angeblich universellen Wissen der Wissenschaft das tacit und local knowledge weitaus bedeutender. Das Artefakt und seine Produktion seien wichtiger als Theorien, denn Fehler im Artefakt seien ungleich verheerender als im Experiment. Dennoch sei Theorie in den Ingenieurswissenschaften sehr wohl vorhanden – aber auf einem Spektrum zwischen Wissenschaft und Technik. Damit sei die Methodologie der Ingenieure zwar ähnlich, aber nicht gleich der von Wissenschaftlern. Vincenti nennt als technologische Methoden etwa die experimen-
33 Faulkner, S. 429. 34 Bruno Latour, Science in Action: How to follow scientists and engineers through society, Milton Keynes 1987; vgl. etwa S. 162. 35 Otto Mayr, The science-technology relationship, in: Barry Barnes und David Edge (Hg.), Science in Context: Readings in the Sociology of Science, Milton Keynes 1982, S. 155–163. 36 Walter Vincenti, What engineers know and how they know it: Analytical studies from Aeronautical history, Baltimore 1991, hier S. 254; vgl. Faulkner, S. 431.
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telle Parametervariation, Modelltests, spezielle und limitierte Theorien, „large-scale“ Tests und andere. Trotzdem hätten Technologie und Wissenschaft natürlich eine große Überschneidungsmenge, etwa die Naturgesetze und die jeweilige Organisation als kumulative „Wissenskörper“ mit gleichen Diffusionsstrategien; beides seien also professionelle Gruppen mit differenzierten Disziplinen.
Wissenschaft und Technik umfassend zu definieren ist für diese Arbeit nicht notwendig – die klare Trennlinie zwischen beiden zu aufzuzeigen dagegen schon. Diese tritt deutlich hervor bei der Produktion von Artefakten, einer unbestritten technologischen Domäne. Die Erklärung von Sachverhalten ist dagegen scheinbar eher Aufgabe der Wissenschaft. Wissen jedoch gibt es in beiden Bereichen – wenn auch noch nicht klar wurde, in welcher Form. Neben Wissen in der Wissenschaft und in der Technik ist Wissenschaft in der Wirtschaft ein prominentes Thema der Debatte um die Wissensgesellschaft: wenn etwa von „wissenschaftsbasierten Industrien“ die Rede ist oder von „Wissen als Produktionsfaktor“. Was bedeutet das?
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1.4 Wissen als industrielle Ressource Als eine Manifestation der Wissensgesellschaft ist immer wieder von Wissen als Ressource oder viertem wirtschaftlichem Produktionsfaktor die Rede – neben Boden, Arbeit und Kapital.37 Damit wäre eine Form des in der Wissensgesellschaft so bedeutenden Wissens die einer wirtschaftlichen Ressource, mit deren Hilfe Produkte entstehen. Also wird Wissen mithin nicht als Produkt, sondern als Rohstoff für industrielle Produkte verstanden. Ein „Rohstoff“ ist laut dem Grimmschen Wörterbuch einfach ein „roher, unverarbeiteter Stoff, aus dem eine Ware gefertigt wird“.38 Laut der Brockhaus-Enzyklopädie werden Rohstoffe vom Menschen angeeignet und gezielt genutzt. Dabei ist zwischen regenerierbaren (Holz, Getreide) und nicht-regenerierbaren Rohstoffen (Mineralien) zu unterscheiden. Die Exploration, Erschließung und Förderung setzt meist Investitionen in erheblichem Umfang voraus.39 Wenn General Electric eine Schlüsseltechnologie produziert, kann dann der Rohstoff dafür Wissen sein? Vielleicht ist dies der entscheidende neue Faktor, der SzöllösiJanze von der „Verwissenschaftlichung der Industrie“ reden lässt: dass nun Wissen als Ressource in der Industrie neue Produkte ermöglicht? Ich werde daher in meiner Arbeit von der Analogie „Wissen = Ressource“ ausgehen, um die Arten von Wissen in der Innovation der Glühlampe aufzuzeigen: Wissen wurde, wie ich zeigen werde, offensichtlich gezielt exploriert und genutzt, und mit erheblichen Investitionen zu sichern versucht. Dazu werde ich im Folgenden den Kontext der Innovation skizzieren, den Verlauf aufzeigen und letztlich die Wissensarten darin untersuchen.
37 Bereits Marx spricht in den Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie 1857 davon, dass „das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist“, zit. nach Lyotard, S. 24. Meist ist die Rede von der „gesellschaftlichen Ressource“ Wissen, etwa wenn Maasen statiert: „Neben Geld und Macht gilt Information, Wissen und Expertise nun als eine gleichberechtigte Ressource gesellschaftlicher Reproduktion.“ Sabine Maasen, Wissenssoziologie, Bielefeld 1999, S. 60; zit. n. Kübler, S. 94. 38
Grimm, S. 1135.
39
Artikel „Rohstoffe“, in: Brockhaus-Enzyklopädie Bd. 18, Mannheim 1992, S. 484–486.
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2. Kontext 2.1 Elektroindustrie, Glühlampenindustrie Das Untersuchungsobjekt dieser Arbeit liegt, wie wir nun gesehen haben, bei den Ursprüngen der Wissensgesellschaft. Immer wieder werden die science-based industries als Heimat der Industrieforschung genannt, speziell die Chemie- und die Elektroindustrie.40 Zur Forschung in der Chemieindustrie im 19. Jahrhundert gibt es wenige Arbeiten: John Beer und Georg Meyer-Thurow untersuchten beide die Firma Bayer in Gelsenkirchen und fanden heraus, dass dort in der Tat Pionierarbeit auf dem Feld des industriellen Forschungslabors geleistet wurde.41 Bereits in den 1890ern schuf Bayer ein Zentrallabor, das ein Dutzend Forscher beherbergte und war damit nach heutiger Erkenntnis die erste Firma mit einer hauseigenen industriellen Großforschung.42 Durch die immer weiter wachsende Industrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs auch die Konkurrenz – zudem wurde es schwieriger, als Färber oder Kaufmann selbst neue Farben zu entwickeln; besser wurde das oft von Chemikern erledigt. Man suchte den Rat der Akademiker, zahlte ihnen Extragehälter, um sie als Berater kurzfristig an die Firma zu binden. Auch versuchte man, Forschungsaufträge an die Universität zu vergeben, indem man großzügig finanzierte – um die erforschten Verbindungen als Farben dann für sich zu nutzen. Bayer machte auch zögerliche Versuche, sich eigene Akademiker als permanente Forscher ins Haus zu holen. Doch dieses Experiment ging mehrfach schief. Das ändert sich 1890, als ein junger Chemiker von Bayer angeworben wurde und sich als besonders talentiert herausstellte: Carl Duisberg. In den folgenden Jahren baute er 40 Vgl. etwa Paul Erker, Die Verwissenschaftlichung der Industrie. Zur Geschichte der Industrieforschung in den Europäischen und Amerikanischen Elektrokonzernen 1890–1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 25 (1990), S. 73–94, hier S. 79. 41 John Beer, Coal Tar Dye Manufacture and the Origins of the Modern Industrial Research Laboratory, in: ISIS 2 (1958), S. 123-131. Georg Meyer-Thurow, The Industrialization of Invention: A Case Study From the German Chemical Industry, in: ISIS 73 (1982), S. 363–381. 42 Die tatsächlichen Pioniere waren laut Beer die BASF und die späteren Höchst-Werke. Sie besaßen eine hauseigene Forschung bereits in den 1860ern – jedoch lässt die Quellenlage keine Untersuchung dieser Firmen zu, daher kann nicht mit Sicherheit von einer Großforschung bei BASF oder Höchst gesprochen werden. Bayer verfügte damit de facto über das erste nachgewiesene industrielle Großforschungslabor. Vgl. Beer, S. 125.
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sukzessive eine eigene Forschungsabteilung im Hause Bayer auf, schuf Konzepte und Rahmenbedingungen für einen zukünftige Industrieforschung und stieg im Unternehmen bis in den Vorstand auf.43 Ein Musterbeispiel für die Entwicklung der Industrieforschung – wären da nicht die kleinen Mängel. John Beer beschreibt die Lage der Quellen als fast hoffnungslos. Unter vielen Chemie- und Färbemittelfirmen sei Bayer die einzige gewesen, deren Quellen man habe auswerten können.44 Wie viele Forscher genau angestellt waren könne man zwar sagen, aber über deren Aufgaben, genaue Forschungen und über die Koordination der Forschungsanstrengungen sei man nicht im Bilde. Zum Forschungsinhalt könne man jedoch sagen, dass es bei Bayer keine Grundlagenforschung gab und nur wenige längerfristige Forschungsprojekte unternommen wurden. Die Hauptaufgabe blieb das routinemäßige Testen möglicher Farben in großem Maßstab und mit hoher Genauigkeit in den Labors von Bayer, sowie die Überwachung der Produktion. Neue Farben suchte man in dieser Industrieforschung nur vereinzelt und Innovationen sind so gut wie keine bekannt.45 Zur Elektroindustrie um 1900 sieht die Quellenlage besser aus, bleibt aber dünn.46 Hauptsächlich die großen, den Markt dominierenden Firmen wurden untersucht, in meinem Fall die Glühlampenkonzerne: Siemens & Halske, AEG und die Deutsche Auer-Gesellschaft (DGA) in Deutschland, Auer von Welsbach in Österreich, Philips in den Niederlanden und Westinghouse und General Electric in den USA. Ich beziehe mich hier vor allem auf die Werke von Leonard Reich, George Wise, Aaron Bright und Günther Luxbacher; ihre Untersuchungen reichen von einer Übersicht über die Elektroindustrie um 1900 über Forscherbiografien bis hin zu detaillierten Studien der technischen Entwicklungen. In allen Werken spielt General Electric eine große Rolle: Der Mega-Konzern war 1892 aus der Fusion von Thomas Edisons Firma Edison Light Works mit dem Konkurrenten Thomson-Houston entstanden.47 GE verfügte bald über eine breite Produktpalette sowie internationale Tochtergesellschaften, darunter auch die Deutsche Edison-Gesellschaft, später AEG. Mitte der 1890er war ein langwieriger Patentstreit beigelegt worden mit dem einzigen Gegner in GEs Größenordnung, 43
Beer, S. 126–129.
44
Ibid., S. 125.
45 Ibid., S. 130f. 46 Erker nennt die Geschichte der Industrieforschung „wenig untersucht“. Er listet eine umfassende Auswahl der internationalen Literatur. Vgl. Erker, S. 74, Anm. 4. 47 Reich, S. 47f.
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der Firma Westinghouse. Nun drohte das Geschäft mit dem Hauptprodukt wegzubrechen. Der Patentschutz von Edisons Kohlefilamentlampe lief 1894 aus, und das war nicht das einzige Problem: das konkurrierende Modell der elektrischen Glühlampe, das Gaslicht, war nicht wie erwartet ausgestorben, sondern strahlte mit der Erfindung des Gasglühstrumpfes durch Carl Auer von Welsbach heller denn je. Die technische Lösung der elektrischen Beleuchtung war zudem unbefriedigend. Das Filament aus verkohlter Bambusfaser bezeichnet Reich als „too small, too red, too hot“. Der Lichtradius war zu klein, das Farbspektrum zu rot und die Umwandlung von Energie in Licht zu schlecht. Kurzum, man suchte fieberhaft nach neuen Materialien für die elektrische Beleuchtung.48 1911, mehr als 15 Jahre später, sollte GE letztlich darin Erfolg haben: William David Coolidge entwickelte den ziehbaren Wolframdraht, laut dem Technikhistoriker Günther Luxbacher das „Schlüsselverfahren der modernen Glühlampenindustrie schlechthin“.49 Coolidge schuf damit die Grundlage für die Technologie hochschmelzender Metalle und brachte GE an die Weltspitze der Elektroindustrie, inklusive einem soliden Patent- und Marktmonopol.50 Der Erfolg der Labormannschaft um Coolidge rettete das erste industrielle Großforschungslabor Amerikas vor der Schließung und schuf damit die Grundlage für den zukünftigen Erfolg der Forschung in der US-amerikanischen und internationalen Industrie.51 Bevor ich das Wettrennen um die neue Glühlampentechnik und die damit verbundenen Inventionen und Innovationen darstelle, möchte ich zunächst auf das Konzept der Industrieforschung eingehen, wie ich sie hier behandle: Was heißt Industrieforschung und welche Art von Forschung wurde im General Electric Research Laboratory betrieben?
48 Ibid., S. 62–64. 49
Luxbacher, s. Anm. 13.
50 Sowohl GE als auch S&H waren bereits dominante Großkonzerne bevor sie eine interne Forschungsabteilung aufbauten. Dies erforderte große finanzielle Mittel und Risiken, die sich kleinere Firmen nicht leisten wollten oder konnten. Ein internes Großforschungslabor war kein Allheilmittel – trotzdem wirkten sich die Forschungslabors spürbar auf den Erfolg der jeweiligen Firma aus. 51 Luxbacher, S. 454–462.
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2.2 Industrieforschung Industrieforschung ist Forschung in oder für die Industrie und damit nach Ulrich Schmoch „Handeln mit der Absicht der Wissenserzeugung“. Forschung ist als systematische Wissensgenese ein Teil von Schmochs Definition von Wissenschaft.52 Forschung wird in der Literatur meist unterteilt in „angewandte“ und „grundlegende“ Forschung, oft analog zum Wissenschaftsbegriff. Im sogenannten „Frascati-Handbuch“ der OECD findet man eine brauchbare Definition dieser Unterteilungen.53 Die überarbeitete und verbesserte Version von 1994 unterscheidet verschiedene Arten von Grundlagenforschung, daneben angewandte Forschung und Entwicklung: 54 1) basic research: experimental / theoretical work to acquire new knowledge of the underlying foundation of phenomena and facts, — pure basic research: for the advancement of knowledge, without working for long-term economic/social benefits and with no positive efforts to either apply results to practical problems or to transfer them to responsible sectors to apply them. — oriented basic research: expectation of broad base of knowledge to form the background to the solution of current or future problems or possibilities. 2) applied research: investigation to acquire new knowledge, directed a specific practical aim or objective; 3) experimental development: systematic work, drawing on existing knowledge, directed to producing new materials/products/devices or installing new processes/systems/devices or improve substantially those already produced. Dabei gilt der Begriff der Entwicklung laut Schmoch hauptsächlich für die Technik, die Forschungsbegriffe aber für alle Wissenschaften.55 Industrieforschung wird als „Forschung und Entwicklung“ (F&E) bezeichnet, stellt also eine Kombination der Definitionen von research und experimental development dar: 52 Schmoch, S. 36. 53
Schmoch, S. 37.
54 oecd (Hg.), Frascati Manual – Proposed Standard Practice for Surveys on Research and Experimental Development, Paris 1994, S. 69; zit. n. Schmoch, S. 37. 55 Schmoch, S. 37.
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„creative work on systematic basis to increase the stock of knowledge […] and to use it to devise new applications“.56 Damit ist Industrieforschung schon per definitionem eine Kombination aus Wissenschaft und Technik: Suche nach neuem Wissen, dessen Aufbereitung und Anwendung. Leonard Reich definiert Industrieforschung weniger über die Zielsetzung, sondern mehr über Ort und Struktur der Forschung in der Industrie: Um von einem industriellen Forschungslabor sprechen zu können, müsse es eine räumliche Trennung von Labor und Produktion geben, die Forschungsstätte sollte also isoliert liegen. Die Forscher seien sowohl Wissenschaftler als auch Ingenieure, und würden für langfristige Projekte angestellt, mit dem Zweck, ein tieferes Verständnis der firmenverwandten wissenschaftlich-technischen Materie zu erlangen. Die Isolation der Forschung erfolge aus praktischen Gründen: sie helfe gegen das Eindringen von Belangen der Produktion (und somit kurzfristiger Problemlösung) in die langfristigen Ziele der Industrieforschung. R&D werde auf lange Sicht geplant und verwaltet, um einen Nährboden für künftige Produkte anzulegen.57 Ulrich Marsch betont in seiner Definition von „industrieller Großforschung“ die interdisziplinäre Tätigkeiten der Angestellten. Marsch bezeichnet sie als eine Gemeinschaft von „Forschern und Ingenieuren“, die hierarchisch gegliedert, in der Nähe der Produktionsstätten lokalisiert sei und in dauerndem Wechsel stünde zwischen produktnaher und erkenntnisorientierter Arbeit. Es gebe somit ein Nebeneinander von Einrichtungen für erzeugnisbezogene und grundlegende Forschung.58 Im Folgenden soll mit „Forschungslabor“ oder „Industrielabor“ immer ein Großforschungslabor gemeint sein, also meist ein Zentrallabor, das in einem Unternehmen zusätzlich zu den bereits bestehenden kleinen Testabteilungen gegründet wurde. So gab es bei Siemens bereits 1900 mehrere kleinere Werkslaboratorien, auf die ich nicht weiter eingehen werde.59 Es gab bereits früh einzelne Laboratorien, in denen ein oder 56
oecd, Frascati Manual, S. 29.
57 Reich, S. 2f. 58 Marsch 136f. beschreibt den gelungenen Aufbau von firmeninterner R&D in großem Stil bei Siemens ab den 1920ern. 59 Das große, systematisch organisierte Zentrallabor war im Rahmen der Glühfilamentinnovation der Ort, den es zu untersuchen gilt. Kleinere Werkslaboratorien bestanden und bestehen weiterhin und sind nicht grundsätzlich unterlegen. Coolidge und sein Team war in einem Zentrallabor erfolgreich
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mehrere Erfinder an einer Idee bastelten. Auch einzelne Akademiker bekamen kleine Labors gestellt – diese Fälle werden hier ebenfalls nicht betrachtet. Ein Zentrallabor ist also eine von den Produktionsstätten getrennte Einrichtung, in der an meist langfristigen Projekten interdisziplinär gearbeitet wird. Industrieforschung im Rahmen meiner Arbeit bedeutet Forschung und Entwicklung im Zentrallabor. Insgesamt wird deutlich: nicht nur sind Begriffe wie Wissen und Wissenschaft definitorisch umstritten – es herrschen selbst unterschiedliche Sichtweisen, was genau Industrieforschung konstituiert. Marsch weist darauf hin, dass zur Zeit der Entstehung großer Laboratorien in der Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht klar getrennt wurde zwischen „wissenschaftlicher“ und „industrieller“ Forschung.60 Auch die Trennung in Grundlagen- und angewandte Forschung sieht Marsch als schwierig; in der Tat fällt es schwer, in einem mehrere Jahre dauernden Prozess wie der Suche nach Wolframdraht zwischen Forschungstypen zu unterscheiden. Trotzdem erscheint es wichtig, auf den durchgehend technischen Aspekt der Industrieforschung hinzuweisen. Wenn Technik die Artefaktproduktion zum Ziel hat und Wissenschaft das Verständnis einer Materie, so waren bei der Innovation der Glühbirne beide Aspekte vertreten – doch letztlich war das Ziel ein Produkt herzustellen. Im Rahmen meiner Arbeit ist also Industrieforschung durchaus als systematische Wissensgenese über Technik(en) im Sinne Schmochs, also als Technologie zu verstehen. Wie nun bildete sich diese Industrieforschung heraus? Paul Erker geht in seinem Aufsatz „Die Verwissenschaftlichung der Industrie“ genau dieser Frage nach – speziell für die Elektroindustrie.61 Erker sieht die organisierte firmeninterne Forschung als Weiterentwicklung des „Erfinder-Unternehmers“. Edison, Erfinder und Geschäftsmann, gründete sein Labor 1876; Werner von Siemens, der ähnliche Qualitäten aufwies, hatte ebenfalls in den 1880ern bereits eigene Laboratorien. Doch diese frühen Formen der Forschung waren laut Erker noch mehr Werkstattarbeit und weniger systematisch-methodische Forschung. Bis 1930 hätten sich aus den frühen Labors hochentwickelte, systematische Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gebildet: zuerst bei General Electric, später auch bei Siemens und allen anderen Großkonzernen. Nach dem ersten Weltkrieg seien mehr und mehr Zentralund ich versuche zu zeigen, dass dies nicht zufällig geschah – damit sollen andere Innovationsstätten, zu denen auch die Werkbank zählen kann, keinesfalls abgewertet werden. 60 Marsch, S. 26f. 61 Erker, S. 73-94.
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laboratorien gegründet worden: „Die Zwischenkriegszeit wurde zur entscheidenden Expansions- und Entwicklungsphase der Industrieforschung“.62 Mit dem ersten Weltkrieg wurde Industrieforschung zum Teil des Rennens um internationale Wettbewerbsfähigkeit, wie Erker erläutert. Beispielsweise bündelte das neugegründete National Research Council ab 1917 staatliche und industrielle Forschung in den USA und prüfte sie auf Tauglichkeit. Je mehr Forschungen, Erfindungen und Entwicklungen zur Anwendungsreife kämen, so glaubte man, desto größer sei das Wachstum und der Wohlstand einer Volkswirtschaft und vor allem deren internationale Konkurrenzfähigkeit.63 Bevor sich bei Siemens und GE Forschungslabors entwickelten, gab es bereits Verbindungen zwischen Industrie und Akademie. Michael Eckert untersuchte die Entwicklung „von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung“ und zeigt auf: Im 19. Jahrhundert nahm in der Industrie die Komplexität zu, Maschinen automatisieren nach und nach die Arbeitsvorgänge und forderten neuartige Fähigkeiten von ihren Benutzern.64 Forschung jedoch wurde in der Industrie nur vereinzelt benötigt, so Eckert, meist nur wenn Probleme völlig unlösbar schienen. Zwar seien ab 1850 neue Wirtschaftszweige entstanden, wie die elektrische und chemische Industrie – zuerst wurde Forschung zur Problemlösung nach Eckert jedoch in den traditionellen Industriezweigen, etwa der Metallindustrie eingesetzt: eine methodische Analyse der Prozesse verbesserte etwa die Stahlherstellung und führte zu einem steilen Anstieg der Produktion. In der Wirtschaft habe man sich daraufhin interessiert gezeigt an akademischen Chemikern, und nach mehr und mehr Hochschulabsolventen gesucht.65 Die neu entstehenden „wissenschaftsbasierten“ Industrien seien von Anfang an eng an die Forschung gebunden gewesen; ihnen fehlten laut Eckert Jahrzehnte an Erfahrung – fundamentale Verständnisse von Chemie und Elektronik mussten erst erforscht werden. Bevor sich Forschung in diesen Firmen etablieren konnte, musste die junge Industrie zunächst wachsen.66 Als mit die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der Industrielabors wird der gesetzlichen Patentschutz gesehen, der im Deutschen Reich 1877 in Kraft
62 Ibid., S. 73. 63 Ibid., S. 79. 64 Michael Eckert und Helmut Schubert, Kristalle, Elektronen, Transistoren. Von der Gelehrtenstube zur Industrieforschung, Reinbek bei Hamburg 1986. 65
Ibid., S. 31–33.
66
Ibid., S. 33–35.
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trat.67 Damit seien eigene Forschungen für Unternehmen erst rentabel geworden, wie Erker am Beispiel der Firma Philips zeigt: Die Niederlande verabschiedeten erst 1912 ein Patentgesetz, wie es im Deutschen Reich und den USA bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts existierte. Das sei der Grund für die „Verspätung“ von Philips in der Industrieforschung gewesen, die ihr Zentrallabor erst gründeten, als Siemens und GE bereits über 10 Jahre forschten.68 Nach und nach wurden Forschungslaboratorien ein Mittel zum Konkurrenzkampf – Forschung sicherte Patente, Patente wurden geschützt und sicherten Verhandlungsmacht.69 In Deutschland gab es neben dem frühen Patentschutz eine weitere Besonderheit: 1887 wurde durch den Industriellen Werner von Siemens, der schon 1877 das Patentgesetz auf den Weg gebracht hatte, nun mit dem Physiker und Mediziner Hermann von Helmholtz die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) gegründet. Von Siemens wollte neben universitärer eine staatliche, lehrunabhängige Forschung etablieren, denn hochbegabte Männer verschlissen im Unterrichtsdienste, wie er sich ausdrückte.70 Neben dem Dienst an der Forschung hatte die Gründung der PTR für Werner von Siemens einen weiteren Vorteil: Neben der „Technisch-Wissenschaftlichen Abteilung“, die industrielle Produkte gegen ein Honorar prüfte, gab es eine „Wissenschaftliche Abteilung“ – die in von Industrie und Militär vorgeschlagenen Feldern forschte; so konnten etwa die Stahlindustrie, die Zuckerindustrie oder auch die Marine auf kostenlose Forschung zurückgreifen. Der Steuerzahler kam nolens volens dafür auf, ohne die Gewinne der Unternehmen zu schmälern. In anderen Ländern folgten bald ähnliche staatliche Forschungs- und Standardisierungseinrichtungen: In Großbritannien 1900 das „National Physical Laboratory“; In den USA 1901 das „National Bureau of Standards“; In Frankreich das „Laboratoire d‘Essai“ und in Japan 1917 das physikalischchemische Institut „Riken“.71
67 Erker, S. 78 sowie Eckert, S. 33. 68 Erker, S. 78. 69 Eckert, S. 33. 70 Siemens schrieb an den Reichstag 1884, dass „hochbegabte Männer, die ihrem Vaterlande und der Menschheit überhaupt unschätzbare Dienste durch ihre Forschungsarbeit leisten könnten, im Unterrichtsdienste, den Minderbegabte vielleicht erfolgreicher verrichten könnten, verbraucht werden.“ zit. nach Helmuth Trischler & Rüdiger vom Bruch, Forschung für den Markt. Die Geschichte der Fraunhofer-Gesellschaft, München 1999, S. 20. 71
Eckert, S. 37.
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Wir sehen also, die Industrieforschung in der Elektroindustrie war nicht die erste außerakademische Forschung und nicht die einzige – es gab um 1900 sowohl staatliche Forschung als auch industrielle Chemieforschung. Für unseren Fall jedoch zählt die Betrachtung der Laboratorien in der Glühlampenindustrie, daher werde ich im Folgenden die Industrieforschung bei Siemens & Halske und General Electric näher untersuchen. Diese beiden Firmen waren nicht nur die größten Glühlampenproduzenten, sondern besaßen auch die ersten Zentrallaboratorien der Elektroindustrie, die ihnen eine Kontrolle des Weltmarktes ermöglichte. Das Zentrallabor bei Siemens & Halske Nachdem sich Werner von Siemens aus der aktiven Erfindertätigkeit zurückgezogen hatte und die Verbesserungen aus seiner Werkstatt ausblieben, suchte man bei Siemens & Halske nach einem Ersatz, einer neuen Forscher- und Erfinderpersönlichkeit. Die beiden wichtigsten deutschen Elektronikfirmen S&H und AEG lagen in ständigem Wettstreit. Die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft war als Ableger von General Electric in Deutschland gegründet worden und machte sich langsam selbstständig; sie war jedoch abhängig sowohl von GE (Patente und Forschung), als auch von S&H (Produktion). Die AEG besaß kein Labor bis 1904 und ein Forschungsinstitut erst ab 1928. Siemens wollte durch neue Forschung neue Produktionsfelder in Deutschland entwickeln, hatte jedoch keine übermachtige Konkurrenz zu befürchten. S&H war die größte elektrotechnische Firma in Deutschland – mit eigenem Labor, Produktion und Auslandsablegern. Auch international war man gut aufgestellt: Deutschland hatte mit seinen Technischen Hochschulen eine große Menge an sehr gut ausgebildeten Ingenieuren herangezogen, die der Industrie zur Verfügung standen; dazu kamen knappe Rohstoffe, die zu effizienterer Technik führten und so war am Ende des 19. Jahrhunderts Deutschland den Konkurrenten Frankreich und Großbritannien in Technik und Innovation um einiges voraus.72 Auch die USA mussten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wissenschaftliches Grundlagenwissen aus Deutschland importieren.73 Und doch wuchs die Bedrohung aus Übersee: von General Electric, die den amerikanischen Markt dominierten und auch in Europa Fuß fassen wollten.
72
Beer, S. 124f.
73 Bright, S. 448f.
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Bereits 1896 wurde ein chemisches Laboratorium bei Siemens eingerichtet:74 Wilhelm von Siemens schuf einen Platz für den Chemiker Werner Bolton, dessen Familie bereits in Diensten derer von Siemens stand. Bolton wurde als Schützling Wilhelms betrachtet und hatte bereits ein Praktikum in der Firma absolviert, als er 1895 in Berlin promovierte.75 Bei diesem „Labor“ Boltons muss jedoch erwähnt werden, dass es sich keinesfalls um ein hochmodernes industrielles Forschungsinstitut handelte, wie es gerne in der Literatur implizit vermittelt wird: Es war ein kleines, behelfsmäßiges Laboratorium, im Berliner Jargon liebevoll der „Doktorenzwinger“ genannt.76 Die Suche nach neuem Material für die Glühlampe wurde zur ersten Aufgabe Boltons – die er mit Erfolg abschloß. In fünf Jahren entwickelte er mit Oskar Feuerlein einen Draht aus Tantal, und schuf damit 1902 die zweite Metalldrahtlampe der Welt.77 Auch die AEG entwickelte daraufhin eine Tantallampe, aber S&H hatte bereits den technischen Vorsprung und beherrschte ab 1904 den internationalen Glühlampenmarkt. Der große Konkurrent GE musste teuer die Lizenzen für Produktion und Verkauf erwerben.78 Die sprudelnden Gewinne ließen Siemens mehr Geld in die hauseigene Forschung investieren. Bereits ein Jahr zuvor hatte Ludwig Fischer, der Leiter des Patentbüros, ein Zentrallabor angeregt. Das stieß jedoch auf den Widerspruch der Werksdirektoren: so etwas brauche man nicht, eine solche Investition sei gegründet auf „unsichere Zukunftshoffnungen“. 1906 folgte zumindest ein mehrstöckiger Neubau für Boltons neues „Physikalisch-Chemisches Laboratorium“.79 Der Siemens-Chemiker nahm nun seine nächste Aufgabe in Angriff: die Entwicklung von duktilem Wolfram – doch daran scheiterte er. 1908 entwarf Boltons Nachfolger Hans Gerdien ein Konzept für eine umfangreiche Industrieforschung bei Siemens, das jedoch weiterhin unbeachtet
74 Marsch, S. 137f. Die Literatur zur frühen Forschung bei Siemens & Halske besteht fast ausschließlich aus Schubert und Marsch. In Übersichtsdarstellungen wird oft Trendelenburg zitiert, der jedoch die Forschung vor 1920 nur sehr oberflächlich behandelt: Boltons gesamte Karriere und Forschung wird auf fünf Seiten abgehandelt. Vgl. Ferdinand Trendelenburg, Aus der Geschichte der Forschung im Hause Siemens, Düsseldorf 1975. 75 Erker, S. 75. Dagegen nennt Marsch 1895 als Gründungsjahr des Labors, S. 137. Oft wird in der Literatur von einem „Werner von Bolton“ gesprochen – das ist jedoch nicht korrekt. 76 Schubert, S. 249. 77 Schubert, S. 249. 78 Marsch, S. 124f. 79 Schubert, S. 249.
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blieb. 1913 endlich wurden Fischers und Gerdiens Überlegungen berücksichtigt.80 Man plante den Ausbau der Forschung. Doch Gerdien war nicht zufrieden: Zuviel Kontrolle durch fachfremde Vorstände werde ausgeübt, beschwerte er sich in einer internen Schrift, und forderte ein wissenschaftliches Kontrollgremium, dem man nicht erst alles erklären müsse.81 Nach den Kriegswirren setzte man 1918 sukzessive die Pläne Gerdiens in die Tat um.82 Bereits vor dem Krieg war im Scientific American ein Artikel über deutsche Technik erschienen, der – laut Schubert „sehr übertrieben“ – den deutschen Vorsprung in Wissenschaft und Technik lobte und betonte, Deutschland habe die Nase vorne bei der Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse in der technischen Produktion.83 15 Jahre später, 1927, wurde über Siemens gesagt, sie hätten das modernste Labor Europas.84 Vor 1914 jedoch gab es definitiv keine Industrieforschung in der europäischen Elektrotechnik, die mit General Electric mithalten konnte. Das Zentrallabor bei General Electric 1894 lief die Schutzfrist auf die Edison-Patente aus, die bis dahin General Electric laut Paul Erker als Geschäftsgrundlage gedient hatten. Neue Patente wurden benötigt, wenn man weiter an der Spitze bleiben wollte. Ein langwieriger Rechtsstreit mit dem Konkurrenten Westinghouse band jedoch zunächst Ressourcen und Aufmerksamkeit. Die amerikanische Finanzkrise der 1890er setzte GE weiter zu – am Schluss jedoch führte Charles Coffin, der frühere Financier und Leiter von Thomson-Houston und nach der Fusion 1892 der erste Präsident von General Electric, die Firma nicht nur aus der Krise, sondern in den Wohlstand: von einem Wert von 35 Mio. US-$ brachte er bis zu seinem Abtritt 1912 die Firma auf 184 Mio. Dollar. Zunächst jedoch wuchs um 1900 die Europäische Elektroindustrie rasant an, vor allem in Deutschland, und konnte schnell technische Fortschritte für sich verbuchen. Neue Erfindungen und Entwicklungen in Chemie und Physik eröffneten neue Anwendungsfelder. Vor allem der alte Gegenspieler der elektrischen Beleuchtung, das Gaslicht, nahm mit der Erfindung des
80
Trendelenburg, S. 45f.
81
Schubert, S. 249.
82 Erker, S. 75. 83 Schubert, S. 245. 84 Aussage des Direktors des Leningrader Elektrotechnischen Institutes über seinen Besuch in Berlin. Schubert, S. 247, Anmerkung 3.
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Gasglühstrumpfes durch Auer von Welsbach wieder zu. Aber auch andere Leuchtmittel, wie die Nernst-Lampe, ein Bogenlicht mit Karbonstab, erlangten Bedeutung und der GE-Konkurrent Westinghouse kaufte die exklusiven Rechte an der Nernst-Lampe für die USA.85 Die Erfindungen des Göttinger Professors Walther Nernst, wie auch des Österreichers Carl Auer Freiherr von Welsbach, waren beides Erfolge von Einzelpersonen, die plötzlich in der Beleuchtungsindustrie auftauchten. Wenn nun ständig von Einzelerfindern technische Neuerungen auf den Markt kämen, fürchtete man bei GE, würde der Markt nicht mehr überschaubar sein – eine unkalkulierbare Bedrohung.86 Der berühmte GEElektroingenieur und Mathematiker Charles Steinmetz besuchte bereits 1897 das Labor des amerikanischen Erfinders Peter Cooper Hewitt, der die Rechte an seiner Quecksilberdampflampe gerade an Westinghouse verkaufte. Der Einwanderer Steinmetz kannte halbunabhängige Labors in der Industrie bereits aus seiner deutschen Heimat und sah die Vorteile eines solchen Forschungslabors für GE. Wenn man selber forschte, könnte man den Einzelerfindern besser begegnen; zudem war Steinmetz selbst interessiert an der Technik der Bogenleuchten. Noch im gleichen Jahr unterbreitete er dem Vorstand Pläne eines elektrochemischen Labors – doch der lehnte ab und bevorzugte ein traditionelleres Geschäftsmodell.87 Steinmetz holte den ehemaligen Erfinder-Unternehmer, nun technischen Direktor von GE, Edwin W. Rice ins Boot; dazu gewann er den Leiter der Patentabteilung, Albert S. Davis, der sehr wohl um den Wert von Patenten für GE wusste. Ihr stärkstes Argument: Ein Vorsprung gegen die Rivalen in Deutschland und Österreich erforschen. Steinmetz überzeugte damit letztlich auch den GE-Präsidenten Coffin und dadurch den Vorstand. Letzterer blieb jedoch skeptisch, stand in der kaufmännischen Angst vor Neuem den Siemens-Direktoren in nichts nach, und verlangte umgehend Ergebnisse. Von Anfang an lastete ein hoher Rechtfertigungsdruck auf dem neuen Forschungslabor.88 Man suchte nach einem geeignetem Forschungsleiter: es sollte ein praktisch orientierter, akademisch gebildeter Chemiker sein, mit einer breitgefächerten Bildung und offenen Einstellung. Durch Kontakte zum MIT wurde Willis Rodney Whitney empfohlen. Der gut und praktisch ausgebildete Chemiker hielt eine moderate Dozentenstelle am MIT. 85 Bright, S. 179f. 86 Reich, S. 63. 87 Ibid., S. 67. 88
Vgl. Reich, S. 67 und Bright, S. 180.
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Er hatte bereits erfolgreiche Erfahrungen außerhalb der Akademia als Berater für die Industrie gesammelt – wollte aber seine akademische Karriere, obwohl stagnierend, nicht gänzlich aufgeben. Im Herbst 1900 war Whitney mit seiner Dozentenstelle nicht mehr zufrieden, so Bright, hegte jedoch noch Vorbehalte gegenüber GE: Was war die Stellung dort in akademischen Maßstäben wert? Nach einer zweitägigen Verhandlung und der Versicherung, er könne weiterhin akademisch arbeiten und müsse nur zwei Tage die Woche bei GE forschen, könne die Dozentenstelle behalten und ein Professorengehalt von GE beziehen, willigte Willis Whitney schließlich ein. Der Einkauf zahlte sich aus für GE: Whitney brachte schnell Erfolge und stärkte die Bindung zwischen dem MIT und General Electric.89 Der erste Auftrag für Whitney war bereits von Steinmetz und Davis festgelegt worden: man wollte nach dem Aufkaufen von Cooper Hewitts Lizenz durch Westinghouse eine eigene Quecksilberdampflampe entwickeln. Aber genau wie bei der von Steinmetz durchgesetzte Magnetit-Forschung konnte Whitney dabei zunächst keine Ergebnisse liefern; Es folgte eine notwendige Vergrößerung, da Whitney allein mit einem Assistenten in einer alten Scheune nicht das Idealbild darstellte. Man zog in ein neues Laborgebäude, Whitney stellte neue Forscher an, alle vom MIT: die in Europa promovierten Ezekiel Weintraub und Julius Ober hielten ähnlich wie Whitney selbst eine unbefriedigende Stellung am MIT; dazu kamen die jungen graduates William Arsem und Howard Wood. Doch auch die Forschungen zur elektrischen Beleuchtung brachten keine wirtschaftlich verwertbaren Resultate. Nach einem Jahr erweiterte Whitney, bis dahin ohne Ergebnisse und daher unter Druck, den Projektrahmen des Labor: ab sofort lieferte man kurzfristige Problemlösungen, etwa für die Abteilung Engineering. Damit verletzte Whitney zwar die klare Trennung von Produktion und Labor, die als wichtige Voraussetzung bei der Gründung des Research Labs festgelegt worden war – dafür floß aber Geld aus anderen Abteilungen für neue Projekte. Im Herbst 1902 hatte Whitney schon 30 Forschungsaufträge angenommen, das Personal auf 14 erhöht und ein breites Spektrum an Projekten aufzuweisen.90 Die praktische Problemlösung brachte Geld, aber auch Probleme: Steinmetz, der Gründer des Forschungslabors, und Whitney, dessen Leiter, kamen nicht mehr miteinander aus; im Kampf um den entscheidenden Einfluss auf das Labor setzte Whitney sich
89 Reich, S. 68f. 90
32
Ibid., S. 71.
letztlich durch. Steinmetz rief daraufhin zur „Unterstützung“ das Research Laboratory Advisory Council ins Leben: Es verband GE-Vorstand und Labor und übte direkte Kontrolle auf alle Forschungsprojekte aus – durch eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit der genehmigten Projekte. Die Besetzung des Advisory Councils sollte eine effiziente Kontrolle gewährleisten: Der technische Direktor von GE, Edwin Rice, beurteilte mit dem Werksdirektor der Harrison Lamp Works, John Howell, die Projekte aus kommerzieller und fertigungstechnischer Sicht; Der Elektroingenieur Steinmetz und der Erfinder Elihu Thomson beurteilten aus wissenschaftlich-technischer Sicht die Machbarkeit und Albert Davis aus der Patentabteilung prüfte die mögliche Verwertung neuer Prozesse und Produkte. Kleine Projekte konnte Whitney selbst durchführen. Zuerst schien sich Whitneys Weiterentwicklung der alten Karbonlampe zur metallisierten GEM lamp auszuzahlen – und mit ihr GEs Investition in eine interne Forschung. Doch schon 1904 erlebte das junge Labor seine erste Krise durch eine Niederlage im Forschungsrennen: Werner Bolton hatte bei Siemens nicht nur eine brauchbare Alternative zur Kohlefilamentlampe, sondern mit dem Wechsel zum Metalldraht eine leistungsstärkere Lampe entwickelt. Genau das, was das GE-Labor durch eigene Forschung und eigene Patente verhindern sollte, war eingetreten: Teuer musste man vom Konkurrenten Lizenzen kaufen, um das neuste und technisch beste Produkt auf den Markt zu bringen. $250.000 kostete die Tantallampe für General Electric. Ein schwerer Misserfolg für das Research Lab.91 1909 war noch immer kein Durchbruch erreicht, keine überragende Technologie geschaffen. Erneut musste GE eine halbe Million Dollar Patentlizenzen zahlen. Auf dem Labor lastete ein hoher Druck. Erst 1911 endlich war die Tat geglückt bei GE: William Coolidge entwickelte ein Verfahren zur Herstellung von Wolframdraht.92 Damit bekam GE die technologische Nase wieder nach vorne und schuf ein nie dagewesenes Markt- und Patentmonopol.93 Vergleich der Labore Bei einem Vergleich zwischen der frühen Industrieforschung bei S&H und General Electric wird klar: zwar war Boltons Labor früher gegründet worden und erfüllte auch Marschs Definition von Industrieforschung; trotzdem hatte Siemens vor 1906 nur ein 91 Ibid., S. 72–74. 92
Erker, S. 76f.
93
Ebd.
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kleines, behelfsmäßiges Labor, das sich langsam vergößerte aber tatsächlich erst 1920 zum Zentrallabor wurde. Schon 1900 entwickelte sich bei GE eine ganz andere Größenordnung von Industrieforschung – die nicht aus dem Labor eines einzelnen Akademikers über Jahre herauswuchs, sondern bereits als Großlabor geplant worden war. Dies ist bereits ein Faktor, der General Electric beim Wettrennen um den Wolframdraht den Sieg ermöglichte. Luxbacher bezeichnet das GE-Labor als Paradebeispiel des modernen Forschungslabors in der Elektroindustrie: GE habe damit gezeigt, dass Produktinnovation und (in geringem Maße) Grundlagenforschung mit großem Aufwand an Privatkapital langfristig plan- und verwaltbar sein können.94 Nicht nur bei Konzeption und tatsächlicher Laborgröße sehen wir deutliche Unterschiede zwischen den beiden Großkonzernen. Auch bei den Hauptfiguren der jeweiligen Industrieforschung: Willis Whitney war ein praktischer, am MIT ausgebildeter Chemiker, der sowohl auf Arbeitserfahrung in der Industrie zurückblickte als auch eine Dozentenstelle innehatte, jedoch einen Platz zum praktischen Forschen der Akademie vorzog; Ganz im Unterschied zum SiemensProtegé Bolton, der direkt nach der Promotion ein eigenes kleines Labor bekam und nie eine akademische Laufbahn oder eine Karriere außerhalb von Siemens verfolgte. Aber auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Firmen lassen sich feststellen: So waren beide Vorstände zu Beginn von der Idee eines Zentrallabors mit längerfristig angelegten Forschungsprojekten nicht begeistert. Doch während Siemens gegenüber dem früheren Modell des Einzelerfinders Werner von Siemens nicht viel änderte, begann General Electric 1900 eine neue Art der industriellen Großforschung, die sich bereits in der deutschen Chemieindustrie als erfolgreich erwiesen hatte. Mit Bedacht sollte trotz allem die Art der Forschung betrachtet werden, die tatsächlich bei General Electric betrieben wurde. Die ersten Jahre, so der GE-Historiker Arthur Bright, war die meiste Arbeit im Research Lab mehr fortgeschrittene Ingenieurskunst als (wissenschaftliche) Forschung.95 Wenn also von Verwissenschaftlichung der Industrie die Rede ist, lässt sich schon hier erkennen, dass bei GE die technische Forschung die größte und bedeutendste Rolle spielte. In anderen Labors wurde ebenfalls weniger theoretisch nach neuen Formeln, sondern praktisch nach neuem Material für die Glühlampe gesucht. Vertreter der großen Unternehmen standen in ständigem Kontakt: Verhandlungen um Patente und Lizenzen neuer Verfahren und Produkte waren allgegenwärtig; GE fühlte 94
Luxbacher, S. 100f.
95
Bright, S. 180f.
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sich bedroht durch die deutschen Firmen und sah sich in einem Wettrennen um das beste Material für die Glühlampe: duktiles, also zu einem Draht ziehbares Wolfram.96 Im Folgenden zeichne ich nun die Innovation des Glühlampenfilaments nach, die als das „filament race“ bezeichnet worden ist.97 Damit sollen die Details der Produktinnovation im GE Research Lab ausgeleuchtet werden.
2.3 Das Filament Race Um die Jahrhundertwende war die Konkurrenzfrage von Gas– vs. Elektronischer Beleuchtung noch offen. 1885 bedeutete Welsbachs Gasglühmantel einen Schritt nach vorne für die Gasbeleuchtung. Das hellere Gaslicht wurde vor allem für die Innenbeleuchtung favorisiert, während die Außenbeleuchtung fest in der Hand der elektrischen Bogenlampe schien. Bei der Karbonfilamentlampe gab es seit 1884 keine fundamentale Verbesserung mehr, die Grenzen der Machbarkeit schienen erreicht. Das Grundproblem war der Stoff selbst: Obwohl der Schmelzpunkt von Karbon erst bei 3500°C liegt, ist bei der Betriebstemperatur von 1600°C die Evaporationsrate bereits sehr hoch: Aschepartikel lagerten sich innen am Glaskolben ab, schwärzten die Karbonlampe zunehmend und machen sie nach und nach unbrauchbar. Eine Leistung von mehr als etwa 3,4 lm/Watt (bei 110V) konnte nicht erreicht werden.98 Spätestens ab 1897 wurde daher nach einem neuen, effizienteren Material gesucht, das sich weit über 1600°C erhitzen ließ und dabei stabil blieb; Für die Effizienz war die Betriebstemperatur der wichtigste Faktor. Es waren einige Materialien bekannt und daher war Raum für Entwicklungen schien geboten: Vor allem setzte man auf selektive Radiatoren, d.h. Stoffe, die beim Glühen nur einen Teil des Lichtspektrums aussenden. Das sparte Energie und erhöhte weiter die Effizienz der Lampe. Man erwog als neues Material für die elektrische Glühlampe vor allem die Metalle der sogenannten Seltenen Erden, die Auer von Welsbach schon für seinen Gasglühmantel benutzt hatte. Diese Metalle hatten vor 1900 faktisch keine wirtschaftliche Bedeutung. Gerade entdeckte man neue Vorkommen: Der Preis hing tief wie nie zuvor, trug damit zur Entwick-
96 Reich spricht von einem „severe threat“, vgl. Luxbacher, S. 102. 97 GE-Präsident Coffin und Vizedirektor Rice sprachen vom „race with the Europeans“, der Historiker Wise prägte den Ausdruck „filament race“, vgl. Luxbacher, S. 102 und Wise, S. 118. 98
Bright, S. 166.
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lung der Chemie (der Seltenen Erden) bei und gereichte allen Lampenentwicklern zum Vorteil.99 Nicht nur Materialien, auch neue Werkzeuge wurden verfügbar: 1892 konstruierte der französische Chemiker Henri Moissan den ersten Elektro-Lichtbogenofen, der nie dagewesene Temperaturen erreichen und relativ stabil halten konnte. 1900 standen Lampenentwicklern somit eine große Palette an experimentellen Möglichkeiten zur Verfügung. Innerhalb weniger Jahre sammelte man mehr Wissen über Metalle als je zuvor existiert hatte. Die bedeutenden Fortschritte in der Elektrochemie kamen 18851900 aus Deutschland, Frankreich und England.100 Die Entwicklungen in der Chemie, kombiniert mit neuen Materialien und Werkzeugen und der erhöhten Konkurrenz von Gaslicht führten zu einer Periode erheblicher Entwicklung im Glühlampendesign zwischen 1897 und 1912. Zuerst waren es Einzelpersonen außerhalb der Industrie, die Entwicklungen hervorbrachten – weder die Konzentration der Industrie in Deutschland und den USA, noch die große Konkurrenz in Frankreich und Großbritannien boten laut dem Historiker Arthur Bright für die Großkonzerne genügend Stimulus, um sofort mit der Materialentwicklung zu beginnen. Nach ein paar Jahren und einigen Außenseitererfolgen begannen auch Unternehmen mit einer ernsthaften Lampenverbesserung. Hauptsächlich waren Metalle mit hohem Schmelzpunkt von Interesse, aber auch ein paar Nichtmetalle wurden in Erwägung gezogen. Die Periode der Materialinnovation dauerte an bis etwa 1912; dann löste Wolfram die anderen Materialien ab und dominiert in der elektrischen Glühlampe bis heute.101 1897–1912 Die Nernst-Lampe Die erste neue kommerzielle elektrische Glühlampe nach Edisons Karbonfilamentlampe kam 1897 von Dr. Walther Nernst, Professor für Elektrochemie in Göttingen. Nernst begann mit seiner eigenen Lampenkonstruktion 1897, als er die Theorie der Lichtemission des Welsbach-Mantels untersuchte. Bereits vor Edison hatte es Experimente mit Seltenen Erden und Metallmixturen als Filamentstoffe gegeben; aber als sich die Karbonfilamentlampe kommerziell durchzusetzen begann, wurden andere Lösungen vernachlässigt. Nernst hielt wollte die Zerbrechlichkeit eines Kohlefilaments vermeiden und entschied sich für eine Bogenlampe: ein kleiner Stab aus Oxid99
Ibid., S. 167f.
100 Ibid., S. 168. 101 Ebd.
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pulver wurde anfangs auf etwa 950°C erhitzt, sodass die Metalle leitende Eigenschaften bekamen. Obwohl dieser Stab ein selektiver Radiator war und im Betrieb gut 700°C heißer wurde als das Karbonfilament, war er nur etwa 50% effektiver. Der komplizierte Aufbau der Lampe mit Hilfswiderständen, die den sinkenden Widerstand des Stabes bei höherer Temperatur ausglichen, führte letztlich zu einem zu hohen Energieverbrauch. In Europa war das keine gute Voraussetzung: Hier herrschten höhere Strompreise als im Heimatland Edisons, hohe Effizienz war ein Muss. Die Nernst-Lampe konnte darin nicht überzeugen; Im Gleichstrom sank die Lebenserwartung der Nernst-Lampe dazu auf nur 300 Stunden. 1897 erfolgte die Patentanmeldung für Deutschland und Großbritannien, weitere Anmeldungen folgten 1899. Nernst entwickelte seine Bogenlampe von Anfang an jedoch nicht für den Markt, sondern verkaufte die deutschen Patentrechte an die AEG und die amerikanischen an Westinghouse. Auf den Markt kam die Nernst-Lampe zuerst in Deutschland 1900, die verbesserte Version mit automatischem Starter erschien ab 1902. Laut Bright wurde sie „recht ausgiebig genutzt“, da sie effektiver war als die alte Karbonlampe. Allein 1907 seien bei der AEG 7,5 Millionen Lampen produziert worden.102 Die relativ geringe Effektivitätssteigerung gegenüber der Karbonfilamentlampe lässt jedoch an dieser Aussage zweifeln: Im gleichen Jahr, 1907, erreichte diese nämlich ihren Höchststand von 65 Millionen verkauften Lampen bei General Electric.103 Die Nernst-Lampe wurde spätestens 1912 von der Wolframdrahtlampe ersetzt. 1910 wurden in Deutschland nur noch 265.000 Stück hergestellt – zwei Jahre früher waren bereits doppelt so viele Wolframlampen in den USA verkauft worden.104 1898–1906 Die Osmiumlampe Die zweite erfolgreiche Neuerung und erste Metallfilamentlampe war 1898 die Osmiumlampe des Österreichischen Erfinder-Unternehmers Carl Auer Freiherr von Welsbach. Versuche mit Metallen der Platinfamilie führten zu Osmium, das mit 2700°C den höchsten Schmelzpunkt aufweist und bei gleicher Betriebstemperatur mehr Leuchkraft besitzt als Kohle. Anstelle von Platin selbst Seltene Erden oder Iridium zu verwenden 102
Bright, S. 170–173.
103
Wise, S. 123.
104 Bereits 1908 kamen insgesamt 500.000 nicht-duktile Wolframlampen in den USA auf den Markt. Siehe Bright, S. 61, Anm. 21, sowie S. 190.
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war nicht ganz neu: 1878 hatten schon T.N. Aronson und H.B. Farmie Osmium als Grundlage für einen Metallfaden vorgeschlagen, aber nichts in die Tat umgesetzt.105 Auer von Welsbach nutzte die Erfahrungen, die er bei der Herstellung seines Gasglühstrumpfes gemacht hatte. Er mischte hell leuchtende Oxide seltener Erden einem Spritzfaden bei und schuf so einen Kompromiss zwischen gesuchtem Metallfilament und üblicher Spritztechnik: Osmiumpulver wurde dabei mit Bindemittel zu einer Paste gemischt und durch Trichter gespritzt („squirted through dies“); bei hohen Temperaturen verbanden sich die Metallteilchen miteinander und die Bindemittel verflüchtigten sich. Der entstandene Metalldraht wurde gewunden und mit Platindraht fixiert. Er war sehr brüchig, und durch den geringen Widerstand von Osmium konnte die Lampe nur bei niedriger Spannung betrieben werden. Erst nur mit 44V, später auch mit 110V. Die Osmiumlampe wurde von Auer von Welsbachs Gasglühlicht und Elektrizitäts Gesellschaft in Österreich hergestellt; Die Deutsche Gasglühlicht-Aktiengesellschaft (Auergesellschaft) als deren Ableger übernahm die Produktion in Deutschland ab 1902. Schon 1898 wurden in den USA Patente angemeldet, aber erst 1910 erteilt. Daher wurde die Osmiumlampe lediglich in Europa vertrieben. Es wurden einige Millionen Stück verkauft, die Osmiumlampe erlangte aber keine große kommerzielle Bedeutung – sie wurde wegen ihrer Brüchigkeit, den höheren Kosten durch teures Metall und die geringe Betriebsspannung bereits 1906 durch die Osramlampe ersetzt.106 Das sogenannte Auer-Verfahren, also die Methode des Spritzfilaments mit Osmium und Wolfram, wurde 1906 von GE für 100.000 Dollar aufgekauft. Es kam jedoch nie zum Einsatz.107 105 Luxbacher, S. 76f. erwähnt auch einen J.W. Staite, der noch früher das Platinmetall Iridium duktilisert habe. Laut N.L.Müller hat dieser Mr. Staite im Jahre 1848 das englische Patent 12212 angemeldet, das angeblich ein dem Coolidgeverfahren gleichen Prozess zur Duktilmachung des Platinmetalles Iridium beschreibt. Vgl. N.L.Müller, Über das Wolfram und die Geschichte seiner Duktilisierung, in: Zeitschrift für angewandte Chemie 66 (1913), S. 404–407. Das wäre höchst interessant, weil es sowohl auf Auer von Welsbachs Erfindung, als auch auf Coolidges Verfahren ein neues Licht werfen würde. Leider lässt sich die Behauptung Müllers, auf die sich Luxbacher ebenfalls bezieht, nicht belegen. Zwar ist ein Mann namens W.E. Staites verbürgt, der 1848 ein Patent angemeldet hat – allerdings auf eine Bogenlampe mit Karbonstäben. Vgl. Charles Barlow, Staite‘s Improvements in Lighting, etc., in: The Patent Journal and Inventor‘s Magazine 4 (1848), S. 169–173. Eine frühere Verwendung von Metallen der Platinfamilie als Glühdraht in einer kommerziellen Glühlampe lässt sich also ausschließen. 106
Bright, S. 174–176.
107
Die beiden Metalle Osmium und Iridium gehören zur Platingruppe. Sie sind sehr selten, Iridium
38
1902–1913 Die Tantal-Lampe: 1901–1903 entwickelte Werner Bolton, Hausforscher und Chemiker bei Siemens & Halske zusammen mit Oskar Feuerlein den Tantal-Draht.108 Damit hatte der erste große Lampenhersteller dieser Zeit eine neue Lampe entwickelt: Professor Nernst war ein Akademiker, der mehr zum Vergnügen als beruflich Lampen entwickelte; von Welsbach war ein Erfinder, der seine eigene Firma gründete. Das zeigte den anderen Großfirmen wie General Electric einmal mehr den Wert interner Forschung. Tantal ist ein sehr schweres und hartes Metall mit einem Schmelzpunkt von 2850°C. Es war zu dieser Zeit noch als sehr brüchig bekannt, und war erstmals durch Henri Moissan mit dem elektrischen Bogenofen geschmolzen worden. Bei Siemens & Halske entwickelte man ein absolut reines Tantal, das duktil wurde ohne die Verschmutzungen. Tantaloxid wurde dazu reduziert und gereinigt. Die Tantallampe war weniger effektiv als die Osmiumlampe: von Anfangs 5 Lumen pro Watt sank sie bei Betrieb auf 4,25 Lumen ab. Die Nutzdauer war etwa 700 Stunden, die totale Lebensdauer lag bei 1000 Stunden. Wechselstrom erlaubte nur 200-300 Stunden Lebensdauer. Das neue Wickelfilament wurde speziell von Siemens entwickelt, um den langen Draht stabil zu halten. Die Tantallampe war genau das: stabil. Und sie war billig. Zusammen mit der Betriebsspannung von 110V sicherte ihr das einen großen Vorteil.109 Zwischen 1903 und 1905 kam die Lampe mit einer Anfangsproduktion von 240.000 Stück auf den Markt. Fünf Jahre später wurden knapp zehn Millionen Stück im Jahr produziert. Die Tantallampe schreckte GE auf – man kaufte für $250.000 die Produktionslizenz und das Recht, Tantaldraht aus Deutschland zu beziehen. Bis zur Markteinführung der Wolframlampe durch GE 1911 dominierte S&H mit der Tantallampe den internationalen Glühlampenmarkt. Das war eine bittere Pille für das GE Research Lab, wollte man doch genau diesen technologischen Vorsprung verhindern.110 ist zehn mal seltener als Platin und 40 mal seltener als Gold, vgl. William Haynes (Hg.), CRC Handbook of Chemistry and Physics, 922011; Onlinequelle: www.hbcpnetbase.com, Kapitel 14: Abundance of Elements in the Earth‘s Crust and in the Sea. Auch Osmium ist extrem selten, teuer und daher schlecht als Material für ein Massenprodukt geeignet. Das war einer der Hauptgründe, warum sich diese Innovation nicht durchsetzte, vgl. Bright, 176. 108
Trendelenburg, S. 31–35.
109
Bright, S. 176f.
110
Marsch, S. 124f. Er nennt 1905 als Einführungsdatum, Reich, S. 74 nennt 1903.
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1904–1918 Die GEM Lampe Der Leiter des GE Labors, Willis Whitney, arbeitete daher nach dem Tantaldebakel mit hohem Druck an einer neuen Lampe, die GE wieder nach vorne bringen sollte. Alle Glühlampenforscher zu Beginn des 20. Jahrhunderts mussten die selben Probleme lösen, „technische Schwierigkeiten“, wie Luxbacher erläutert: zur Bearbeitung der für Glühfilamente geeigneten Metalle war eine extreme Hitze notwendig; die benötigten Vorrichtungen waren dazu sehr kompliziert zu bauen, forderten sie doch eine exakte Temperaturkontrolle, einen hermetischen Luftausschluss, und viele andere komplexe Bestandteile. Es fehlte den Chemikern an technischem Wissen – viele waren der Meinung, diese Metalle könnten überhaupt nicht bearbeitet werden. Das erste Unternehmen, das dieses Forschungsproblem erkannte, war GE: Die Einrichtung des Research Labs war zu fast ausschließlich diesem Zweck geschehen.111 Der praktisch versierte Whitney verbesserte zusammen mit dem jungen Ofenspezialisten William Arsem zunächst den Lichtbogenofen Henri Moissans, der in den 1890ern mit seiner Erfindung den Grundstein zur Bearbeitung hochschmelzender Metalle gelegt hatte, und entwickelte daraus einen elektrischen HochtemperaturInduktionsofen, mit dem sich auch die höheren Temperaturen besser kontrollieren und halten ließen. Dieser Ofen bildete laut Luxbacher die notwendige Grundlage zur späteren Bearbeitung von Wolfram und Molybdän.112 Zunächst konnte Whitney den Kohlefaden mit einer Schicht aus gebranntem Graphit ummanteln und „metallisieren“: der Glühfaden nahm metallische Eigenschaften an, wurde härter, Widerstand und Schmelztemperatur stiegen an und keine Asche schlug sich mehr von innen am Glas nieder, wie es beim Kohlefilament üblich war. Die Lebensdauer des Filaments erhöhte sich um 20%, die Effizienz sogar um 50%. Die GEM lamp blieb totzdem weniger effektiv als die Konkurrenz mit etwa 4 lm/Watt. Jedoch war sie sehr viel billiger herzustellen und wich vom bisherigen Lampenstandard nur geringfügig ab. Whitney meldete 1904 das Patent an, 1905 kam die Lampe in den USA auf den Markt und wurde bis 1918 verkauft, wenn auch die Beliebtheit zugunsten der neuen Wolframlampe zurückging. Kostengünstige Produktion und niedriger Preis: die GEM lamp bedeutete – wenn auch kurzfristigen – Erfolg für GE.113 111 Luxbacher, S. 100. 112
Ibid., S. 101f.
113 Bright, S. 181–183, sowie Reich, S. 73f. In Europa fand die GEM lamp nur wenige Abnehmer:
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Coolidge und Wolfram Nach der Niederlage gegen Tantal und dem mäßigen Erfolg mit dem verbesserten Kohlefilament sammelte Willis Whitney nun Kräfte zur Attacke auf die Metalldrahtlampe: 1903 hatte das Advice Council die neue Marschrichtung vorgegeben. Whitney studierte alles verfügbare Wissen über Elektrochemie und traf eine Auswahl der effizientesten Metalle – Wolfram, Zirkonium und Molybdän. Wolfram hat mit 3420°C den höchsten Schmelzpunkt aller Metalle und erreicht fast den von Karbon. Auch in Europa war man mittlerweile auf Wolfram aufmerksam geworden: Die Österreicher Just & Hanamann sowie Kuzel & Lederer versuchten, Wolframdraht herzustellen. Auer von Welsbach hatte zwar alle in Frage kommenden Metalle durchprobiert, schätzte Wolfram aber nicht als geeignet ein.114 Der Namensbestandteil „Wolf“ stammt von der Eigenschaft eines Minerals in sächsischen Zinnerzen, das der Mineraloge Georgius Agricola im 16. Jahrhundert als lupi spuma (Wolfs-Schaum) bezeichnete: Das Mineral fraß Zinnerz angeblich wie ein Wolf. Später nannte man das Mineral Wolfram, von mhd. rām „Ruß, Dreck“: Es lässt sich leicht zerreiben und wirkt wie Ruß in der Hand. Im englischen, italienischen und französischen wird Wolfram als tungsten bezeichnet, vom schwedischen tung Sten (schwerer Stein).115 Wolfram wurde erstmals als Zusammensetzung aus Wolframit, Scheelit und anderen Erzen um 1800 beschrieben; Versuche, Wolfram zu benutzen blieben erfolglos wegen der extremen Brüchigkeit und Härte.116 Diese Erfahrung musste auch Whitney machen: Das harte Metall mit seinem extremen Schmelzpunkt schien zwar geeignet – aber es war viel zu porös um es zu verarbeiten. Whitney beauftragte Weintraub und andere Chemiker damit, Lösungen dafür zu finden.117 Er stellte neue auch neue Forscher ein. Das Team wuchs an auf 24 Männer, die allein Metallfilamentforschung betrieben. Im
dort war man bereits vom Kohlefilament abgekommen. 114
Luxbacher, S. 102f.
115 In Schweden selbst spricht man jedoch von Volfram. Zu den Eigenschaften von Wolfram vgl. Harry Binder, Lexikon der chemischen Elemente. Stuttgart 1999. Zur Etymologie vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 242002, S. 995–996. Vgl. auch John W. Howell und Henry Schroeder, History of the Incandescent Lamp, Schenectady NY 1927, S. 92–94. 116 Broderick, S. 80. 117
Reich, S. 75.
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Herbst 1904 wurden im Research Lab erste Forschungen und Ziehversuche mit Wolfram begonnen, gleichzeitig wurden andere Metalle getestet. Im Sommer 1905 liefen drei Projekte: Der Chemiker E.N. Beckwith testete ein Wolfram-Spritzverfahren, William Arsem arbeitete an der Purifizierung von Wolfram im Vakuum-Ofen und Ezekiel Weintraub sollte die Grundlagen erarbeiten zur Brüchigkeit von Wolfram und Thorium. Weintraub lehnte dieses Projekt jedoch ab und Whitney suchte weiter neue Forscher.118 Er stockte das Laborpersonal immer weiter auf: 1906 auf 44, ein Jahr später auf 150 Köpfe.119 Whitney stieß bei seiner Suche nach einem geeigneten Wolfram-Forscher auf William David Coolidge. Der ehemalige Student Whitneys am MIT hatte dort seinen Bachelor in Elektrotechnik abgelegt und in Leipzig in Physik promoviert. Seit sechs Jahren forschte Coolidge nun im MIT-Chemielabor. Er war laut George Wise ein brillianter Experimentator und Konstrukteur von Geräten. Coolidge vefügte bereits über großes, praktisches und metallurgisches Vorwissen über Wolfram und hatte bereits im MIT dazu geforscht.120 Zur Zeit als Coolidge bei GE begann, war wenig über Wolfram bekannt. Kein wissenschaftliches Wissen konnte die Basis für ein Verfahren bilden, man war gezwungen neues Wissen selbst zu schaffen.121 Durch Coolidges Ausbildung in Physik und Chemie wurde ihm genau das möglich. Whitney selbst war der reinen Theorie gegenüber eher ablehnend eingestellt und ermutigte die Forscher lieber zu breiten Versuchsreihen.122 Wie zuvor Whitney lehnte auch Coolidge das Angebot aus der Industrie zuerst ab; bei doppeltem Gehalt und einem Drittel der Zeit, das er weiterhin für sein MIT-Projekt aufwenden durfte, akzeptierte Coolidge nun doch. Er führte sein Projekt auch nebenher weiter – letztlich wurde die Arbeit bei GE aber doch zu intensiv, und wie Whitney vor ihm, wechselte Coolidge bald ganz in die Welt der Industrieforschung über.123 Er konzentrierte sich von Anfang an ganz auf die Wolfram-Forschung – mit der Unter118 Wise, S. 119. 119 Luxbacher, S. 103. 120 Wise, S. 120f. Zur Biografie von William Coolidge siehe John Anderson Miller, Yankee Scientist: William David Coolidge, Schenectady 1941. Außerdem die Erinnerungsschrift von Herman A. Liebhafsky, William David Coolidge: A Centenarian and His Work, New York 1974. 121 Reich, S. 114. 122
Ebd.
123 Reich, S. 75.
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stützung seines Kollegen Colin Fink – und stieg bald zum Assistenzdirektor des Labors auf.124 General Electric entging nicht, dass die Europäer mehrere neue Metallfilamente erforschten und auf den Markt brachten. Zwar waren es nur gesinterte Wolframfäden – also brüchige und verunreinigte Metallverbindungen und keine echten Drähte – aber sie waren bis zu 50% effizienter als das vorherrschende Tantal. GE-Vizedirektor Rice schickte Whitney daher mit dem Werksdirektor Howell im Frühjahr 1906 auf Europatournee; sie sollten die Lage sondieren und eventuell Patente aufkaufen, bevor Westinghouse ihnen zuvorkäme. Coolidge übernahm solange die Laborleitung. Whitney und Howell besuchten neben Augsburg, Budapest und Wien auch die Auergesellschaft in Berlin; Sie kauften dort die Lizenzen an der Auermethode für $100.000, sowie bei Siemens & Halske die Rechte an der Tantallampe für die USA. Andere Verfahren, wie das Spritzverfahren der Österreicher Alexander Just und Franz Hanamann, lehnte Whitney als unbrauchbar ab. Just & Hanamann hatten bereits ihre Methode patentiert: Wolfram(oxid) wurde zu Pulver zermahlen, mit Zucker, Alkohol oder Wachs als Binder gemischt, in Form gespritzt und zu einem harten, brüchigen, gesinterten Filament gebacken.125 Coolidge arbeitete während der Abwesenheit Whitneys im Juni 1906 an einem neuem Amalgamverfahren für einen Wolframdraht: Dabei mischte Wolframpulver mit Bismuth, Cadmium und Quecksilber zu einer ziehfähigen Masse. Dieses Amalgamverfahren verschaffte Whitney in Europa bereits Verhandlungsvorteile durch neues Wissen, wie Wise es beschreibt: „This new process […] served a useful bargaining purpose“126 Die entstandenen Amalgamdrähte wurden bereits versuchsweise gewendelt.127 Es wurden auch ein gesintertes Wolfram-Thorium-Filament und andere Verfahren getestet, etwa mit Kolloidpasten und Metallbindern wie Kupfer und Nickel. Aber alle Wolframfilamente, ob gespritzt, gesintert oder gewalzt, waren am Schluss brüchig und instabil.128 Im September 1906 machte sich Whitney wieder im GE-Labor daran, das Auer-Verfahren für die amerikanische Produktion zu adaptieren – doch es gelang ihm nicht. Dazu stellte sich heraus, dass das Verfahren nach geltendem US-Patentrecht nicht hinrei124
Luxbacher, S. 103.
125 Wise, S. 118; Reich, S. 75f.; Luxbacher, S. 103. 126
Wise, S. 121f.
127
Luxbacher, S. 103.
128
Bright, S. 195.
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chend zu schützen sein würde. Ein schwerer Schlag für Whitney. Der Druck auf ihn und das Labor wuchs mit jedem neuen Patent, das möglicherweise ein Konkurrent beantragte oder aufkaufte. Mehrere Forscher bei GE untersuchten zeitgleich insgesamt 13 verschiedene Metalldrahtverfahren.129 Coolidge verbesserte sein Amalgamverfahren, William Arsem purifizierte weiter Wolfram im Vakuumofen. Whitney und Coolidge gerieten in Konkurrenz: Cooldige kam mit seinem Projekt gut voran, Whitney war mit seinem Import des Auer-Verfahrens gescheitert. Es stellte sich heraus, dass der Wissensimport aus Europa nicht machbar war.130 Die Enttäuschungen stiegen im Labor, wie der Druck von Außen zunahm: Ständig behaupteten Europäer, neue Materialien für die Glühlampe zu benutzen: Kolloidmetalle, Kadmium, Chromium, Indium, Mangan, Molybdän, Osmium, Niobium, Platin, Tantal, Wolfram, Titan, Zirkonium und Zink. Der Konkurrent Westinghouse erhielt bereits Aufträge für seine Nernstlampe für die Ausleuchtung der New Yorker Pennsylvania Station.131 Im März 1907 begann Coolidge – sich des Marktwertes seines Wissens bewusst – lange Gehaltsverhandlungen mit GE, an deren Ende aber nur eine moderate Erhöhung stand. Dafür bekam er zusätzliche Hilfe durch den Elektrochemiker Colin G. Fink, der ebenfalls in Leipzig promoviert hatte.132 Coolidge gelang es, sein Wolframamalgam zum Draht zu ziehen, der bei unter 400°C ohne Bruch gebogen werden konnte: Er hatte erkannt, dass es weniger brüchig wurde, wenn man es bei etwa 370°C hämmerte. Das war wesentlich kälter, als es alle Theorien oder bisherigen Experimente voraussagten! Die überraschende Entdeckung schürte die Zuversicht, dass man reines Wolfram ebenso ziehen könne, nämlich durch thermische und mechanische Behandlung. Whitney sorgte für die Anerkennung von Coolidges Leistung, aber GE wollte das Amalgamverfahren nicht weiter verfolgen.133 1907 geriet GE immer mehr ins Hintertreffen und kaufte, um Westinghouse zuvorzukommen, europäische Patente auf: für $250.000 nun doch das Verfahren von Just & Hanamann, das Whitney zuvor abgelehnt hatte, und für $240.000 ein Patent eines
129
Luxbacher, S. 103; Reich, S. 76f.
130 Wise, S. 124f. 131
Ebd.
132 Wise, S. 126. 133 Ibid., S. 132.
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Österreichers namens Hans Kuzel.134 Mitte 1907 war das Just & Hanamann-Verfahren das beste auf dem Markt. GE und National begannen die Adaption, GE ließ das AuerVerfahren fallen. Das Metallfilament war unaufhaltsam vorangeschritten und hatte mittlerweile das Kohlefilament erreicht. Die Kohlelampe war mit 65 Mio. Stück Jahresverkauf auf der historischen Höhe und sank drastisch ab. Die Wolframlampe, noch aus brüchigem Hohlfilament, übernahm die Spitze.135 Der Druck auf GE stieg weiter – dort hatte man erst zwei Patente auf Metallfilamente. Entwickelte man jetzt keine, würde man lange abhängig sein von anderen. Im Sommer 1907 gab Whitney seine wissenschaftliche Karriere schließlich auf und konzentrierte sich nur noch auf die Industrie. Er hatte seit Jahren nicht publiziert und Grundlagenforschung gänzlich eingestellt.136 Mitte 1907 führte eine Krise der US-Finanzmärkte zu einer weiteren Krise bei GE: Das Budget des Labors wurde um 41% gekürzt; von 44 wurden 13 Forscher entlassen, der Rest bekam Gehaltskürzungen. Der Druck auf Whitney wurde exorbitant: Im September 1907 brach er mit einer Blinddarmentzündung zusammen. Es folgten Krankenhaus, Kur und drei Monate Florida. Coolidge übernahm derweil die Leitung des Labors. Das Research Lab hatte nach acht Jahren seinen Initialzweck, die Entwicklung eines neuen Lampenfilamentes, immer noch nicht erfüllt – Steinmetz sprach 1908 in einem Memorandum an Rice vom „Versagen des Labors“.137 GE entschied sich, nun lieber ausländische Patente zu kaufen. Das filament race schien verloren.138 Ende 1907 war Coolidge enttäuscht von der Industrieforschung und gab Wolfram fast völlig auf. Er suchte nach Möglichkeiten zur Publikation – und hatte die Wissenschaft nicht ganz vergessen.139 Im Frühjahr 1908 kehrte Whitney mit einer neuen Einstellung zurück: Er sah sich jetzt als Brücke von der Akademia zur Industrie. Vor allem sah er sich nun nicht mehr als Forscher, sondern als Verwalter und Organisator des Labors. Whitney nahm selbst 134 Luxbacher, S. 103f. 135 Die Zahl bezieht sich allein auf den Verkauf durch GE; vgl. Wise, S. 123. Der Wechsel ist an den Produktionszahlen ablesbar: 1914 wurden insgesamt in den USA nur noch 14 Millionen Karbonfilamentlampen produziert; vgl. Bright, S. 489, Appendix D. 136 Wise, S. 126. 137 Reich, S. 78. 138
Wise, S. 128f.
139 Ibid., S. 132f.
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keine Forschungsprojekte mehr an. Er diversifizierte das Labor, streute Projekte in alle Richtungen und ließ mehr Grundlagenforschung zu. Das Filamentproblem musste weiterhin jedoch gelöst werden, um für GE die Marktherrschaft zurückzuerobern. Coolidge forschte 1908 wieder am Wolframoxidpulver, Fink an Molybdän.140 Im Mai 1908 wurde Coolidge nach Europa geschickt, um seinen Amalgamprozess den britischen GE-Forschern beizubringen. Er machte Station in Hammersmith bei London und besuchte das Labor der Wolfram Metal Filament Lamp Ltd.; Dabei handelte es sich um eine Gemeinschaftsgründung durch die Britische GE-Niederlassung GEC, die Berliner DGA, sowie Just & Hanamann. Die Briten stellten schon seit 1907 Wolframfadenlampen her. Coolidge sah dort zum ersten Mal, dass Molybdän bei Zimmertemperatur verformt werden kann, ohne zu brechen. Der Analogieschluss zum verwandten Wolfram lag nahe. Beim darauf folgenden Besuch des DGA-Labors in Berlin konnte Coolidge im Juni 1908 das Phänomen näher beobachten.141 Er sah ein Verfahren, bei dem Molybdän thermisch und chemisch in Filamentform gebracht wurde, und das bei Raumtemperatur. Coolidge kannte mechanische Verfahren bereits aus seinen eigenen Hämmer-Versuchen, und zurück bei GE ermunterte Whitney ihn zu weiteren Tests: Wolfram und Molybdän wiesen viele Ähnlichkeiten auf und Coolidge glaubte an den Erfolg. Er glaubte, er müsse nur herausfinden, wie man Wolfram mechanisch bei Raumtemperatur bearbeiten konnte.142 Zusammen mit seinem Kollegen Colin Fink schaffte Coolidge es tatsächlich, zunächst Molybdän allein mit mechanischer Bearbeitung duktil zu machen. Der Analogieschluss zu Wolfram hatte den Erfolg bestimmt. Für Ziehversuche mit Molybdän musste der Anfang des Filaments angespitzt werden. Coolidges Ausbildungswissen in Chemie ließ ihn dieses physikalische Problem chemisch lösen: mit einer Elektrolyse in Potassium-Zyanid.143 Die wohl wichtigste Entdeckung, die Coolidge und seine Kollegen bei Wolfram feststellten, war jedoch die Veränderung der Struktur von Wolfram durch mechanische Bearbeitung: Wolfram und Molybdän verhalten sich genau entgegengesetzt zu allen anderen Metallen. Sie werden duktil, wenn ihr Struktur faserartig ist; wenn die Struktur kristallin wird, zerbrechen sie. Alle anderen Metalle können am besten über ihrer Glühtemperatur bearbeitet werden – Wolfram zerbrach. Jetzt kannte man den Grund: Wolfram musste 140
Ebd.
141 Luxbacher, S. 104. 142 Reich, S. 79f. 143 Reich, S. 115.
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also unter seiner Glühtemperatur bearbeitet werden, um duktil zu werden! Das war seit der Entdeckung von Wolfram das unüberwindbare Problem gewesen, das nie eine Bearbeitung des Metalls zugelassen hatte. Nun hatte man den Schlüssel zur Lösung, der der Konkurrenz fehlte. Werner Bolton war von allen anderen Forschern dem duktilen Wolfram am nächsten gekommen: Er hatte erkannt, dass Wolfram zuerst purifiziert werden muss, kam jedoch nicht auf die Idee der mechanischen und thermischen Bearbeitung – ihm fehlte das Wissen über das besondere Strukturverhalten von Wolfram.144 Nun hatte man zwar ein Schlüsselverständnis vom Material, und machbar war der Draht scheinbar auch. Lange Versuchsreihen zeigten, dass bei exakter Temperaturführung der mechanischen Bearbeitung die Temperaturgrenze für eine plastische Verformung gesenkt werden konnte. Die mechanisch-thermische Methode schien zu funktionieren. Wolfram musste unter der Glühtemperatur bearbeitet werden – wurde es aber zu kalt, zerbrach es ebenfalls. Über die genauen Temperaturen gab es aber keinerlei Vorkenntnisse. Coolidge und seine Kollegen stellten tausende kleiner Versuche an, bis Ende 1908 schließlich ein kleines Stückchen Wolframdraht hergestellt und durch fünf Diamantenhole gezogen werden konnte.145 Zeitweise waren an diesen aufreibenden Versuchen über 40 Personen beteiligt; mehr als 50% des Laborbudgets wurde aufgewendet.146 Mit Proben seines Wolframdrahtes reiste Coolidge Anfang 1909 zum zweiten Mal für GE nach Europa. Bei der DGA in Berlin traf er den Chemiker Fritz Blau und zeigte ihm den reinen Wolframdraht. Blau glaubte ihm zunächst nicht und wurde, als er die Echtheit feststellen musste, dermaßen hysterisch, dass Coolidge es mit der Angst bekam. Coolidges Entwicklung war scheinbar gut geheim gehalten worden.147 Zurück im GE-Labor, arbeitete Coolidge 1909 an einer Verbesserung des Sinterprozesses mit Vorkenntnissen aus seinem Wolfram-Pasteverfahren. Man suchte nun nach der optimalen Preßform, Körnung und Zeitdauer beim Verpressen des Wolframpulvers. Man erhielt zwar einen perfekten Sinterstab, aber das Material blieb sehr brüchig. Selbst der beste Schmied bei GE konnte nichts ausrichten, der Stab zerbrach ihm unter dem Hammer. Coolidge erkannte, dass der Temperaturentzug während dem Hämmern 144
Bright, S. 196.
145 Als Ziehhol bezeichnet man einen Trichter, durch den der Metallstab zu einem Draht gezogen wird. Oft ist auch von einer Ziehdüse (engl. die) die Rede. 146
Luxbacher, S. 104.
147 Miller, S. 65.
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eine Rolle spielen musste. Er konstruierte ein Walzwerk, das mit Starkstrom erhitzte wurde. Tatsächlich zerbrach der Rohling nicht, sondern erhielt eine faserartige Struktur; Nur war der entstehende Kantstab nicht zur Verarbeitung geeignet. Man suchte nach neuen Techniken zur Drahtherstellung.148 Ende 1908 besuchte Coolidge die Nadelfabriken der Eddy Machine Company auf Rhode Island und der Excelsior Needle Company in Connecticut. Er hört dort vom „swaging“, einer Rundhämmertechnik, in der kleine Hämmer von allen Seiten einen runden Rohling immer dünner klopfen. Coolidge bestellte eine solche Maschine, fand sie aber zuerst nicht geeignet – Wolfram war einfach zu hart. Der begabte Ingenieur passte die swaging machine selbst an, fügte Hämmer hinzu und musste die Hammerköpfe gegen härteres Metall tauschen, letztlich gegen Diamanten.149 Coolidge war immer wieder in Kontakt getreten mit Experten in anderen Feldern, um seine Versuchsreihen mit externem Wissen anzureichern. So holte er einen Edelsteinschleifer von der Waltham Watch Co., der der GE-Labormannschaft einen Monat lang die Grundlagen der Edelsteinschleiferei beibrachte. Ein gewisser C.A. Cowles von der Ansonia Brass and Copper Co. weihte Coolidge und seine Kollegen in die Benutzung der Diamantenziehhole beim Kupferdraht ein. Dieser Wissenstransfer und eigenes Ausprobieren spielte für Coolidge eine bedeutende Rolle: „we were guided, in the main, by the experiment rather than by metallurgical knowledge.“150 Es folgten weitere lange Versuchsreihen zur Verbesserung des gesamten Prozesses und Anpassung der Apparaturen: Die Transporteinrichtungen bei den Öfen mussten gleichmäßiger laufen, die Pressmasse des Rohlings musste zwischen groben und feinen Pulverkörnern ausgewogen sein, &c. Im Mai 1909 wurde bei GE der erster duktile Molybdändraht mit einer rein mechanischen Methode gezogen. Coolidge glaubte, das sei auch mit Wolfram möglich, bezweifelt aber eine Patentierungsmöglichkeit seines Hämmerverfahrens. An Whitney schrieb er: „almost the entire novelty in our final process for manufacturing drawn tungsten will be in the hot swaging […] the field has been pretty thoroughly covered.“151 Im Juni 1909 drängten Whitney und die Anwälte des GE-Patentbüros Coolidge, seinen 148 Luxbacher, S. 105. 149
Wise, S. 135.
150
Miller, S. 69.
151
Wise, S. 135, Anm. 7.
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Molybdänprozess auf Wolfram anzuwenden. Sie waren von einem Patent überzeugt und sollten recht behalten. Das Coolidgepatent sollte zu einem der wertvollsten überhaupt werden für GE und die Zukunft des Research Labs sichern.152 Vom Sommer 1909 an folgten Versuche, um die Rekristallisation des fertigen Drahtes zu vermeiden. Dazu zog man im Labor die Ingenieure der Harrison Lamp Works mit ihrer Produktionserfahrung zu Rate. Ende 1910 fand man auch dafür eine Lösung: kleine Mengen Thoriumoxid wurden zum purifizierten Wolframpulver als Verunreinigung hinzugefügt (doping). Sogleich übernahmen die Fabriken des lamp department das Verfahren und GE kündigte die duktile Wolframlampe öffentlich an. Grade waren die Maschinen zum Just & Hanamann-Verfahren aufgestellt worden, um in Produktion zu gehen.153 Mehrere Hunderttausend Dollar an Geräten allein waren dadurch hinfällig – trotzdem lohnte es sich für GE: Das Coolidge-Verfahren war günstiger und der Draht hochwertiger.154 1911 folgte die Markteinführung der Wolframdrahtlampe als Mazda–B. Seit 1909 hatte General Electric alle neuen Lampen unter der Marke „Edison Mazda“ zusammengefasst. Die neue Produktlinie revolutionierte den Lampenmarkt, so die Markenhistorikerin Leigh George: Erstmals wurden Lampen nicht mehr einzeln vermarktet, sondern GE fasste alle Einzelbezeichnungen und Typen zusammen. Der Name Mazda verweist auf den persischen Gott des Lichtes und des Wissens, Ahura Mazda, und stand im Orientalisierungstrend der US-amerikanischen Werbung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Marke symbolisierte eine weitere Neuheit: GE garantierte mit dem Gott des Wissens für geprüfte Leistung und gleichbleibende Qualität aller Lampen – durch herausragende Innovationen der internen R&D-Abteilung. Wie die Forschung war auch die Werbung bei GE zentralisiert und professionalisiert worden – und setzte ebenso neue Maßstäbe: der Slogan „The Sun‘s Only Rival“ für alle Mazda-Lampen war eine werbetechnische Meisterleistung, so George, und stand für technische Innovation als natürlichem Fortschritt.155 Es gab 25, 40, 60, 100 und 150 Watt-Lampen. Die neue Lampe leistete beeindruckende 10 lm/Watt, war damit 25% effizienter als jede Lampe zuvor und hatte bereits ein Nutzleben von 1000 Stunden, das sich bis heute nicht
152
Ibid., S. 135.
153
Luxbacher, S. 105f.
154 Wise, S. 136f. 155 Leigh George, „The Sun‘s Only Rival:“ General Electric‘s Mazda trademark and the Marketing of Electric Light, in: Design Issues 19 (2003), S. 62–71.
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geändert hat.156 Sie schwärzte zwar schneller als Pressfilamentlampen, aber der Draht konnte gewendelt werden und so waren die Mazda-B sehr vielseitig. Sie wurden als Haushaltslampe eingesetzt, aber auch in Autolichtern und Taschenlampen dienten sie als besser fokussierte Lichtquelle. Die neue Metalldrahtlampe bescherte GE erst einmal eine Million Dollar Verlust an Pressfilamenten, Lampen und Apparaten, die nun nicht mehr benötigt wurden.157 Sie war jedoch wesentlich stabiler und besser automatisiert herzustellen als alle anderen Modelle vor ihr: Die Preise sanken drastisch und man erlangte erstmals die genaue Kontrolle über die genaue Wattstärke der Endlampe. Bei der Edisonschen Kohlefilamentlampe wurde die Wattzahl eher geschätzt und musste mit aufwändigen Tests überprüft werden, woraufhin die Lampen erst zum Schluss der Herstellung klar einer Klasse zugeordnet werden konnten.158 Durch den geringeren Verbrauch der neuen Lampe fürchteten die Stromversorger um gigantische Verluste. Der Stromverbrauch nahm tatsächlich jedoch schnell zu: von den günstigen, zuverlässigen Lampen wurden schnell eine große Menge abgesetzt. 159 Bereits 1914 waren es mehr als 100 Millionen Stück, allein bei GE.160 Am 19. Juni 1912 erfolgte die Patentanmeldung des „Coolidge-Verfahrens“; das USPatent 1082933 mit dem Titel „Tungsten and Method of Making the Seam for Use as Filament of Incandescent Electric Lamps and for Other Purposes“ wurde am 30. Dezember 1913 erteilt.161 Die Anmeldung war eine Erweiterung vier früherer Anträge von 1906. Im Jahr der Anmeldung, 1912, hatten die US-Justizbehörden in einem Anti-Kartellverfahren das Monopol von GE aufzulösen versucht und die heimliche Unterstützung seines Konkurrenten National Electric Lamp Co. untersagt. GE hatte eine Scheinkonkurrenz betrieben, de facto aber eine Monopolstellung innegehabt. Gleichzeitig bestätigte das Gericht die Legalität des Wettbewerbsvorteils durch Patente. Das nun erteilte Coolidge-Patent wurde laut George Wise für GE zur wichtigsten Waffe bei der Eroberung des Weltmarktes.162 Insgesamt mehr als 4 Jahre Forschung und mehr als $100.000 156
Bright, S. 169. Siehe auch Tabelle 1 im Appendix.
157
Miller, S. 70.
158
Bright, S. 196f. sowie Reich, S. 80.
159
Miller, S. 70.
160
Wise, S. 123.
161 Bemerkenswert ist hierbei, dass die Patentschrift insgesamt elf Seiten umfasst und damit andere Patente der Konkurrenten und frühere Anträge von Coolidge weit überragt. 162
50
Ibid., S. 138.
kostete GE dieses Patent. Nachdem die Patentanträge geschrieben waren, veröffentlichten Coolidge und seine Kollegen ihre wissenschaftlichen Berichte. Diese stießen auf großes Interesse in der Chemiker- und Metallurgen-Gemeinschaft.163 Coolidge wurde auch mit dem Rumford-Prize der American Academy of Arts and Sciences ausgezeichnet, „for his invention of ductile tungsten and its application in the production of radiation“.164 Später wurde dieser Prize von Patentanwälten zur Argumentation der Einzigartigkeit von Coolidges Verfahren benutzt.165 Der Industrieforscher löste ein bis dato unlösbares Problem durch seine Kombination von Erfindungsgabe und Experimentiergeschick, persönlichem Wissen, Wissen über Techniken und seiner Ausbildung in Physik und Chemie.166 Der Erfolg 1912 war kein Einzelsieg: 1906–1910 waren 75% der Labormannschaft nur mit Filamentforschungen betraut, insgesamt 40 Forscher und Assistenten arbeiteten an duktilem Wolfram.167 Das Team um Coolidge bestand aus etwa einem Dutzend Forscher mit wissenschaftlichen oder technischen Abschlüssen. Der wichtigste darunter war Colin Fink, der sich selbst später als den wahren Erfinder des Prozesses bezeichnen sollte.168 Mit dem Erfolg kamen die Ressourcen zurück ins Labor: das Budget wuchs von $105.000 (1908) auf $163.000 (1911). Allein 1910 gingen mehr als 50% des Budgets und Forschungsaufwandes in den Wolframdraht. Die Forschungsausgaben von einem ganzen Jahr waren damit immer noch geringer die Lizenz des Auer-Verfahrens.169 Whitney zog aus der Rettung des Labors für sich die Schlüsse: Probleme des Konzerns mussten zuerst
163 Bright, S. 195 sowie Reich, S. 120. Die Publikationen erschienen vornehmlich in Zeitschriften der Ingenieurgemeinschaft. Von Coolidge sind hervorzuheben: William D. Coolidge, Ductile Tungsten, in: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers 29 (1910), S. 961–965; Ders. mit J. Howell und C.F. Scott, Ductile Tungsten and Metalfilament Electric Lamps, in: Engineering News 64 (1910), S. 7–9; Ders., Some Applications of Wrought Tungsten and Molybdenum, in: The Journal of Industrial and Engineering Chemistry 4 (1912), S. 2–4; Ders., Metallic Tungsten and Some of its Applications, in: Transactions of the American Institute of Electrical Engineers 31 (1912), S. 1219–1228. 164 Vgl. www.amacad.org/about/prizes.aspx sowie Reich, S. 118, Anm. 65. In der Literatur ist immer wieder fälschlicherweise die Rede von der Rumford-Medal. Diese Auszeichung wird aber von der britischen Royal Society verliehen und steht in keiner Verbindung zu Coolidge. 165 Erfolglos, denn zehn Jahre später wurde das Patent widerrufen – Coolidge hatte die Entscheidung der Gerichte bereits richtig vorausgeahnt. Reich, S. 120, Anm. 66. 166
Ibid., S. 120.
167
Reich, S. 80 sowie Luxbacher, S. 103.
168
Wise, S. 138.
169
$100.000 für das Verfahren gegenüber $81.000 an Laborbudget, vgl. Reich, S. 80.
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behandelt werden, Forschungsfragen zuletzt. Sah Whitney zu Beginn noch den Eigenwert der Forschung höher als die Ergebnisse an, so änderte sich das nun grundlegend. Ab 1912 stand die Verteidigung der GE-Patente durch Industrieforschung ganz oben auf der Agenda: „Defense had to come before diversification. And patents had to come before publication.“170 Das neue Wissen über Wolfram war auch nützlich in vielen anderen Bereichen. Neben Anwendungen vom neuen Werkstoff Wolfram etwa als Zündungskontakte in Kraftwagen oder als materielle Grundlage für theoretische Forschungen zur Elektronenemission, erfüllte Wolfram einen ganz anderen Zweck. Coolidge folgte nach der langen Arbeit an der Glühlampe wieder seinem Interesse an den Röntgenstrahlen, die er als Student am MIT kennengelernt hatte. Er entwickelte einen neuen Kern für die Röntgenröhre aus Wolfram und schuf damit eine wesentlich sicherere Technik, die in der Medizin große Anwendung fand. Die Designgrundlage der Röntgenröhre hat sich bis heute nicht wesentlich geändert. Das ist William Coolidges großes Verdienst, dafür wurde er letztlich bekannter als für seine Entwicklung von Wolframdraht.171 Günther Luxbacher hat beispiellose Arbeit geleistet, indem er den genauen Prozess der Herstellung dieses Wolframdrahtes nachgezeichnet hat.172 Die extreme Herausforderung, die ein solches Verfahren an Mensch und Maschine darstellt, lässt sich kaum begreifen, ohne sozusagen hinter die Abdeckung des Sinterofens zu blicken. Daher möchte ich selbiges verkürzt wiedergeben. Das „Coolidge-Verfahren“ Wolframsäure wurde unter Luftabschluss zu Wolframpulver reduziert. Die entstehenden Pulverkörner mussten in einer exakten Mischung stehen. War die Körnung zu grob, brach der Draht am Schluss auseinander – war er zu fein, platzte er bereits beim Hämmern. Das Wolframpulver wurde mit Thoriumoxid verunreinigt, um spätere Rekristallisationen im Draht zu verlangsamen. Mit einem Anfeuchter versehen (meist Aceton), füllte man das Pulver in stählerne Pressformen (Matrizen), die mit einem 170
Wise, S. 139.
171 Miller, S. 72–77. Coolidge forschte noch lange an der Röntgenröhre und reichte mehrere Patente ein, etwa US-Patent Nr. 1211092 (X-Ray Tube) oder US-Patent Nr. 1215116 (X-Ray Apparatus), beide wurden 1917 erteilt. vgl. Miller, S. 81–90. 172
52
Luxbacher, S. 107–113.
Druck von „zwei beladenen Güterwaggons“, also etwa vier Tonnen pro Quadratzentimeter das Pulver zu Kantstäben pressten. Die Stäbe maßen exakt 10 x 10 x 50cm. Man wollte sie zur Erleichterung der weiteren Schritte möglichst klein halten; zu kleine Stäbe jedoch zerbrachen bei der ersten Berührung. Die Kantstäbe wurden nun gebacken, um die Pulverkörner miteinander zu verbinden, in der Fachsprache als „Sintern“ bekannt. In einer Wasserstoffatmosphäre wurde Strom durch den Sinterofen geleitet, die Stäbe dicht unter dem Schmelzpunkt gebacken. Die gesinterten Stäbe wirkten bereits wie gegossenes Metall, im Glanz wie im Klang. Beim Sintern gab es zwei Stufen: Zuerst das mehrmalige Vorsintern in einem elektrischem Heraeus-Ofen mit Porzellanrohr bei bis zu 1300°C in abgeschlossener Wasserstoffatmosphäre.173 Dann folgte ein zweiter, geheim gehaltener Sintervorgang: der Kantstab wurde in 15 Minuten auf 2000°C aufgeheizt, zehn Minuten lang auf 2620–2650°C gebracht und fünf Minuten auf dieser Temperatur gehalten. Der Stab schrumpfte ca. 14% während des Sinterns. Das Ziel war die lückenlose Verbindung der Wolframkristalle im Kantstab durch ein Erhitzen auf die Rekristallisationstemperatur, die bei etwa 2/3 der Schmelztemperatur liegt. Das größte Problem dabei war der Temperaturabfall zwischen Stabkern und Oberfläche; man brachte daher gezielte Verunreinigungen mit einer homogener Lösung von fixer Schmelztemperatur ein, die einen Hohlraum beim Sintern verhinderte und den Schmelzpunkt der Gesamtmasse absenkte. 1912 benutzte man für diese Brückenlösung Eisen, Nickel und Calciumoxid. Das Sintern war ein äußerst komplexer Prozess, der „sich metallurgisch und werkstoffmäßig am Rande des damals Machbaren“ bewegte.174 Die gesinterten Kantstäbe wurden in Rundhämmermaschinen (swaging machines) auf etwa vier Meter gestreckt und in Rundstäbe verwandelt. Da Wolfram härter als Stahl ist, forderte die Bearbeitung extrem harte Hämmerköpfe, die teilweise aus Diamant bestanden, sowie mehrere Durchgänge mit hoher Frequenz. Die Rundstäbe wurden immer dünner geklopft und am Schluss durch Ziehhole aus Diamant zu zähem Wolframdraht gezogen. Das Wolfram musste erhitzt werden, sonst war es nicht bearbeitbar; aber nicht zu sehr, sonst brach es. Einer der härtesten Werkstoffe der Welt musste
173 Heraeus-Öfen wurden von der deutschen Firma Heraeus hergestellt, einer Platinschmelze, die auch Vakuumöfen fertigte. Vgl. „Heraeus“ (Art.), in: Florian Langenscheidt und Bernd Venohr (Hg.), Lexikon der deutschen Weltmarktführer. Die Königsklasse deutscher Unternehmen in Wort und Bild, Bd. 3, Köln 2010. 174 Luxbacher, S. 108.
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auf einen hundertstel Millimeter oder weniger gezogen werden. Da kein Mehrfachzug möglich war, wurde der dünne Stab wieder und wieder durch einen Ziehstein gezogen; insgesamt waren etwa hundert verschieden große Hole notwendig. Ab 0,1 mm war der Draht duktil in jedem Sinne und ziehbar bei Zimmertemperatur. Der fertige Draht hatte eine silberweiße Farbe, hohe Zugfestigkeit, war geschmeidig, zäh und sehr elastisch. Die Sintertechnik selbst war auch in Europa bekannt: Otto Ruff, Professor für anorganische Chemie und Elektrochemie an der TH Danzig, baute um 1910 einen Sinterofen, der dem GE-Ofen gleichkam.175 Obwohl die Technologie prinzipiell also kein Geheimnis war, gab es Probleme bei der Übernahme der amerikanischen Technik in Deutschland. Luxbacher schildert am Beispiel Osram, wie die dortigen Ingenieure und Arbeiter fremde Maschinen vorgesetzt bekamen, plötzlich in feineren Dimensionen als je zuvor arbeiten sollten, aber nur verbrauchte Ziehsteine zur Verfügung hatten.176 Dies zeigt exemplarisch, wie fehlendes lokales Wissen einen Transfer von Technik behindern kann. Darauf werde ich weiter unten zurückkommen. Fazit des „filament race“ Die großen Konzerne der Elektroindustrie hatten sich um 1900 zum Ziel gesetzt, durch technische Innovationen wirtschaftliche Marktkontrolle zu erlangen. Beim dabei entstehenden „Rennen“ um die Innovation des Glühlampenfilaments waren General Electric die ersten, die den begehrten Wolframdraht fertigen konnten. Es war ein großer Schritt von den ersten Labors im 19. Jahrhundert bis zur Reform des Industrielabors ab 1912. Zu Beginn des Jahrhunderts fehlte bei allen Glühlampenherstellern eine eklatante Menge an Wissen. Plötzlich musste man mit Chemie und Metallurgie systematisch arbeiten, wo zuvor mit Geduld und Erfahrung ausprobiert wurde.177 Die meiste Innovation, so Luxbacher, leisteten auf der Suche nach neuem Material die kleineren Unternehmen und Einzelerfinder. Erst ab 1911, mit der Gründung des Drahtkonzerns und einem „patentjuristischen Großaufgebot“ dominierten die Universalfirmen wieder den Markt.178 Nachdem man von der Kohlefilamentlampe abgekommen war, hatten 175 Ebd. 176 Luxbacher, S. 115. 177 Luxbacher, S. 453. 178 Ibid., S. 454.
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sich viele am Wolfram versucht – aber waren an der Brüchigkeit und Härte des Materials gescheitert. Zwei Herausforderungen musste man zur Herstellung von Wolframdraht überwinden: die chemische Purifizierung des Erzes und die Entwicklung eines mechanisch-thermischen Verfahrens. Jahrelang war keinem metallurgischen Labor diese Aufgabe geglückt.179 Erst eine groß angelegte, praktisch ausgerichtete industrielle Forschung mit extra dafür konstruierten Apparaturen, Werkzeugen und neuen Erkenntnissen konnte Wolfram in einen verwertbaren Rohstoff verwandeln. William Coolidge und ein großes Team von Forschern im GE-Labor, das eigens für diesen Zweck gebaut worden war, schufen duktiles, reines Wolfram aus chemisch gereinigtem Scheelit und Hübnerit. Dieser Erfolg brachte nicht nur GE an die Spitze des Weltmarktes, sondern war entscheidend in der Entwicklung der Glühbirne, wie Günther Luxbacher erläutert: „Der Prozess, der nur mit Hilfe umfangreicher chemischer, metallurgischer, ofenund maschinentechnischer Kenntnisse durchführbar war, wurde zum Schlüsselverfahren der modernen Glühlampenindustrie schlechthin.“180 Dazu wurde die komplexe Technik, mit der man Wolframdraht nun herstellen konnte, „zu einem der wichtigsten innovativen Impulsgeber der Metallindustrie im 20. Jahrhundert“. Die Versuche Coolidges wurden der Ausgangspunkt der Sintertechnik und die wichtigsten Hartmetallverfahren des 20. Jahrhunderts sind für Luxbacher ein „spin-off“ von Coolidges Glühlampenforschung.181 Für General Electric und S&H waren es weniger die Innovationen selbst, als mehr die Patente, die ihnen Marktkontrolle brachten – wer über sie verfügte, war abgesichert. Wer sie nicht hatte, musste zahlen und sich dem Diktat der Patentfirma beugen. Die Gewinner im filament race waren auch die Gewinner im folgenden Patentstreit: General Electric. Sie hatten ihre Erkenntnisse auch in europäischen Werkstätten gewonnen, so Luxbacher, hätten sie aber mit mehr Ehrgeiz bis zum Ende verfolgt und in Technik umgewandelt.182 Durch geschickte Patentpolitik gelang es Siemens nach 1911, keine Lizenzen auf die überlegene Wolframlampe von GE zur eigenen Herstellung nehmen zu müssen. Man 179
Ibid., S. 452.
180
Ebd.
181
Luxbacher, S. 116.
182
Ibid., S. 452.
55
drohte, den europäischen Markt für GE zu blockieren, indem man mittels vieler Einzelpatente das Coolidge-Verfahren anfechten und den Streit in die Länge ziehen werde. Siemens, AEG, DGA und General Electric trafen schließlich eine Marktabsprache und teilten Europa unter sich auf.183 In Deutschland gingen die Primärrechte am CoolidgeVerfahren zunächst an die AEG, wegen des 1904 geschlossenen Lizenzabkommens mit GE; 1911 erlaubte das sogennante Drahtkonzern-Abkommen auch der DGA und S&H Zugriff darauf. Siemens gab das Verfahren seiner Lampenaufhängung in den Patentpool, das bei der Tantallampe entwickelt worden war und bei einem langen Filament eine stabile Lampe garantierte.184 Allerdings musste man für diesen Gewinn eine bittere Pille schlucken: Um zu garantieren, dass vor europäischen Gerichten gegen GE und AEG keine Patentverfahren möglich waren, verleugnete S&H bei der Gründung des Drahtkonzerns offiziell seine eigenen Leistungen im Bereich Wolfram.185 Die Deutschen Firmen, die abseits von GE standen, intensivierten ihre Forschung aus einer berechtigten Angst vor Abhängigkeit. So entwickelte etwa 1913 die Julius Pintsch AG in Berlin ein eigenes Wolfram-Verfahren. Es wurde 1913 zum Patent angemeldet und 1916 erteilt. Bei Pintsch war kein Hämmern notwendig: es wurden extrem lange Fäden erzeugt durch eine Mischung aus Spritzen und Sintern. Damit blieb Pintsch die einzige deutsche Glühlampenfabrik frei von Lizenzzwängen, bis in die 1920er Jahre. Bei der Bildung des weltweiten Phoebus-Kartells 1924 sicherte Pintsch sich einige Vorteile, die durch die lange Unabhängigkeit ihres Verfahrens erst möglich wurden.186 Wir sehen an der Innovation des Glühlampenfilamentes, dass Wissen offensichtlich eine große Rolle spielte: Wissen von Werkstoffen, über Patente und Preise, Wissen von Elektrizität und Ofenkonstruktion wie auch Wissen über den Wert der eigenen Forschung und die Situation des Marktes. Was davon ist nun wissenschaftliches Wissen? In welche Kategorien fallen die anderen Bezeichnungen? Kann man überhaupt Wissen so definieren, dass man damit das Wissen im Prozess der Innovation untersuchen kann? Im folgenden Kapitel habe ich daher insgesamt 14 Autorinnen und Autoren ausgewählt, die sich in verschiedenen Disziplinen damit befassen, was Wissen ist und wie wichtig es ist für Gesellschaft, Unternehmen und Innovation.
183 Marsch, S. 124f. 184 Bright, S. 197f. 185
Luxbacher, S. 351.
186
Ibid., S. 115f.
56
3. Wissenstheorien Um eine Auswertung der historischen Fallstudie am Beispiel der Entwicklung des duktilen Wolframdrahtes durch William Coolidge zu ermöglichen, benötige ich Begriffe und Kategorien von Wissen, anhand derer ich nachzeichnen kann, welches Wissen Coolidge benutzte, hatte oder erzeugte. Wissen ist ein breiter und schwierig zu fassender Begriff; viele Theorien mit unterschiedlichen Ansätzen beschäftigen sich damit. Eine Eingrenzung ist bereits die Auswahl des Feldes, in dem ich Wissen untersuchen will: Innovation, Technik und Industrieforschung. Dazu habe ich im Folgenden verschiedene Theorien ausgewählt, aus den Disziplinen Wissensphilosophie, Wirtschaftswissenschaften und Managementlehre, Sozialwissenschaften, Historiographie, sowie Konzeptionen von Vertretern der Innovationsforschung. Zunächst möchte ich die Autorinnen und Autoren mit ihren Begriffen von Wissen vorstellen, um danach zu überprüfen, ob und wie man diese Begriffe nun auf mein historisches Fallbeispiel anwenden kann.
3.1 Philosophie
Michael Polanyi Wo es um Wissen in der Wissenschaft geht, darf Michael Polanyi nicht fehlen. Der Philosoph schuf 1967 mit seinem Werk „The Tacit Dimension“ eine neue Kategorie des Wissens, die seither in sämtlichen Sammlungen von Wissensarten widerhallt – sei es bei Wissenschaftshistorikern, Philosophen, Wirtschaftswissenschaftlern oder Soziologen. Sein Begriff des schweigenden Wissens (tacit knowledge) und vor allem des impliziten Wissens als wichtige und streitbare Art des Wissens ist aus der gegenwärtigen Literatur nicht herauszudenken.187 Eine ausführliche Darstellung von Polanyis Wissensbegriff wäre wünschenswert, ist aber im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Wichtig ist hier Polaynis Unterscheidung von explizitem und implizitem Wissen und die Unter-
187 Michael Polanyi, The Tacit Dimension, Garden City 1967. Bei der Auswahl meiner Autoren rekurrieren besonders die Wirtschaftswissenschaftler auf Polanyi, da er eine sehr persönliche Seite des Wissens beleuchtet.
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scheidung von knowing und knowledge:188 Explizites Wissen ist erklärbar, formalisierbar und daher auch archivierbar und transferierbar. Doch das explizite Wissen ist für Polanyi nur ein Teil des persönlichen Wissens. Der größere Teil ist das, was Polanyi als schweigend ansieht, also etwas, das niemals erklärt, veräußert oder in eine Formel gebracht werden kann, teilweise sogar der Person selbst nicht einmal bewusst ist Die Wirtschaftswissenschaftlerin Birgit Renzl fasst diesen Aspekt zusammen.189 Demnach gibt es zwei Bewusstseinsebenen: das unterstützendes Bewusstsein im Hintergrund, sowie das zentrale Bewusstsein (focal awareness). Eine Integration beider Ebenen bildet das implizite Wissen. Auf beiden Ebenen, so Renzl, liefen mentale Prozesse gleichzeitig ab, wie man an einem Beispiel sehen könne: Wenn man einen Nagel in die Wand schlüge, geschehe die unterschwellige Wahrnehmung des Hammerstiels, des Gewichts und Ortes, &c. im unterstützenden Bewusststein, das wir gleichsam als Werkzeug benutzen. Der Fokus der Aufmerksamkeit liege auf dem Nagel, dessen Position in der Wand, dazu auf den Hände, &c.; diese kommunizierbare Überlegung geschehe durch das zentralem Bewusstsein. Unsere Wahrnehmung im Hintergrund sei demnach Wissen, auf das wir uns verlassen können; die Wahrnehmung im Fokus dementsprechend Wissen, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten. Das eine, betont Renzl, schließe das andere aus, eine völlige Trennung sei wichtig. Wenn wir den Fokus auf unterschwellige Prozesse lenkten, ginge deren Bedeutung und Hilfe verloren; wie ein Klavierspieler, der auf seine Finger schaut oder ein Redner, der nur auf die Grammatik achtet, verlören wir den Fokus und könnten die eigenliche Aufgabe überhaupt nicht vollbringen. Daraus schließt Renzl: Wir wissen eine ganze Reihe von Einzelheiten, ohne sie identifizieren zu können. Da der Großteil von Wissen dieser Art sei, sei er vom Management eines Unternehmens schlecht zu steuern. Man müsse diese Prozesse daher indirekt durch einen geeigneten Nährboden im Unternehmen unterstützen, auf dem das implizite Wissen der Mitarbeiter gedeihen könnte. Die wirtschaftswissenschaftliche Sicht auf Polanyi teilt Georg Schreyögg zwar, er jedoch
188 In den folgenden Darstellungen verschiedener Denkansätze wird immer wieder auch Polanyis Ansatz erwähnt – daher begrenze ich mich an dieser Stelle auf die knappe Darstellung der zwei gegensätzlichen Sichtweisen von Wissen als Prozess und implizitem Wissen als Können, die beide weiter unten näher erklärt werden. 189 Birgit Renzl, Zentrale Aspekte des Wissensbegriffs – Kernelemente der Organisation von Wissen, in: Boris Wyussek (Hg.), Wissensmanagement komplex. Perspektiven und soziale Praxis, Berlin 2004, S. 27–42.
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vertritt eine gegensätzliche Meinung.190 Für ihn ist Polanyis Theorie zwar interessant, aber mit der Begrifflichkeit stimmt Schreyögg nicht überein: implizites Wissen sei kein Wissen. Polanyis Begriff bedeute eine Rekursion auf einen (empirischen) Sachverhalt und enthalte Aspekte des Verstehens und Könnens, die nicht in Worte gefasst seien und die dies auch nicht (vollständig) ermöglichten. Implizites Wissen, so Schreyögg, sei „analoges Wissen“, dem Handeln zugrunde liegendes embodied knowledge, also letztlich eine Art Intuition oder Erfahrungsschatz. Er sieht Polanyis Wissen daher nicht als Wissen, sondern als Können an und vertritt eine klare Gegenposition zu Autoren wie Renzl und anderen, die implizitem Wissen eine hohe Bedeutung beimessen und dessen Prozesscharakter hervorheben. Hier lässt sich bereits die Kluft erkennen, die sich durch alle Disziplinen zieht und das Feld der Wissensforscher spaltet. Jean-François Lyotard Die Skepsis, mit der manche Autoren Polanyi begegnen, findet man in gleicher Heftigkeit auch bei dem Philosophen Jean-François Lyotard – allerdings nicht gegen Polanyis Ansatz, sondern gegenüber dem Alleinstellungsmerkmal wissenschaftlichen Wissens: Wie in Kapitel 2 bereits erwähnt, beschäftigt sich Lyotard in seinem 1982 erschienenen Bericht „Das postmoderne Wissen“ mit der heutigen Gesellschaft, in der Wissen eine große Rolle spiele.191 Er nähert sich mit seiner Definition von Wissen als narrativem Wissen an die Sprachspiele Ludwig Wittgensteins an, die jeweils nicht ineinander übersetzbar sind und so eine Myriade an parallelen Diskursen erschaffen. Lyotard geht vor allem auf die Legitimation wissenschaftlichen Wissens ein. Eine Aussage müsse dazu eine bestimmte Menge an Bedingungen erfüllen, die von einem ‘Gesetzgeber’ festgelegt würde. Dann erst würde die Aussage im Diskurs der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Betracht gezogen. In vormoderner Zeit, so Lyotard, habe Wissenstransfer stattgefunden durch die Überlieferung via Erzählung. Eine Legitimation des Wissens erfolgte durch die Tradition der Überlieferung, also wurde durch die Art des Wissenstransfers das Wissen bestätigt. Eine Erzählung bei Lyotard ist, wie Georg Schreyögg zeigt, eine Idee vom Können. Die Erzählung lässt beim Zuhörer so Kompetenzen entstehen, die 190 Georg Schreyögg & Daniel Geiger, Kann implizites Wissen Wissen sein? Vorschläge zur Neuorientierung im Wissensmanagement, in: Boris Wyussek (Hg.), Wissensmanagement komplex. Perspektiven und soziale Praxis, Berlin 2004, S. 43–54. 191 Lyotard 1986, siehe Anmerkung 21. Bedeutsam sind vor allem Kapitel 8 und 9 über die Legitimierung des Wissens, S. 87–111.
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sowohl zu einer Leistung führen, als auch die Kriterien liefern, um diese Leistung und die Kompetenzen selbst zu bewerten. Eine Erzählung transportiert die Bildung für eine gute Performance, wie Schreyögg sich ausdrückt. Diese Erzählung ist bei Lyotard stets abhängig vom Umfeld, von der Kultur – und mit ihr auch das transportierte Wissen. Das narrative Wissen bestehe mithin aus verschiedenen Sprachspielen, die in einer Erzählung mit verschiedenartigen Aussagen ineinander griffen. Narratives Wissen braucht Lyotard zufolge damit keine „wissenschaftlich gültigen“ Beweise, um Wissen zu sein. Die Bewertungskriterien seien allein in den Erzählungen selbst enthalten.192 In der modernen Zeit hätte die Wissenschaft eine dieser Erzählungen als denotatives Sprachspiel ausgegliedert und privilegiert. Das Kriterium der Annehmbarkeit einer Aussage sei zu ihrem Wahrheitswert geworden.193 Damit sei es nun die Art und nicht die Überlieferung, die das Wissen legitimiere. Lyotard zeigt das Problem der Privilegierung auf: Eine Legitimierung durch die Art könne ja erst erfolgen, wenn die Art bereits festgestellt wurde – dies sei einzig durch die Erzählung möglich. Diese Legitimierung des Wissens sieht Lyotard in zwei geschichtsphilosophischen Entwürfen: in einer eher politischen „Erzählung der Emanzipation“, einer Aufklärung im Sinne Kants, vertreten durch die kritische Frankfurter Schule. In dieser Erzählung wird Wissen zum wissenschaftlichen Wissen, wenn es zur Emanzipation des Menschen von der Fremdbestimmung beiträgt. Die eher philosophische „Spekulative Erzählung“ des Deutschen Idealismus, bei Humboldt und Hegel, sieht nach Lyotard Wissen als wissenschaftliches Wissen, wenn es zur Bildung eines spekulativen Geistes beiträgt. Wenn nun dieser „spekulative Geist“ in der Wissenschaft aber über sich selbst spekuliert, wird das Erkenntnissubjekt zum Erkenntnisobjekt. Eine Trennung ist nicht mehr möglich und ohne Unterscheidung hat Lyotard für diese Meta-Erzählung nur Skepsis übrig. Bei der Erzählung der Emanzipation sieht er das Problem, dass aus der Wissenschaft keine präskriptive Aussage gewonnen werden kann. Sie könne keine anderen Sprachspiele legitmieren, und auch nicht sich selbst, da sie eines unter vielen sei. Sie könne keine Metasprache bilden, die andere Sprachspiele zusammenfasst und sich also nicht privilegiert hervorstellen. Lyotard zeigt diese Begrenztheit etwa an Gödels Theorem, der Heisenbergschen Unschärferelation und an Mandelbrots Fraktaltheorie.194 192
Schreyögg, S. 49f.
193
Lyotard, S. 80–83.
194 Frank Elster, Der Arbeitskraftunternehmer und seine Bildung. Zur (berufs-)pädagogischen
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3.2 Wirtschaftswissenschaft Birgit Renzl Wo andere neue Formen des Wissens aufsprießen sehen – oder neue Arten, mit Wissen umzugehen, wie Lyotard – sieht die Wirtschaftswissenschaftlerin Birgit Renzl gerade den Wert antiker Wissensdefinitionen für die heutige Unternehmensführung. Dabei zeigt sie interessante Typisierungen von Wissen auf, argumentiert, dass Wissen sich nicht einfach als Objekt transferieren lasse und plädiert für ein indirektes Wissensmanagement.195 Renzl betont den Ressourcencharakter von Wissen im Unternehmen und den Unterschied von Information und Wissen. Sie betont drei Aspekte des Wissens: (1) die implizite Dimension, die Wissen als theoretisches und praktisches Wissen begreife, entgegen einer eindimensionalen Darstellung von allein theoretischem Wissen; (2) die Handlungsorientierung des Wissens, als seine subjektive Anwendung in einer konkreten Situation zur Problemlösung, immer mit Bezug auf personales Handeln; und zuletzt (3) die soziale Konstruktion des Wissens in Prozessen zwischen beteiligten Personen. Für Renzl spielt der Handlungsaspekt die größte Rolle. Sie argumentiert daher gegen die „traditionelle Ansicht“ in den westlichen Industrieländern, Wissen als explizites, rationales Objekt anzusehen. Die Definition von Wissen als theoretischem Abstraktum wird oft auf den griechischen Begriff der episteme zurückgeführt; Renzl listet daher auch die anderen drei Formen des Wissens griechischer Philosophen auf, die nur selten erwähnt werden: (a) episteme sei die abstrakte Verallgemeinerung als Gesetzmäßigkeit und als „Wissen über etwas“ leicht transferierbar; (b) techne sei die Fähigkeit oder das Vermögen, eine Aufgabe zu vollbringen, mithin praktisches Wissen zur Aufgabenlösung; (c) phronesis sei die praktische und soziale Weisheit, ein einmaliges, persönliches Wissen aus Erfahrung und gemeinsamer sozialer Praxis, eine Art Verständnis
Sicht auf die Paradoxien subjektivierter Arbeit, Bielefeld 2007, S. 229f. 195 Renzl, s. Anm. 183. In ihrem Aufsatz verarbeitet Renzl offenbar Ansätze von Wissen aus unterschiedlichen Quellen, wie etwa von Lyotard, Foucault oder Derrida, die sie nicht immer kenntlich macht.
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gesellschaftlicher Belange und damit kontextgebungen und nur schwer transferierbar; (d) mètis sei letztlich die auf Vernunft beruhende Intelligenz, die Cleverness, also unvorhersehbares, intuitives Wissen, praktisch, komplex und nicht transferierbar.196 Besonders implizites Wissen spielt für Renzl eine große Rolle. Für sie bietet diese Wissensart eine Dimension mit verschiedenen Bedeutungskomponenten: Demnach ist implizites Wissen erstens kontextbezogen, also nicht formalisierbar. Es sei nicht, wie oft angenommen, das fehlende Bewusstsein des impliziten Wissens, das eine Formalisierung unmöglich mache, sondern seine Einzelfallabhängigkeit. Zweitens habe implizites Wissen einen Prozesscharakter, es sei mehr knowing als knowledge; wissende Personen fügten einzelne Wissensaspekte zusammen und integrierten sie zu einem Prozess, zum Beispiel beim Fahrradfahren. Drittens enthalte implizites Wissen auch internalisierte Elemente: Wissen werde durch praktische Erfahrung über die Zeit erlernt und bilde eine Expertise, die sich fundamental von Buchgelehrsamkeit unterscheide. Viertens sei das persönliche Urteilsvermögen von Bedeutung, mit dem man Unterschiede erkennen und Unterscheidungen treffen müsse; somit stelle Wissen ein Bedeutungsurteil über einzelne Elemente dar und führe zur Integrierung einer Auswahl. Zuletzt enthalte implizites Wissen eine intuitive Komponente, die unbewusste, mentale Prozesse bedeute. Das könne man auch als Wahrnehmung ohne Reflexion betrachten oder als spontanes, intuitives Handeln (knowing-in-action). Die Handlungsorientierung des Wissens zeigt Renzl weiter am Akt des Wissens (knowing), der sich als Erkennen, Tun, Denken und Wahrnehmen manifestiere und begleitet werde von mentalen Bewusstseinsprozessen. Polanyi unterscheidet ebenfalls zwischen knowing und knowledge: „knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing“.197 Bereits John Dewey habe 1922 das Wissen als Prozess, als Teil des Handelns begriffen, und in einer pragmatischen Sichtweise gegen die cartesianische Trennung von Denken und Handeln argumentiert. Knowing sei daher konkretes, dynamisches Handeln von Menschen; der Akt sei situations- und problemabhängig im Gegensatz zum know196 Philippe Baumard, Tacit Knowledge in Organizations, London 1999, S. 53–55 sowie JeanChristophe Spender, Making Knowledge the Basis of a Dynamic Theory of the Firm, in: Strategic Management Journal 17 (1998), S. 45–62, hier S. 49; Auflistung vgl. Renzl, S. 32. 197
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Polanyi zit. nach Renzl, S. 36.
ledge, dass Renzl als abstrakt, statisch und universell gültig bezeichnet. Wie wir bei in der etymologischen Einführung bereits gesehen haben, ist Kennen und Können nahe beieinander. Für Renzl bedeutet das: „Das Wissen einer Organisation zeigt sich in den Aktivitäten der Organisationsmitglieder und somit den Produkten und Leistungen des Unternehmens“.198 Ohne Wissen, schließt Renzl, gebe es keine (kognitiv anspruchsvolle) Handlung. Solch wissensgeleitete Handlungen schufen wiederum neues Wissen, führten zu einer Weiterentwicklung und Revision des Wissens. Daher werde Wissen permanent (re)konstruiert; während des Handelns werde permanent selektiert und kategorisiert. Das zeichne den Prozess des Wissens aus. Wissen entsteht für Renzl vor allem im sozialen Kontext, niemals nur in einer Person. Wissen könne nicht wie ein Paket von einer Person zur nächsten verschoben werden, sondern sei immer kontextgebundener und situationsbezogener Prozess.199 Nonaka und Takeuchi Als kontextgebunden wird Wissen auch von den japanischen Wirtschaftsprofessoren Ikojiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi hervorgehoben, die mit ihrem 1995 erschienenen Buch „The Knowledge Creating Company“ einen Bestseller der Businesswelt vorlegten.200 Wie Renzl behandeln sie das implizite Wissen als besonders wichtige Ressource, gehen aber anders als Polanyi davon aus, dass es sich in explizites Wissen übersetzen lasse. Nonaka & Takeuchi untersuchen den Erfolg japanischer Unternehmen wie Honda oder Matsuhita mit dem Blick auf Wissen als „einzig wichtiger Ressource“ heutiger Ökonomie.201 Die untersuchten Unternehmen, so die Autoren, seien deswegen so erfolgreich, weil sie eigenes „Unternehmenswissen“ geschaffen hätten. Dabei verstehen sie Wissen ganz im Gegensatz zu Taylor nicht als formales, systemisches, explizites Wissen, das problemlos mit Daten, Formeln und universellen Prinzipien mitteilbar ist. Die japanischen Unternehmer sehen Wissen als etwas persönliches, schwer 198 Renzl, S. 37. 199 Ibid., S. 40. 200 Ikojiro Nonaka & Hirotaki Takeuchi, Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, Frankfurt a.M. 1997 (Original jp. 1991). Siehe auch Elster, S. 34–36. 201
Nonaka, S. 17.
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mitteilbares, informelles an. Es handle sich bei dem Wissen, das wir sehen, nur um die Spitze des Eisberges – die Einsichten, Ahnungen, Intuitionen seien aber auch Wissen; Unternehmen könnten nun eigenes Wissen schaffen, wenn sie dieses im Einzelnen verankerte Wissen vom impliziten in einen expliziten Zustand als Information überführten. Informationen würden zwischen Individuen vermittelt, der Empfänger stelle daraus selbst wieder Wissen her, das dann handlungsrelevant werde. Wissensbeschaffung durch Wissensaustausch findet nach Nonaka & Takeuchi auf vielen Ebenen und Bereichen im Unternehmen statt: mit Personalrotation und Informationsredundanz. Der Philosoph und Informationstheoretiker Rafael Capurro beschäftigt sich in seiner „Einführung in den Informationsbegriff“ ebenfalls mit den beiden Japanern und stellt deren Wurzeln bei Michael Polanyi fest.202 Die Arten von Wissen bei Nonaka & Takeuchi seien daher: Implizites Wissen als Grundlage des objektiven Wissens und explizites Wissen, das zwar veräußert werden könne, sich aber auch im Individuum befinde. Implizites Wissen heißt bei Nonaka & Takeuchi: Erfahrungswissen des Körpers, gleichzeitiges Wissen über das Hier und Jetzt und analoges Wissen der Praxis. Dagegen zeichnet sich explizites Wissen als Verstandeswissen des Geistes aus, als Sequentielles Wissen über Da und Damals oder als Digitales Wissen der Theorie. Die Umwandlung der Wissensarten ineinander schaffe neues Wissen, und das könne man mit der „Wissensspirale“ oder dem sogenannten SECI-Modell nachzeichnen. Addiert man explizites zu explizitem Wissen, entsteht eine Kombination. Die Überführung von explizitem zu implizitem Wissen nennt man Internalisierung, das Gegenteil Externalisierung. Kombiniert man Implizites mit Implizitem Wissen, so wird das als Sozialisation bezeichnet. Das SECI-Modell beschreibt die Reihenfolge der Wissensspirale: Socialisation, Externalisation, Combination, Internalisation. Für die Externalisierung geben Nonaka & Takeuchi ein einprägsames Beispiel: In den 1980ern sollten Ingenieure eines Industriekonzernes eine automatische Brotmaschine konstruieren. Das funktionierte soweit auch, das einzige Problem: die Maschinisierung des Teigknetens funktionierte nicht richtig, das Produkt war viel zu fest. Obwohl man die Standardknetmethode nachgebildet hatte und in einem Analysevergleich von Bäckerteig und Maschinenteig sogar Röntgenbilder eingesetzt hatte, blieben die Techniker erfolglos. Ein Team von Ingenieuren ging bei einem Bäcker in die Lehre und lernte sein „Geheimnis“ durch Beobachten und Nachahmen in der Praxis: er dehnte 202 Rafael Capurro, Einführung in den Informationsbegriff, online: www.capurro.de/infovorlkap1.htm, 2000, S. 1–23.
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und drehte den Teig, das Drehen war den Ingenieuren entgangen. Mit diesem Wissen, das sie aus dem impliziten Handeln expliziert hatten, wurde die Brotmaschine ein großer Erfolg. Nonaka & Takeuchi ziehen aus ihrer Theorie den Schluss, dass Wissensvermittlung eine vorwiegend implizit bleibenden Tradition sei, die keine Aufklärung restlos explizieren könne. Daraus folge auch ein Bewusstsein der Begrenztheit der Wissenschaft. Neues Wissen lasse sich auch und vielleicht sogar besser durch eine steigende Erkenntnis der impliziten Dimensionen von Wissen entdecken.203 Georg Schreyögg Wo andere Wirtschaftswissenschaftler wie Nonaka & Takeuchi oder Birgit Renzl die Wichtigkeit impliziten Wissens betonen, argumentiert Georg Schreyögg dagegen für „richtiges“ Wissen und gegen einer „Verwässerung“ des Begriffes. Der Wirtschaftswissenschaftler Georg Schreyögg beschäftigt sich mit dem Konzept von Wissen im Management, dem Wissen von Organisationen und vor allem der Verwaltung von Wissen. In seinem Aufsatz mit Daniel Geiger von 2004 untersucht er das „implizite Wissen“ und fragt, ob das überhaupt „richtiges Wissen“ sei.204 Dabei folgt er einem systemtheoretischen Ansatz von Wissenschaft und darüberhinaus einem sehr positivistischen. Wissen sei demnach stets überprüfbar, gültig und qualifiziert. Sonst müsse man von Meinung sprechen, besser von Können, und keinesfalls von Wissen. Wissen sei zudem ein zeitfester Bestand, transferabel, objektiv und archivierbar. Eine Verbindung zwischen Wissen und Können zieht Schreyögg nicht. Er spricht vom „Wissen in Organisationen“, worunter er eine Art Wissenskörper versteht, der nicht an ein Subjekt gebundenes disembodied knowledge in sich vereint. Dieses umfasse Fakten, Regeln, dokumentierte Erfahrungen, &c., die nach bestimmten Regeln reproduzierbar seien. Schreyögg kritisiert die unscharfen Wissensdefinitionen, die nicht nur Können, sondern oft auch Informationen, Meinungen oder sogar Emotionen einschlössen und statiert: Wenn Wissen alles wird, wird Wissen letztlich nichts. Damit deckt er einen fundamentalen Widerspruch in der aktuellen Debatte auf, in der Wissen zwar zu etwas Besonderem, unserer Gesellschaft ganz Eigenem erklärt wird – letztlich in Definitionen aber auf praktisch alles ausgeweitet wird. So werde die Besonderheit zur Gleichheit und die Wissensgesellschaft zum Paradox. 203
Nonaka, S. 70–76.
204
Schreyögg, s. Anm. 185.
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Für Schreyögg bedeutet Wissen letztlich nur wissenschaftliches Wissen, auch wenn er sich Mühe gibt, von einem szientizistischen Weltbild Abstand zu nehmen. Die Qualifizierungsmethode der Wissenschaft stellt für ihn das non plus ultra dar, und so erklärt er: es gebe zwei Ordnungen der Beobachtung, bei denen durch ein Prüfverfahren Aussagen in Wissen verwandelt würden. Eine Aussage werde systematisch geprüft und für Wissen befunden, wenn sie der Entscheidung „wahr“ entspräche. Jedem System gesteht Schreyögg zwar mit einem Verweis auf Luhmann eine eigene Entscheidungsdualität zu – bei der Wissenschaft wäre das im Kriterium wahr/falsch zu sehen, bei der Wirtschaft entsprechend erfolgreich/unerfolgreich, bei den Juristen gerecht/ungerecht, &c. – das Prüfverfahren selbst jedoch sieht er überall nach dem Modell der Wissenschaft gestaltet. Andere Modelle lässt er nicht gelten. Das Monopol jeder Wissenserschaffung liegt damit für Schreyögg noch immer im rational-objektiven Modell. Nicht-Wissen sei dann die Negation von Wissen, also „alles was nicht Wissen ist“ und nicht fest beschreibbar. Um Aussagen aber in Wissen verwandeln zu können, müssen sie explizit sein, so Schreyögg. Darin liegt auch sein Hauptargument gegen „implizites Wissen“, etwa bei Polanyi oder Nonaka & Takeuchi. Was als implizites Wissen bezeichnet wird, hält Schreyög nicht für Wissen. Es handle sich um Fertigkeiten, die im Wesentlichen unverstanden und nicht vollständig durchdringbar seien. Dieses Können sei keiner Argumentation zugänglich, man könne kein Qualifizierungsverfahren anwenden, somit auch kein Wissen erhalten. Außerdem sei Polanyis Argumentation, implizites Wissen sei Wissen, weil es erfolgreichen Handlungen zugrunde liege, fehlerhaft: Polanyi habe ex-post argumentiert, und vermute nur hinter einer erfolgreichen Handlung, die nicht restlos kausal auf explizites Wissen zurückgeführt werden kann, eine Art implizites Wissen. Schreyögg schließt daher: es sei möglich, dass es unerklärliche Elemente der Handlung gebe, aber diese seien kein Wissen, sondern Können. Das narrative Wissen nach Lyotard verfüge gegenüber dem impliziten Wissen über artikulierbare oder artikulierte Aussagen, die ein implizites Beurteilungsverfahren durchlaufen hätten, bei Bedarf also nochmals geprüft und reflektiert werden könnten. Hier geht Schreyögg wieder von einem rein rationalen, überschaubaren und unabhängigen Modell eines kollektiven Prüfverfahrens aus, wie er es in der Wissenschaft wähnt. Obwohl sich Schreyögg von einem szientizistischen Begriff von Wissen loszusagen versucht, folgt er genau dieser Denkrichtung – die sich in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur, vor allem im Managementbereich, nur allzu oft wiederfindet.
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Rafael Capurro Ob Wissen nun ein impliziter Prozess ist, oder etwas, das ein Qualifizierungsverfahren durchlaufen hat – die Frage bleibt weiterhin: Wie ist Wissen eigentlich aufgebaut? Der Philosoph Rafael Capurro beschäftigt sich in seiner „Einführung in den Informationsbegriff“ naturgemäß mit der Unterscheidung zwischen Wissen und Information und fasst dabei einige Theorien zu Wissen zusammen.205 Er zeigt den Unterschied zwischen Schreyögg, der Patente und Routinen in den Mittelpunkt seiner Definition rückt und etwa den Japanern Nonaka & Takeuchi, für die Wissen die einzelnen Mitarbeiter des Unternehmens verkörpern. In unserem Zusammenhang ist jedoch vor allem Capurros Darstellung der sogenannten „Wissenstreppe“ von Interesse. Dieses Modell begreift Wissen als Ansammlung von Informationen im Kontext und wurde im Umfeld des relativ jungen Wissensmanagements entwickelt, auch bekannt als Wissenslogistik. Die Wirtschaftswissenschaftler sahen sich vor der Aufgabe, Wissen irgendwie zu kategorisieren und möglichst Profit daraus zu ziehen – konnten aber mit den Makrodefinitionen und schwammigen Pamphleten nichts anfangen. Daraus entstand eine sehr griffige Definition von Wissen, die einer linearen, hierarchischen Struktur folgt. Capurro zitiert den Unternehmer Albrecht von Müller, der 1997 Information als die Ressource bezeichnet und Wissen als die Veredlung.206 Dabei repräsentierten Daten symbolisch bestimmte Sachverhalte, z.B. die Anzeige „25°C“. Information seien dann Bündel von Daten in einer propositionaler Struktur, z.B. die Aussage: „In München ist es am 24.5.1997 25°C im Schatten“. Zuletzt sei die systematische Verknüpfung dieser Informationen dann Wissen. Damit könne man eine prognostische oder explanatorische Erklärung leisten. John Gundry bezeichnete 1995 bereits Daten als „0-dimensional; a fact“, Informationen auf der nächsten Stufe als „1-dimensional; a difference that makes a difference; relevant data“ und letztlich Wissen als „2-dimensional; human capability to act/decide/plan; a web/body/map of information“.207 Im Wissensmanagement, so Capurro, verstehe man Wissen daher als kontinuierlichen Anreicherungsprozess von Zeichen; wobei Zeichen und Syntaxregeln Daten ergeben, Daten in der
205 Capurro, s. Anm. 198. 206 Albrecht von Müller, Denkwerkzeuge für Global Player, in: Ulrich Krystek & Eberhard Zur (Hg.), Handbuch Internationalisierung: Globalisierung – Eine Herausforderung für die Unternehmensführung, Berlin 1997, S. 465–473. 207
vgl. Capurro, S. 5.
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Kontextinterpretation dann Information und Information letztlich in der Vernetzung und Nutzung im Handlungsfeld als Wissen gelte. Wissen entstünde demnach durch langsames und stetiges Strukturieren der Informationen. Im Wissensmanagement begriffe man Wissen daher als individuell, personengebunden und schlecht abstrahierbar; Informationen dagegen würden tradiert und im Rahmen von individuellen Wissensnetzen (wieder) zu Wissen. Der Träger der „organisationalen Wissensbasis“ ist für Capurro daher das Individuum.
3.3 Sozialwissenschaft
Hans-Dieter Kübler Der Wissensbegriff scheint nicht nur in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur, sondern vor allem bei Soziologen schon seit mehreren Jahrzehnten große Konjunktur zu genießen. Der Medienwissenschaftler Hans-Dieter Kübler gibt in seiner 2009 erschienenen Monographie „Mythos Wissensgesellschaft“ eine sehr umfassende Übersicht über verschiedene Ansätze von Wissensgesellschaft und Wissen, hauptsächlich aus dem Feld der Soziologie.208 Primär geht es Kübler darum, die ausufernde Benutzung von „Wissen“ ohne Definition einzugrenzen, daher trägt er unterschiedliche Ansätze von Autoren des 20. Jahrhunderts zusammen. Meist sei die Rede von Wissengesellschaft, so Kübler, wenn Informationsgesellschaft gemeint sei und andersherum. Die beiden Begriffe würden meist synonym, sogar additiv benutzt. Wenn unterschieden werde, dann meine die Informationsgesellschaft die Technisierung der Gesellschaft, meist unter ökonomischen Perspektiven; Wissensgesellschaft meine dagegen die universelle Modernisierung aller Lebensbereiche; dieser Begriff werde in der Bedeutung auch von der UNESCO genutzt. Dem Fortschrittsmodell, das die Entwicklung von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft nachzeichne, so Kübler, schließe meist ein vereinfachtes Bild von Wissen mit ein. Der Soziologe Robert E. Lane etwa sprach vom rationellen Denken, das nun endlich hereinbreche und das Leben Aller verbessere. Damit zeigt Kübler bereits eine Form der Wissensdefinition auf, nämlich die von Wissen als wissenschaftlichem, d.h. objektivem, rationalem, der Natur entrungenem Faktum. 208 Kübler, S. 89–105.
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Dabei spielt weniger die Form des Wissens als mehr die Methode des Wissenserwerbs eine Rolle: überprüfbare Experimente, objektive Standards, &c. Neu sei in der Wissensgesellschaft, dass Wissen durch neue Technologien „digitalisiert“ worden sei, und sich die Bedingungen der Nutzung, der Vertreibung, Speicherung &c. von Wissen fundamental änderten. In dieser traditionellen Denkweise wird Wissen als Objekt gesehen, das gespeichert werden kann – nur die Art des Speicherns ändert sich.209 In den Wirtschaftswissenschaften gilt laut Kübler Fritz Machlup als Vorbild, vor allem wenn es um die Einbindung von Wissen in Wirtschaft geht. Machlup zeigte in „The Production and Distribution of Knowledge in the United States“ 1962 ein erhebliches Wachstum von „Wissensproduktion“ am Bruttosozialprodukt der USA 1898–1958. Kübler zufolge wurden die von Machlup erhobenen Daten zur empirischen Grundlage u.a. für Daniel Bell (1973) und Peter Drucker (1969), die beide zur Standardisierung der Berechnungen des „Vierten Sektors“ (Dienstleistungs- und Informationswirtschaft) erheblich beigetragen hätten. Machlup hatte, so Kübler, quantifizierende Parameter für eine volkswirtschaftliche Produktion von Wissen gesucht, dabei aber keine Trennung von Information und Wissen vorgenommen, sondern fünf Arten von Wissen unterschieden:210 Zuerst praktisches Wissen (oder Kenntnis), das nützlich für die Arbeit sei. Machlup unterteilt diese Form noch in professionelles Wissen, Arbeitswissen, Arbeiterwissen, politisches Wissen, Hauhaltswissen und anderes praktisches Wissen. Daneben exisistierten laut Machlup intellektuelles Wissen für Unterricht und Allgemeinbildung, außerdem Wissen zum Zeitvertreib, spirituelles Wissen, das sich in der Religion äußere und letztlich ungewolltes Wissen, das meist gleich wieder vergessen werde.211 Das praktische Wissen hält Machlup jedoch für die wichtigste Form: „Perhaps one might say that the questions of truth, accuracy and verifiability matter only for practical knowledge, not for the other types of knowledge.“212 Weiter zurückgehend im 20. Jahrhundert findet Kübler die Ursprünge der Wissenssoziologie im Deutschland der 1920er, bei Max Scheler. Dieser kennt als Formen
209
Kübler, S. 94f.
210 Fritz Machlup, The production and distribution of knowledge in the United States, Princeton 1962. 211 Machlup, S. 21f. 212
Machlup, S. 24.
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des Wissens: die Religion, die Metaphysik und die Wissenschaft. Wissenschaftliches Wissen ist also weder die Einzige noch die wesentliche Form des Wissens. Wenigstens zu Beginn des Jahrhunderts ist Wissen noch ein existenzielles Phänomen, das eine Wirkung mit unterschiedlichen Zielen ausübt: das Bildungswissen dient zur Entfaltung der Person; das Erlösungswissen ist ein Werdensbestandteil der Welt; das Herrschafts- oder Leistungswissen letztlich ist für Scheler ein Werkzeug zur Beherrschung und Umbildung der Welt für menschliche Zwecke und Ziele. Darin könnte man die auch die Technisierung des beginnenden 20. Jahrhunderts sehen, die mehr und mehr maschinisiert und automatisiert. Ebenfalls in drei Kategorien teilt der Philosoph und Soziologe Alfred Schütz 1932 den Wissensbegriff.213 Bei ihm sei Wissen, so Kübler, ein Verfahren, das die Lebenswelt (re)konstruiere und interpretiere. Schütz listet drei Arten des Wissens auf: Erstens das Gewohnheitswissen, das aus drei Unterarten besteht: (a) Fertigkeiten, also das am stärksten automatisierte Gewohnheitswissen, etwa Schwimmen, Essen, &c.; (b) Gebrauchswissen, also bereits „völlig selbstverständliche“ Tätigkeiten, etwa Kopfrechnen oder ein Ei braten; und (c) Rezeptwissen, das am wenigsten automatisiert ist und etwa spezielles Berufswissen wie Wetterkenntnisse darstellt. Neben dem Gewohnheitswissen gibt es zweitens die Erfahrungen: sie schaffen nach Schütz Vertrauen in die Konstanten der Welt, dienen also als Gebrauchsanleitung für Unbekanntes. Die dritte Art nennt Schütz Typisierungen. Sie machen durch Komplexitätsreduktion die Welt überschaubar. Für Schütz ist Wissen insgesamt individuell, dynamisch, kontingent, sozial und kulturell bestimmt. Kübler hebt hervor, dass Schütz bereits 1932 mit der „naiven Vorstellung eines konsistenten und konstanten Wissensreservoirs aufräumt“.214 Von Schützens Schülern, den Konstruktivisten Berger und Luckmann sei daraus die Soziologie des Alltagswissens (1966) entstanden. Wissen sei dort eine Bedeutungs- und Sinnkonstruktion, ohne die es keine Gesellschaft gebe. Kübler schließt, dass es dadurch per definitionem keine „Nicht-Wissensgesellschaft“ gebe. Menschen hätten immer schon Erkenntnisse aus natürlichen Prozessen gewonnen, zu abstrahieren und zu kodifizieren versucht. Von den Wurzeln der Wissenssoziologie springt Kübler letztlich zu Luhmann, der den Wissensbegriff weiter ausgeführt und vor allem weiter „entsubstantiiert“ habe. Wissen sei somit zu einer systemtheoretischen Funktion von Kommunikation geworden. Wir 213 Kübler, S. 102–104. 214
70
Kübler, S. 104.
sehen also bei Kübler eine Entwicklung des Wissensbegriffes in der Soziologie, von Grundkategorien hin zur Entsubstantiierung als Kommunikations- oder Wahrnehmungsprozess. Peter Weingart Ein weiterer Vertreter der Soziologie, der sich stark mit dem Begriff der Wissensgesellschaft auseinandersetzt, ist Peter Weingart. Er gehört der Gruppe der sogenannten Systemtheoretiker an, die Gesellschaft in parallel existierende Subsysteme aufgliedern, etwa in Wissenschaft, Staat und Wirtschaft. Für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist hier die immer wiederkehrende Notation von Wissen als „Ware“. In „Die Stunde der Wahrheit“ beschäftigt sich Peter Weingart 2001 unter anderem auch damit.215 Weingart geht es um die Frage der Kopplung der gesellschaftlichen Subsysteme Wirtschaft und Wissenschaft, besonders um die Trennung der Systeme. Er kommt dabei zu dem Schluss, die beiden Systeme näherten sich einerseits durch starke Interaktion einander an – blieben aber weiterhin getrennt. Es gebe noch genügend Forschungsarbeit für Soziologen. Wissen begreift Weingart als Gut, mit dem Profit generiert werden kann und das über bestimmte Transferprozesse von der Wissenschaft in die Wirtschaft wandert. Eine genauere Definition findet sich bei Weingart jedoch nicht. Implizit geht er davon aus, das Forschungsergebnisse als Objekte – also Publikationen, Formeln und Schriftstücke im weiteren Sinne, sowie eventuelle Artefakte – und als personengebundenes Wissen in den Köpfen der Wissenschaftler existiere. Sowohl Forscher als auch Fachkräfte trügen ein Wissen, dessen Inhalt auch über die Ausbildung kontrolliert werden könne. Letztlich geht Weingart nicht darauf ein, was genau Wissen ist – aber es ist eine klare Abgrenzung gegenüber der Luhmannschen Definition von Wissen als Kommunikationsaspekt zu beobachten. In Weingarts Vorstellung ist Wissen ein Objekt, das gehandelt werden, woran man Rechte besitzen und das sich an bestimmten Orten befinden kann.
215 Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001. Hier vor allem S. 103–111.
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Klaus-Peter Buss & Volker Wittke Ähnlich wie Weingart besprechen auch die Sozialwissenschaftler Klaus-Peter Buss und Volker Wittke den Wissensbegriff unter dem Schlagwort „Wissen als Ware“.216 Sie verstehen jedoch etwas anderes, sehr viel konkreteres darunter. Für Buss und Wittke bedeutet Wissen: Daten, die mit Intellectual Property Rights geschützt werden und so einen Marktpreis erhalten. Den Autoren geht es um die Biotechnologie, die sich als Branche seit den 1980er Jahren entwickelt. Laut Buss und Wittke findet sich in den Forschungslabors der Biotechnologie erstmals eine ganz neue Form der Forschung, nämlich Wissen als Geschäftszweck. Es entstünden neben den Pharmakonzernen und Brachenriesen kleine Start-Ups, die lediglich Forschung betrieben und keine Produkte hervorbrächten. Sie lieferten Forschungsergebnisse in Form von Datenbanken als Zulieferer an die großen Konzerne und ersparten jenen damit aufreibende Detailforschung (suppliers of innovation). Wissen als Ware seien dann entweder Patente auf Gene oder biologische Verfahren, die an die Großkonzerne verkauft würden oder Lizenzen auf Datenbanken, deren Inhalt meist nicht patentierbar ist. Dabei werde wissenschaftliches Wissen, das an sich ein öffentliches Gut darstelle und aus zitierfähigen Werken von Wissenschaftlern bestehe, zu einer Ressource, die einen Marktpreis erhielte und von der die Öffentlichkeit ausgeschlossen werde. Dem wirtschaftlichen Wert von Wissen als Lizenzgebühren oder Patentrechte entspreche in der Wissenschaft die Reputation in der wissenschaflichen Gemeinschaft, die u.a. durch Publikationen errungen werde und für eine Karriere und weitere Forschungsgelder benötigt werde. Die beiden Wertsysteme Wissenschaft und Wirtschaft schließen sich damit gegenseitig aus. Denn in der Wissenschaft werde der erste zu einem Thema publizierende Autor als Urheber angesehen, in der Industrie dagegen werde eine frühe Publikation durch die Geheimhaltung der Patentforschung verhindert.
216 Klaus-Peter Buss & Volker Wittke, Wissen als Ware. Überlegungen zum Wandel der Modi gesellschaftlicher Wissensproduktion am Beispiel der Biotechnologie, in: SOFI-Mitteilungen 29 (2001), S. 7–21.
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3.4 Innovationsforschung
Ulrich Schmoch Wie genau die Unterteilung in Subsysteme sich auf die Trennung von Forschung in akademische und Industrieforschung auswirkt, das untersucht Ulrich Schmoch. Der Innovationsforscher am Fraunhoferinstitut betrachtet in seiner Monographie von 2003 die „Hochschulforschung und Industrieforschung“, und zwar vor allem den Wissenstransfer und die Interaktion der beiden Forschungsarten.217 Schmoch geht es um die Messbarkeit von Innovation und ob Publikationen und Patente als Indikatoren gelten können. Er gibt auch einen historischen Abriss ab 1800 und sehr gute Definitionen von Wissenschaft und Technik.218 Eine genaue Definition von Wissen liefert Schmoch nicht, aber die Wahl der Indikatoren lässt auf einen praktisch messbaren Ansatz schließen. Wissenschaftliches Wissen ist somit in den Forschungsergebnissen zu suchen. Die können als wissenschaftliche Publikationen, Patente oder auch als Ergebnisse von experimenteller Entwicklung in den Forschungslabors als Artefakte auftreten. Dabei behandelt Schmoch eingehend die Frage nach der Definition von Forschung und ob Industrieforschung nun Wissenschaft sei und kommt zu der Antwort: Ja, wenn die wissenschaftliche Gemeinschaft Industrieforschung als Teil von sich akzeptiere. Schmoch sucht nach einer Interaktion von Wissenschaft und Wirtschaft aus systemtheoretischer Perspektive, da Technikgenese hauptsächlich in der Wirtschaft stattfinde. Es gebe zwar immer mehr Interaktion zwischen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen seit den 1980er Jahren, aber „Technologie“ als soziales System sei bisher nicht definiert worden.219 Schmoch untersucht verschiedene Systemtheoretiker daraufhin, ob und wie diese die Industrieforschung bezeichnen – als Wissenschaft, als Wirtschaft oder als etwas anderes? Günter Ropohls Modelltheorie soziotechnischer Systeme (1989) sei sehr abstrakt und vereinfacht, aber anschaulich. Die Technikentwicklung bestehe bei Ropohl aus
217
Schmoch, s. Anm. 24.
218 Die Definitionen Schmochs von Forschung, Wissenschaft und Technik wurden bereits in Kapitel 2 erläuert. Im Folgendenden soll es um seinen Wissensbegriff gehen. 219 Schmoch, S. 63.
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Wissensproduktion, dann Güterproduktion, dann Güterverwendung, mit In- und Outputströmen zwischen den drei Schritten. Technikentwicklung sei ein rekursiver Prozess, Wissensproduktion habe aber keine Rekursion auf sich selbst. In „verwissenschaftlichen Unternehmen“ könnten Wissens- und Güterproduktion in einer Entität zusammenfallen, dann aber sind In- und Outputströme nicht mehr klar zu sehen. Schmoch bewertet diese Theorie als zu vereinfacht und nicht brauchbar.220 Die Theorie sozialer Systeme bei Luhmann (1984 respektive 1990) sei wesentlich komplizierter. Sie sehe Wissenschaft und Wirtschaft als zwei autonome Subsysteme von Gesellschaft mit einer schwachen Kopplung; selektiv wanderten Leistungen von einem zum anderen und würden dort aber nach eigenem Code weiter prozessiert. Wissen spiele dabei als Teil der Kommunikation eine wichtige Rolle. Angewandte Forschung, auch die Industrieforschung sei Teil der Wissenschaft. Eine Organisation (Unternehmen) könne gleichzeitig im System der Wissenschaft und im System der Wirtschaft operieren. Schmoch führt gegen Luhmann an, seine Supertheorie sei wenig hilfreich, da nicht empirisch und zu wenig detailliert. Organisationen und Menschen könnten Systeme zwar durchdringen, aber Systeme nicht andere Systeme, also sei keine Interpenetration von Wissenschaft und Wirtschaft möglich.221 Schmoch schließt daraus, dass eine andere Theorie nötig sei zum Fokus auf Wissenschaft und Wirtschaft, etwa die Theorie von Giddens (1984), die ein soziales System als Interaktionszusammenhänge von Akteuren begreift; soziale Systeme würden miteinander verschränkt und ergäben so die Gesellschaft.222 Noch besser sei die Interpretation von Mayntz (1988): hier existierten funktionelle Teilsysteme durch eine sinnhafte Spezialisierung. Die Systemzugehörigkeit definiere sich über Handlungszusammenhänge und deren Institutionalisierung. Der Eigen-Sinn unterscheide sich vom SinnBezug. Schmoch zeigt dies am Beispiel der Industrieforschung: Der Eigen-Sinn sei Forschung (Wissenschaft), systemischer Sinnbezug aber sei die Wirtschaft; Industrieforschung könne also beides gleichzeitig sein.223 Was nun aber genau das Wissen in dieser Industrieforschung sei und welche Arten es annimmt, das findet sich bei Schmoch nicht ausführlich behandelt.
220 Ibid., S. 63–68. 221 Ibid., S. 68–73. 222 Ibid., S. 77. 223 Ibid., S. 79f.
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Wendy Faulkner Die Innovationsforscherin Wendy Faulkner dagegen untersucht genau diese Frage und versucht in ihrem Aufsatz von 1994, Wissen in seinen verschiedenen Arten in der Innovation herauszuarbeiten – genauer: Wissen in Research & Development.224 Dabei arbeitet sie mit einem sehr umfangreichen Wissensbegriff, der Wissen, Können, Erfahrung und Fertigkeiten miteinschließt. Sie zeigt verschiedene Theorien zum Wissen in der Industrieforschung auf und plädiert für eine neue Taxonomie des Wissens in der Innovation, die eine größere Übersichtlichkeit und Vergleichbarkeit ermöglichen soll. Faulkners Vorschlag umfasst drei Dimensionen des Wissens: (1) die konkrete Bezeichnung des Wissens („type of knowledge“), etwa: Fertigkeiten, die zur Forschung benutzt werden; Theorien; Fähigkeit, Wissen zu lokalisieren; &c. (2) die mit dem Wissen verknüpfte Aktivität als Ordnungskriterium: Faulkner nennt fünf einordnende Kategorien unter der Frage „Wissen wovon“, etwa: knowledge of the natural world; knowledge of the final product; &c und letztlich (3) der Typ des Wissens („broad character“), also etwa: schweigend, lokal, komplex, universell, Wissen als Verstehen, &c. Wie bereits in Kapitel 2 erläutert wurde, arbeitet Faulkner dazu an der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem und technischem Wissen: wissenschaftlich seien etwa Naturgesetze, Theorien, Wissen über Versuchstechniken und Wissen über die aktuelle Forschungsfront. Dagegen sei technisches Wissen eher: fundamentale Designkonzepte; Kriterien und Spezifikationen; Daten (als Ergebnisse von Massentests); theoretische Werkzeuge und Methoden; praktische Überlegungen und Erfahrung; Fähigkeit, mit Apparaturen zur Entwicklung eines Artefaktes umzugehen (design instrumentalities).225 Faulkner unterscheidet auch verschiedene Typen von Wissen, etwa das Formelle Wissen, das artikuliert und transferabel ist wie Naturgesetze, Theorien und Prinzipien. Daneben existierten: das Konkrete Wissen, über etwas greifbares, nicht abstrahiertes; das Meta-Wissen, also reflektiertes „Wissen über Wissen“; Wissen als Verfügen über Informationen und Wissen als Verstehen; Wissen als Verfügen über Fähigkeiten und Fertigkeiten. Oder das tacit knowledge, das Faulkner als unartikulierte Kenntnisse versteht, die durch informelle Interaktion von Forschern ausgetauscht werden – sowohl zwischen verschiedenen Firmen als auch zwischen industrieller und akade224 Wendy Faulkner, s. Anm. 29. 225 Diese Definitionen technischen Wissens bezieht Faulkner vom Technikhistoriker Paul Vincenti, s. Anm. 36.
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mischer Forschung. Diese Art des Wissens, ähnlich dem durch konkrete Verortung ausgezeichneten local knowledge, ist laut Alfonso Gambardella unverzichtbar für den Wissensaustausch. Gambardella untersucht 1992 die US-Pharmaindustrie und stellt fest, dass interne Industrieforschung nicht nur neues Wissen generiert, sondern vor allem der Schlüssel zur Verwertung externen Wissens ist.226 Faulkner zeigt daraus, dass etwa Patente allein keinen Technologietransfer ermöglichen „The experience of technology transfer reveals that ownership of intellectual property alone is inadequate, because additional tacit knowledge and skills are generally needed in order to effect the transfer.“227 Unternehmen bräuchten externes Wissen, argumentiert Faulkner, denn ihr eigener Wissensbestand, ihr Wissenskörper, sei kumulativ und führe zu einer Spezialisierung oder Pfadabhängigkeit. Spezielles Wissen werde benötigt um die eigenen Produkte zu differenzieren, daher müsse spezielles Wissen intern generiert werden durch Lernen und Herausbilden von speziellen Fertigkeiten für die interne Entwicklung. Diese Fertigkeiten seien nicht transferierbar, nicht extern einzukaufen. Weil aber durch die Spezialisierung nach und nach blinde Stellen entstünden, müsse man Verbindungen nach außen erhalten, um der Blindheit durch Spezialisierungen zu begegnen. Das führt nach Faulkner zu einem hohen Wissensfluss zwischen Firmen durch informelle Interaktion von R&D-Kollegen, die zum Beispiel Wissen über die Instrumentalien austauschen. Die Unternehmen gäben ihr technisches Wissen teilweise gerne in die „public domain“, weil sie selbst weiterhin vom Wissen Anderer profitieren wollten; außerdem sei ohne Interaktion keine Innovation möglich, schließt Faulkner.
3.5 Historiographie Jakob Vogel Wir sehen also: In der Philosophie ist Wissen ein selbstverständliches Thema, in der Wirtschaftswissenschaft hat man es in den letzten Jahren für sich entdeckt und die Soziologie arbeitet bereits ein knappes Jahrhundert an den Themen Wissen und Gesell226 Alfonso Gambardella, Competitive advantages from in-house scientific research: The US pharmaceutical industry in the 1980s, in: Research Policy 21 (1992), S. 391–407. 227 Faulkner, S. 440.
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schaft. Wie aber steht es um die Historiographie? Ist Wissen nicht wie die Sprache eine zeitliche Konstante? Daher müssten gerade die Historiker sich mit dem Thema Wissen auseinandersetzen – was sie aber versäumen, erläutert Jakob Vogel. Der Historiker plädiert 2004 für eine „Historisierung der Wissensgesellschaft“.228 Demzufolge beschäftigten sich Historiker nicht ausreichend mit dem Wissensbegriff; Vogel macht eine Ausnahme für die Wissenschafts- und Technikhistoriker, die sich zwar ausreichend mit Wissenschaft und deren Umfeld auseinandersetzten, auch mit der Entstehung wissenschaftlichen Wissens, aber nicht genug mit der Anwendung und Wirkung des Wissens. In seinem Plädoyer für die Wissenschaftsgeschichte betont Vogel die Sichtweise von Wissen als historischem Konstrukt, das wandelbar und unterschiedlich kodiert sei in seinen verschiedenen Kontexten. Auch existierte nicht entweder ein „industrielles“ oder ein „wissenschaftliches“ System, sondern viele Wissenssysteme bestünden gleichzeitig. Früher sei meist von Wissen in schriftlicher Form ausgegangen worden, speziell bei Wissen in der Naturwissenschaft. Heute sehe man jedoch Wissen als Fähigkeit mehrerer Individuen zum praktischen Handeln oder, als tacit knowledge, als Baustein zur Herstellung wissenschaftlicher Tatsachen. Die Soziologen Berger und Tuckmann zitiert Vogel mit ihrer Definition von 1966: Wissen sei ein Teil von Macht- und Aushandlungsprozessen. Wissen bedeute die Gewissheit der Wirklichkeit und die Bestimmbarkeit von Phänomenen: Wissen könne man nicht allein auf schriftliches Wissen reduzieren. Vogel sieht Wissen vielmehr manifestiert in Menschen, handwerkliches Wissen sehe man etwa bei Trägern praktischen Wissens, die oft wissenschaftliche und technische Neuerungen umsetzten – was Vogel implizit den Wissenschaftlern selbst aberkennt. Er kritisiert besonders den Soziologen Nico Stehr, der 1994 über die Wissenschaft als neuen Produktionsfaktor geschrieben hatte.229 Stehr sei einem flachen Bild von Wissenschaft verfallen, projiziere eine nichtvorhandene Homogenität von Wissenschaft und wissenschaftlichem Wissen auf eine Vielzahl tatsächlich unterschiedlicher Disziplinen, Meinungen und Strömungen. Die Historiker der Neueren Geschichte ruft Vogel dazu auf, mit diesem Bild aufzuräumen, und Wissen als soziales und historisches Konstrukt zu betrachten, das gerade auch in
228 Jakob Vogel, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 639–660. 229 Nico Stehr, Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt a.M. 1994.
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der Wissenschaft immer auch „äußeren“ Faktoren unterliege. Trotz allem existiert für Vogel ein Wissensbestand, den er als eine Art wissenschaftlich/technische Expertise betrachtet. Obwohl Wissen also konstruiert und in Trägern zu suchen sei, ist es scheinbar doch zu einem Bestand sammelbar. Mitchell Ash Den konstruktivistischen Aspekt des Wissens betont auch der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash, der in seinem Aufsatz „Räume des Wissens“ von 2000 eine Einführung zum Thema Wissensräume und lokales Wissen gibt.230 Ihm geht es um eine Kontextualisierung von (wissenschaftlichem) Wissen sowie dessen Verortung. Ash zufolge sei die Untersuchung des Umfelds wissenschaftlicher Faktenkonstruktion bereits auf dem Vormarsch, müsse aber weiterhin betrieben werden. Er liefert keine explizite Definition von Wissen, geht aber von Wissen in der Naturwissenschaft aus, in Form von Daten, Formeln und Publikationen. Diese Ergebnisse von Forschung seien zu verorten, also die Räume dieses Wissens zu beobachten und zu beschreiben. Unter Wissensräumen versteht Ash zunächst physische Räume, also Forschungsstätten mit ihrer Ausrüstung sowie ihren Netzwerken. Daneben existierten soziale Räume, ablesbar an Raumordnungen und Hierarchien und an der räumlichen Abtrennung von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dies ließe sich ebenfalls an den Forschungsstätten beobachten, etwa an der Raumverteilung der Wissenschaftler. Die letze Kategorie sind die symbolischen Räume: Ausstellungsräume von Wissenschaftsinszenierungen wie das Deutsche Museum etwa. Oder auch Inskriptionen von Wissen in Form von Daten und Tabellen als Symbolen. Hier jedoch weist Ash darauf hin, dass diese Form von Wissensräumen fast zu weit ginge und auf die Symbolebene stiege. In den Wissensräumen entstünde nicht nur Wissen, sondern auch eine Wissenskultur, eine lokale Praxis als metaphorische Forschungsstätte. Diese Praktiken ließen sich in einer Analogie zu Sitten und Bräuchen einer lokalen Kultur sehen: Wissenschaftler, die in einem bestimmten Raum forschen, müssten demnach bestimmte Verhaltensweisen im Umgang mit Raum, Apparat und Personal erst erlernen.
230 Mitchell Ash, Räume des Wissens, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3 (2000), S. 235– 242.
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Das sei zeitaufwändig, aber für die Mitglieder einer Disziplin unerlässlich. Somit liest Ash nicht nur am Ort selbst, sondern auch am Verhalten der Forscher eine Dimension von Wissen ab. Margit Szöllösi-Janze Wie ihr Kollege Jakob Vogel hebt Margit Szöllösi-Janze die Wissenschaftshistoriker lobend hervor und sucht Anschluss in der Soziologie. Sie argumentiert für einen genaueren Umgang mit Wissen und regt eine Historisierung der soziologischen Theorien an. Szöllösi-Janze argumentiert in ihrem Aufsatz „Wissensgesellschaft in Deutschland“ 2004 für eine Neudefinition des Epochenbeginns der Zeitgeschichte.231 Sie schlägt die Jahre 1880-1930 als Beginn vor, weil dort die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft anhebe und diese Umwälzung das gesamte 20. Jahrhundert besonders prägend beeinflusst habe. Hauptsächlich zu erkennen sei die Verwissenschaftlichung an der Entstehung der science-based industries, der Verwissenschaftlichung der Technik, der Taylorisierung der Wirtschaft und der Technisierung des Alltags. Forschungseinrichtungen außerhalb der Akademia seien ein Indikator dafür, dass wir uns ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der Wissensgesellschaft befänden. Szöllösi-Janze verweist zwar auf den Primat wissenschaftlichen Wissens, das in jedem Falle bedeutender sei als andere Wissensformen – sie bemüht sich jedoch, auch andere Beispiele gültiger Wissensarten zu finden, verweist etwa auf „Bildwissen“, in dem Bild, Text und Zahl eine neue Symbiose eingingen und verbleibt mit dem Hinweis, auch „Religiöses Wissen“ sei „keineswegs zum Aussterben verurteilt“.232 Zwar verweist sie auf die Konstruiertheit und Kontextgebundenheit wissenschaftlichen Wissens – was genau Wissen aber ausmacht, wie man es definiert oder von anderen Aussagearten unterscheidet, untersucht Szöllösi-Janze nicht. Als Arten von Wissen sieht sie etwa Theorien, Entwicklungsprognosen und Expertenwissen. Als Orte von Wissen die Universität, aber auch die Industrieforschung. Als Träger von Wissen nennt sie Akademiker und Experten, und Methoden der Wissensanwendung sind bei ihr etwa die Rationalisierung des Lebens (oder der Produktion). Wissenschaftler bezeichnet Szöllösi-Janze als Produzenten, Experten seien Distribu-
231 Margit Szöllösi-Janze, s. Anm. 3. 232
Szöllösi-Janze, S. 281.
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toren von Wissen. Sie legt Wert darauf, auch die Geistes- und Sozialwissenschaften in die Definition von Wissenschaft einzuschließen. Auch Meta-Wissen, also Theorien über Wissen und Wissenserwerb listet die Autorin auf. Letzlich wird nicht klar, was genau nun Wissen ist und ob mit Verwissenschaftlichung nun die Verbreitung von Technik, der rationellen Denkweise, der „wissenschaftlichen Methode“ der Naturwissenschaften oder etwa die Zunahme der Geisteswissenschaften gemeint ist. SzöllösiJanze bezieht sich zwar auf Soziologische Modelle wie „MODE 1 / MODE 2“ oder die „Triple Helix“ und versucht, ihren neuen Epochenbeginn damit zu untermauern. Jedoch bleibt sie an der Oberfläche dieser Modelle: Sie versteht zwar „MODE 2“ als künftige Wissensgesellschaft und stellt die Autoren des Modells als Vertreter, vielleicht sogar Erfinder des Begriffes Wissensgesellschaft dar. Sie geht jedoch nicht auf die in dem Modell prognostizierte völlige Auflösung der Grenzen von Wissenschaft ein – oder auf die Zerstörung wissenschaftlicher Selbstbestimmung durch korporatistische Strukturen.233 Auch die „Triple Helix“ nennt Szöllösi-Janze zwar kurz, nur aber um sie schnell zur „Vierfachen Helix“ auszubauen, die aus Wissenschaft, Staat, Wirtschaft und Militär bestünde. Damit erklärt sie die Expansion oder Diffusion von Wissenschaft in allen gesellschaftliche Bereichen. Obwohl Szöllösi-Janze keine Definition von Wissenschaft oder Wissen gibt, zeichnet sie das Bild eines kumulativen Wissenskörpers der Gesellschaft in der besonders das naturwissenschaftliche Wissen eine große Rolle spielt. Da für sie die Industrieforschung den Beginn der Wissensgesellschaft bedeutet und jene somit als Ort eines bestimmten Wissens, und des Diffusionsprozesses definiert wird, spielt ihre Theorie bei meiner Untersuchung eine wichtige Rolle.
233 Terry Shinn analysiert eingehend die beiden Modelle, die unter „Mode 1/2“ und „Triple Helix“ bekannt sind und kommt Schlüssen, die sich bei Szöllösi-Janze nicht wiederfinden lassen, s. Anm. 22.
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4. Wissens-Quadranten Wie wir bei den verschiedenen Ansätzen sehen, gibt es viele Möglichkeiten, Wissen zu betrachten: Manche Autoren erklären die Zusammensetzung von Wissen, andere grenzen Wissen gegen Können ab, wieder andere untersuchen die Orte von Wissen oder klassifizieren Typen des Wissens, einige zeigen zugeordnete Domänen von Wissen auf, &c. Insgesamt finden wir Myriaden an Begriffen für und von Wissen, die sich nicht auf einer Ebene befinden und daher nicht miteinander vergleichbar sind. Man könnte fast von einer Inkommensurabilität reden. Letztlich lassen sich aber doch gemeinsame Nenner beobachten. Im Laufe meiner Arbeit habe ich daher eine Neukategorisierung entwickelt, um die ausgewählten Ansätze miteinander vergleichen zu können, und Ordnung zu bringen, wo Definitionsmangel herrscht. Diese neue Einteilung hat sich bewährt und verschafft uns eine klare Übersicht über das Begriffsgewirr. Um dies zu ermöglichen, habe ich nach Gemeinsamkeiten gesucht und bin auf zwei fundamentale Unterscheidungen gestoßen. Beide werden in der Literatur immer wieder implizit erwähnt, eine davon bisweilen auch explizit, jedoch konnte ich kein Modell ausmachen, das mir den erwünschten Dienst zu leisten vermag. Persönliches und Kollektives Wissen Ein gemeinsamer Nenner ist das Untersuchungsobjekt, an dem Wissen dargestellt wird: Entweder betrachtet man den Einzelnen und sein persönliches Wissen – oder eine Ansammlung von mehreren Personen, die ein Kollektiv bilden und darin Wissen tauschen, bilden, &c. Alle Ansätze wählen eine Möglichkeit, und lassen sich daran vergleichen. In den Wirtschaftswissenschaften geht es einvernehmlich um Wissen im Unternehmen. Der Unternehmenskörper wird verstanden als ein Personenkollektiv, das ein bestimmtes Wissen besitzt (Schreyögg) – oder als eine Gruppe aus einzelnen Mitarbeitern, deren persönliches Wissen untersucht wird (Nonaka & Takeuchi). Auch der Philosoph Polanyi arbeitet mit Fokus auf dem persönlichen Wissen. Für sein Modell des impliziten Wissens ist die Untrennbarkeit des Wissens vom Einzelnen gerade die Besonderheit. Wenn Gundry und Capurro auf die Struktur von Wissen eingehen,
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beziehen sie sich ebenfalls auf das Wissen im Kopf einer Person. Wenn dagegen vom historisch wandelbaren Konstrukt Wissen die Rede ist, oder von Wissen als Erzählung, so müssen die Autoren zwangsweise ein Kollektiv vor Augen haben – ob das nun „die Gesellschaft“ ist oder „die Wissenschaft“. Dabei stehen immer mehr als zwei Personen im Fokus der Wissensuntersuchung. Auch Wissensräume sind in gewisser Weise ein Kollektiv aus verschiedenen Einzelteilen, wie geographischen Orten, Apparaturen, und den Nutzern der Instrumente. Die Autoren der Innovationsforschung haben ebenfalls ganze Kollektive an Forschern und Unternehmern im Blick. In der Systemtheorie letzlich wird das Kollektiv des Systems untersucht. Bei einer Untersuchung von Wissensbegriffen in verschiedenen Ansätzen bietet es sich daher an, alle Ansätze zunächst in die Felder „Persönlich“ und „Kollektiv“ zu unterteilen. Dabei bedeutet Persönlich, dass eine Einzelperson im Blick der jeweiligen Untersuchung ist und weniger die Interaktion mit anderen. Kollektiv bedeutet dementsprechend, die Untersuchung betrachtet ein Kollektiv aus Personen oder Objekten – also mehr als zwei von einer Sorte. Selbstverständlich gibt es bei dieser Einteilung in zwei Felder keine unabänderliche Einordnung eines Ansatzes in das eine oder andere Feld. Wenn eine Person im Blick steht, aber auch die Interaktion dieser Person mit anderen, würde sich dieser Ansatz auf der Grenze der beiden Felder bewegen. Letztlich ließe sich auch ein Spektrum denken, auf dem jeder Ansatz einen Platz finden könnte, je nach seiner Nähe zur einen oder anderen Extremseite. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Praktikabilität jedoch möchte ich an dieser Stelle darauf verzichten. Schließlich soll die von mir vorgeschlagene Neukategorisierung kein Ergebnis sein, sondern ein Werkzeug, um unterschiedliche Ansätze vergleichbar zu machen. Objektwissen und Prozesswissen Das Unterscheidungskriterium zwischen Persönlich und Kollektiv ist relativ einfach zu erkennen: wo Wissen bei mehr als zwei Personen untersucht wird, handelt es sich um einen kollektiven Wissensansatz. Das ist jedoch noch nicht ausreichend, um eine tatsächliche Vergleichbarkeit herzustellen. Eine andere Dualität von Wissen ist eine ganz und gar fundamentale: die Unterscheidung zwischen Wissen als Objekt und Wissen als Prozess. Bereits bei der Begriffsdefinition von Wissen hatte ich auf die Besonderheit des Wissensbegriffes hingewiesen: im 82
Deutschen sind die Verbform „wissen“ und die Substantivierung „Wissen“ schwieriger zu trennen als sich etwa im Englischen zwischen „knowing“ und „knowledge“ differenzieren lässt. Genau bei diesem lexikalischen Unterschied setzt auch Michael Polanyi an, wenn er Wissen als Prozess darstellt: „Knowledge is an activity which would be better described as a process of knowing.“234 Die Trennung zwischen Wissen als statischem Objekt und dynamischem Prozess ist keine neue Erfindung und sie lässt sich in allen Arbeiten zu diesem Thema beobachten: Entweder die Autoren folgen von vorneherein nur einem der Pfade, oder differenzieren selbst zwischen beiden Zuständen. Schon Jakob und Wilhelm Grimm weisen in ihrem Wörterbuch auf die grundsätzliche Unterscheidung des Wortes Wissen hin – zwischen Wissen als etwas, das „gehabt“ und „besessen“ wird, mit dem man sich den Kopf füllen kann; oder auf der anderen Seite Wissen als Erkennen, Unterscheiden, Bezeichnen &c. Zwar gibt es viele duale Unterscheidungsmöglichkeiten, wie etwa artikulierbar/nichtartikulierbar, kodifizierbar/nicht-kodifizierbar, &c. Doch laufen all diese Kriterien letztlich darauf hinaus, ob Wissen ein speicherbares, transferables Objekt darstellt – oder einen entsubstantiierten, persönlichen Prozess, der unter Umständen in ein solches Objekt verwandelt werden kann. Ich schlage daher als zweite Achse der Unterscheidung die beiden Kriterien „Wissen als Objekt“ und „Wissen als Prozess“ vor. Mit „Persönlichem Wissen“ und „Kollektivem Wissen“ ergibt sich so ein kartesisches Koordinatensystem, in dem sich alle meine untersuchten Ansätze zu Wissen bewegen. Realistischer wäre es, jedem Ansatz seinen eigenen Punkt in diesem System zuzuteilen, da keine zwei Ansätze sich gleichen. Dennoch will ich es praktisch halten und ein übersichtliches Werkzeug schaffen: Daher teile ich alle zuvor besprochenen Ansätze von Wissen in vier Wissens-Quadranten ein, nach dem Uhrzeigersinn in I–IV unterteilt. Diesen Feldern lassen sich nun die verschiedenen Ansätze zuordnen. Dabei wird schnell klar, welchen Ansatz die Autoren mit ihren Begriffen von Wissen verfolgen.
234
Polanyi nach Renzl, s. Anm. 191.
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Abb. 2 Die vier Wissens-Quadranten
I. Prozess / Persönlich Wie bereits erwähnt, ist für Michael Polanyi gerade die absolute Begrenzung von implizitem Wissen auf eine Person besonders wichtig. Wissen kann nicht einmal innerhalb dieser Person vom impliziten in den expliziten Teil übersetzt werden, geschweige denn die Person auf explizitem Wege verlassen. Implizites Wissen ist für Polanyi nicht artikulierbar, persönlich und ein sich ständig verändernder Prozess. Ähnlich verhält sich Wissen bei Birgit Renzl. Wissen ist ein Aspekt jeder Handlung: Während des Handelns in einer konkreten Situation findet eine permanente Unterscheidung und Beurteilung statt und ergibt so den Prozess des Wissens. Renzl schließt daher einen Objektcharakter völlig aus: „Wissen kann nicht wie ein Paket von einer Person zur anderen verschoben werden“. Anders als bei Polanyi kann dieses Wissen aber mitgeteilt werden. Es ist zwar persönlich und prozesshaft, aber es „zeigt sich in den Aktivitäten der Organisationsmitglieder und somit den Produkten und Leistungen des Unternehmens.“ Das heißt, in gewisser Weise stellen Produkte auch Wissen dar – man könnte also von einem Übergang von Prozess zu Objekt reden, wenn Wissen sich als Artefakt manifestiert. Im Modell der Wissenstreppe bei Albrecht von Müller, John Gundry oder Daniel Bell ist Wissen ein kontinuierlicher Anreicherungsprozess von Zeichen. Dabei gilt das Individuum als Träger von Organisationswissen, da Information erst durch die Sinngebungsprozesse einer Person zu Wissen wird. Dieser Umwandlungsprozess ist umkehrbar und perpetuell. Die Informationen aber können 84
auch als Objektform transferiert und gelagert werden. Doch Wissen selbst gilt in diesem Modell nicht als archivierbar, sondern als persönlicher Prozess. Auch Hans-Dieter Kübler sieht in seinem umfassenden Vergleich soziologischer Theorien Wissen als ein dynamisches, wandelbares, sozial und kulturell bestimmtes Konstrukt. Ein rein rationales Objektverständnis von Wissen wie bei Robert Lane lehnt er ab und ist daher klar dem persönlich-prozesshaften Wissens-Quadranten zuzuordnen.
II. Persönlich / Objekt Dieses Feld ist relativ licht, da die Vertreter von Wissen als Objekt meist auf den intersubjektiven Wert des Wissens anspielen, also dem III. Quadranten angehören. Trotzdem kann man zwei soziologische Ansätze hier verorten: Peter Weingart betrachtet Wissen als Ware, also per definitionem schon als handelbares Tauschobjekt. Zwar erläutert er seinen Wissensbegriff nicht explizit – doch sieht er Wissen eindeutig lokalisiert: entweder in den Köpfen der Forscher und Facharbeiter oder als die Ergebnisse von Forschung. Wissen kann dabei als Patentschrift, Publikation oder ähnliches Objekt auftreten. Obwohl mehrere Akteure mit Wissen handeln und Weingart Wissen im Kontext der Systeme Wirtschaft und Wissenschaft betrachtet, ist doch das Wissen selbst in seinem Ansatz etwas Persönliches: Wenn Wissen getauscht wird, sind es entweder Personen oder deren Forschungsergebnisse. Da Weingart nicht auf die Verwendung dieses Wissens im Kollektiv eingeht, ordne ich ihn dem persönlich-objekthaften Wissens-Quadranten zu. Klaus-Peter Buss und Volker Wittke sehen Wissen ebenfalls als Ware – genauer als Intellectual Property und damit als Objekt mit Marktwert. Buss und Wittke äußern sich um einiges konkreter als Weingart und erläutern ihre beiden Manifestationen von Wissen: Zum einen sind das zitierfähige Werke von Wissenschaftlern, die als „Ware in der Wissenschaft“ dem Autor personengebunden Karriere und Forschungsgelder einbringt. Aus diesen Werken – aus persönlichen Objekten – besteht letztlich auch der Wissensbestand der Wissenschaft. Die wissenschaftlichen Publikationen wechseln zwar mit der Zirkulation ins Kollektiv über, bleiben aber (im Idealfall) mit dem Ursprungsautor verbunden – durch die Zitation anderer Wissenschaftler. Nach Buss und Wittke 85
ist es gerade diese Bindung, die den Wert der Publikation für den Autor ausmacht: Je öfter er zitiert wird, desto wertvoller ist sein Wissen. Zum anderen ist Wissen für Buss und Wittke auch Wissen als Patent und Lizenz eine Ware, die persönlich vom Forscher produziert und verkauft wird. Diese Form der Wissensware habe sich historisch gewandelt: Im frühen industriellen Forschungslabor sei Intellectual Property noch als Nebenprodukt angefallen und durch die Firma verwaltet worden. Seit den 1980ern dagegen zeigten Start-ups aus dem akademischen Umfeld, dass Forscher die Produktion von Wissen als eigentlichen Unternehmenszweck betrachten und in Form persönlich hergestellter Objekete wie z.B. Datenbanken verkaufen.
III. Kollektiv / Objekt Ähnlich wie Weingart sieht auch Margit Szöllösi-Janze das Wissen in den Köpfen von Akademikern und Experten. Sie behandelt aber weder den Wert dieses Wissens, noch die personengebundene Haftung, sondern betrachtet mit ihrer Hypothese von der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft einen kollektiven Begriff von Wissen, der in irgendeiner Weise allen zugänglich sein muss, da er ja das Kollektiv als solches durchdringt. Bei Szöllosi-Janze ist daher mehr die Rationalität als wissenschaftliche Methode im Fokus, sowie die Objekte wissenschafticher Fakten, Daten und Berechnungen, die vom Wissenschaftler produziert und vom Experten verteilt werden. Wissen hat bei Szöllosi-Janze letztlich keinen klar umrissenen Objektcharakter – die Betonung der Verteilung lässt jedoch auf ein zu verteilendes Objekt schließen. Für Ulrich Schmoch ist Wissen Teil eines Wissensbestandes, etwa wenn er Wissenschaft als eine Entität definiert, die systematisch Wissen generiert und ordnet. Forschungsergebnisse in Objektform wie Patente und Publikationen sieht Schmoch als Wissen an, doch weist er auf den kollektiven Charakter dieses Wissens hin: Die Definition von wissenschaftlichem Wissen nämlich ist abhängig von der wissenschaftlichen Gemeinschaft selbst und hat damit inhärent kollektiven Charakter. Als Innovationsforscher ist Schmoch jedoch darum bemüht, quantitative Indikatoren zu suchen, und damit auch Wissen als Objekt sicht- und zählbar zu machen. Wendy Faulkners Ansatz der Wissenskonzeption in der Innovation ist in meiner Auswahl der ambivalenteste Ansatz. Faulkner betrachtet Wissen zum einen als Prozess, etwa in Form theoretischer Werkzeuge der Forscher – zum anderen sieht sie auch Daten und kodifizierte Theorien in Wissenschaft und Technik als Wissen an. Beide 86
Wissensformen, Prozess und Objekt, finden sich daher in der Innovation wieder; beide haben ihre Berechtigung und ihren festen Platz in der Industrieforschung. Den kollektiven Charakter des Wissens betont Faulkner klar und deutlich: ohne Zusammenarbeit kann keine Innovation entstehen und Wissen, wie sie mit Gambardella zeigt, kann nur transferiert werden, wenn bereits ein kollektives Vorwissen besteht. Als Vertreter der Wissenschaftshistoriker nimmt Mitchell Ash wissenschaftliches Wissen bereits als intersubjektives Konstrukt an und betont daher nicht zusätzlich, dass Wissen im Kollektiv entsteht. Es ist unbestreitbar, dass es ist in seinem Ansatz implizit um mehrere Personen in einem Kontext geht, also um eine kollektive Betrachtung des Wissens. Allerdings stehen Ash dabei nicht die Denkprozesse der Wissenschaftler im Mittelpunkt, sondern naturwissenschaftliches Wissen in Form von Daten, Formeln und Publikationen. Ashs Räume des Wissens stellen ebenfalls Wissens-Objekte dar, die man untersuchen muss, um das produzierte, konkrete Wissen zu verankern und zu kontextualisieren. Wie viele andere Wissenschaftshistoriker ist er daher dem Objektansatz zuzurechnen.235 Georg Schreyöggs Ansatz lässt sich am eindeutigsten der Kategorie „Kollektiv / Objekt“ zuordnen: Das Unternehmen ist für ihn die Basis des Wissens. Als Grundlage also nimmt Schreyögg bereits ein Kollektiv an. Dazu argumentiert er als einziger ganz eindeutig für die Objektform des Wissens, und zwar als Ausschlusskriterium. Wissen ist daher eine Sammlung von schriftlich fixierten, kodifizierten Aussagen, die in Qualifizierungsverfahren geprüft worden sind. Den expliziten Charakter des Wissens stellt Schreyögg über alles, er schließt ausdrücklich Wissen als Prozess völlig aus. Das will er als Meinung gelten lassen, oder als Können. Die Grenze zum Wissen können Aussagen für Schreyögg nur überschreiten als explizites Objekt, das intersubjektiv geprüft werden kann.
235 Sobald der Fokus der Untersuchung auf Wissen als Formeln, Theorien oder Publikationen liegt, ist der Objektcharakter bereits klar erkennbar. Dazu sind häufige Untersuchungsobjekte des Wissens: Institutionen, Artefakte oder Instrumente. Alle diese Ansätze würde ich hier den Objekt-Quadranten zuordnen – je nach Ausrichtung der Untersuchung auf ein Einzelobjekt zu „Persönlich“ oder Objekte im Netzwerk zu „Kollektiv“.
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IV. Prozess / Kollektiv Wie erwähnt ist Wendy Faulkners Ansatz des Wissens ambivalent und, obwohl sie klar die kollektive Seite hervorhebt, versteht sie Wissen sowohl als Objekt wie auch als Prozess. Neben Daten und Formeln betont Faulkner die Wichtigkeit von Wissen als tacit und local knowledge, das in der Innovation eine Schlüsselrolle spielt. Sie zeigt auch bei Vincenti, dass gerade das intuitive, prozesshafte Wissen in der Technik besonders wichtig ist. Daher ordne ich Faulkner hier beiden Quadranten des Kollektiven Ansatzes zu. Klarer ist es bei den Wirtschaftswissenschaftlern Nonaka und Takeuchi. Sie betrachten Unternehmen ebenfalls als Kollektiv und die Einzelperson in japanischer Tradition als Teil des Ganzen. Neues Wissen wird aus dem Kollektiv generiert: in einem Prozess mit vielen Teilnehmern. Durch das Übersetzen von persönlichem in gemeinsam artikuliertes Wissen wird neues Wissen in der sogenannten Wissensspirale geschaffen – dabei spielt vor allem das implizite Wissen eine große Rolle für Nonaka und Takeuchi. Ohne den inneren Prozess, ohne das Aneignen ohne Ausdrücken, entsteht für sie kein neues Wissen. Damit stehen sie in Opposition zu Schreyögg, der explizites Wissen als die einzige und wichtigste Form ansieht, und daraus neues Unternehmenswissen entstehen sieht. Eine Kritik an Nonaka und Takeuchi lautet auch, sie hätten Polanyis Begriff des impliziten Wissens falsch verstanden.236 Wo Polanyi diese Form allein in Einzelpersonen sieht, und ausdrücklich eine Explizierung des Impliziten untersagt, halten Nonaka und Takeuchi eine Überführung von implizitem in explizites Wissen für essenziell. Diesen Vorgang nennen sie „Explizieren“. Eine andere Form der Wissensüberführung im Modell der Japaner lehnt sich zwar auch an Polanyis Definition an, widerspricht ihr aber nicht. In der „Sozialisation“ wird implizites Wissen mit anderem implizitem Wissen kombiniert. In dieser Methode würde das implizite Wissen zwar kollektiv, da es getauscht und verändert wird – trotzdem würde es nicht die Schwelle zum Objekt überschreiten, die Polanyi gezogen hat: es bleibt implizit, wird aber auf andere Träger kopiert. Der Historiker Jakob Vogel sieht wissenschaftliches Wissen in Anlehnung an Wissenschaftshistoriker und Soziologen als historisch wandelbares Konstrukt, das in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten unterschiedlich kodiert auftritt. Es existieren somit
236 Capurro, S. 14.
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viele Prozesse gleichzeitig, die Vogel als „Wissens-Systeme“ begreift. Diese kollektiven Prozesse laufen parallel und das Wissen selbst, dem Vogel keine konkrete Form gibt, verändert sich als historisches Konstrukt ebenfalls perpetuell. Vogel ist somit klar dem kollektiven Prozessansatz zuzuordnen. Das Konzept des Philosophen Jean-François Lyotard vom Narrativen Wissen ist ebenfalls von eindeutigem Prozesscharakter. Demnach ist Wissen – anders als bei Polanyi – vollständig artikulierbar, aber im Prozess der Erzählung festgehalten. Diese Erzählung versteht Lyotard als intersubjektiven, damit kollektiven Prozess des Kompetenz- und Kriterientransfers. Wissen entsteht und wirkt ausschließlich im Kollektiv und wird als Prozess weitergetragen und verarbeitet. Ich habe nun die vorgestellten verschiedenartigen Theorien und Auffassungen von Wissen auf die Art des Wissens hin geprüft. Sie wurden dann in dem von mir vorgeschlagenen Ordnungsmuster der Wissens-Quadranten neu kategorisiert, um eine klare Übersicht der Ansätze zu bekommen. Im nächsten Schritt werde ich die einzelnen Begriffe von Wissen aus den Ansätzen herausnehmen und versuchen, sie auf das historische Fallbeispiel William Coolidges Innovation des Glühlampenfilamentes anzuwenden. Dabei wird sich zeigen, welche Ansätze sich für diese Aufgabe als fruchtbar erweisen, welche nicht anwendbar sind, und welches Wissen zu der Schlüsselinnovation der Glühlampe zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt hat.
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5. Fallbeispiel Um aus mehr als vierzehn Ansätzen zum Wissensbegriff und dutzenden von verschiedenen Begriffen eine verständliche Struktur zu erstellen, habe ich mein Fallbeispiel in vier Kapitel unterteilt. Die in diesen vier Kapiteln angewandten Begriffe entsprechen in etwa meiner Einteilung in vier Wissens-Quadranten. Zuerst untersuche ich die Person Coolidge, an der man die Begriffe von persönlichem Prozesswissen darstellen kann. Das kollektive Prozesswissen dagegen zeigt sich am Forschungsort, also bei einer Darstellung des Labors und seines Aufbaus im Unternehmen General Electric. Die Begriffe, die sich auf Wissen als persönliches Objekt beziehen, zeige ich, indem ich auf die Struktur des Wissens als solches eingehe, es also ein wenig herauslöse aus dem Kontext. Zuletzt dient das Kapitel über Meta-Wissen zur Anwendung der Begriffe von kollektivem Objektwissen. Begriffe, die sich als überhaupt nicht anwendbar herausstellten, werden am Schluss vorgestellt.237
5.1 Die Person Coolidge
Theoretisches Wissen William David Coolidge studierte am damals noch relativ kleinen Massachussetts Institute of Technology – der Ausbildungsstätte amerikanischer Ingenieure.238 Nach seinem Abschluss als Elektroingenieur studierte er in Leipzig und promovierte dort in Physik. Bevor er zu General Electric kam, forschte er sechs Jahre im Chemielabor des MIT und erwarb zusätzliche Praxiserfahrung. Um 1900 galt Europa, vor allem Deutschland, als eine hervorragende Ausbildungsstätte für junge amerikanische Wissenschaftler: Whitney stellte neben Coolidge mehrere „europäisch promovierte“ in seinem jungen Labor ein. Ihre exzellente Bildung und kulturelle Erfahrung waren für
237 Ich habe bereits in den vorherigen Kapiteln die Innovation Coolidges detailliert aufgezeigt, die hier benutzten Ansätze von Wissenstheorien erläutert und miteinander verglichen. Daher werde ich die Erklärungen im Folgenden knapp halten und verweise auf die Darstellungen in Kapitel 3 und 4. 238 Zur Geschichte des MIT siehe Julius Stratton und Loretta Mannix, Mind and Hand - The Birth of MIT, Cambridge 2005.
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Whitney wichtige Eigenschaften eines erfolgreichen Industrieforschers. Coolidge erhielt in seiner sehr guten Ausbildung, so ist anzunehmen, eine umfassende Theorie-Kenntnis von Stoffen, Strukturen, Metalleigenschaften und Verformungen. Renzl bezeichnet diese Theorien als abstraktes Objektwissen, als episteme. Laytons Begriff der technical theories lässt sich ebenfalls hier anwenden: Coolidge erhielt als Student bereits Hintergrundwissen über hochschmelzende Metalle, physikalische und elektrische Widerstände, &c.: alles Wissen, das er für seine Arbeit an der Glühlampe später benötigte. Von seinem Wissen, aus der theoretischen Ausbildung bezogen, gibt Coolidge auch neues Wissen später zurück in die Theorie: Luxbacher zeigt, dass sich neue technische Theorien in der Metallurgie entwickeln als „spin-off“ von Coolidges Arbeit mit Wolfram. Ebenfalls durch die Ausbildung des Industrieforschers, zusammen mit seinen Verbindungen zu ehemaligen Kollegen und anderen Forschern sowie die Bibliothek in Whitneys Labor kann Coolidge zu jeder Zeit die aktuelle Forschungslage in der Wissenschaft abfragen: er hat also auch ein Wissen, das Faulkner als Wissen über die Forschungsfront bezeichnet und als besonders wichtig einstuft, um als Industrieforscher erfolgreich zu sein. Coolidge wird aber in der Literatur nicht nur eine umfassende Ausbildung bestätigt, er wird auch von Wise etwa als „brillianter Experimentator“ bezeichnet mit Erfahrung und Begabung im Konstruieren von Geräten. Zunächst hat ein solcher Experimentator natürlich theoretisches Wissen über Versuchsaufbau, Testmethoden &c., das Faulkner als wissenschaftliches Wissen von Versuchstechniken auflistet; Vincenti nennt dies „Kenntnis technischer Methoden“ oder theoretical tools. Konkret wäre das etwa die mechanische Verfahrenskenntnis über Hämmer- und Walzmaschinen, die Coolidge in Form von Erfahrung mit Hämmerexperimenten aufwies oder die die Erfahrung aus seiner Entwicklung des Wolfram-Amalgamverfahrens, die er zur Entwicklung des Sinterprozesses nutzte. Praktisches Wissen Coolidges lange Übung im Umgang mit Metallen wie Wolfram nennt Renzl internalisierte Expertise und meint damit implizites Wissen, das über die Zeit angesammelt wurde. In ähnlicher Bedeutung bezeichnet Schreyögg dieses implizite Wissen als Erfahrungsschatz. Ein großer Teil der Arbeit im Industrielabor war für Coolidge das Entwickeln und Bedienen von Experimentierapparaturen. Das dazu nötige Wissen nennt Faulkner skills, Vincenti nennt es design instrumentalities, die er der Technik zuordnet. Darunter fällt etwa das Anpassen der Rundhämmermaschinen, aber auch 91
das Bedienen der Laborinstrumente, etwa als Coolidge und Fink im Mikroskop die Struktur von Wolfram beobachteten. Die Arbeit im Forschungslabor kann auch als dauernde Problembewältigung verstanden werden, in der praktisches Wissen benötigt wird, nach Machlup sind das Kenntnisse zur Aufgabenlösung: Coolidge konstruierte Testapparaturen wie das Walzwerk mit erhitzten Rollen, um das Problem der Brüchigkeit zu bewältigen; oder er verbesserte das Ofenförderband, um die Aufgabe der effizienteren Produktion zu lösen. Für die Herstellung von Lampendraht und die Konstruktion der Maschinen zu diesem Zweck benötigte Coolidge etwas, das Vincenti als technische fundamental design concepts erwähnt. Eine Grundkenntnis von der Entwicklung von Maschinen oder von grundsätzlichen Produktionsvorgängen: etwa, dass Coolidge wusste, wie Glühlampen gefertigt werden und wo sein Draht eingesetzt werden würde. Dazu kommen für Vincenti die practical considerations, also das Wissen um die Anwendung der Forschungsergebnisse, das eine Erfahrung und Kenntnis von der Machbarkeit und den Grenzen in der Artefaktproduktion darstellt. Das ließe sich etwa beobachten, wenn Coolidge sein Amalgamverfahren immer weiterentwickelt und verfeinert, weil er ständig die Anwendbarkeit im Produkt testen muss. All dieses praktisches Wissen könnte man ebenso mit anderen Begriffen belegen, etwa mit techne, das nach Renzl für die praktische Fähigkeit zur Aufgabenlösung steht; oder man könnte es mit Faulkner als tacit skills bezeichnen, also als Können, das durch Übung und Beruf erlernt wird, aber nicht artikulierbar ist; Schreyögg verweigert diesem Wissen die Bezeichnung Wissen und nennt es schlicht Können. Wenn man die Arbeit von Coolidge im Labor, also seine Konstruktion von Apparaten und das Testen von Materialien als Baustein für spätere wissenschaftliche Fakten begreifen will, könnte man es mit Vogel und Sibium als Handwerkliches Wissen bezeichnen: Wie Vogel argumentiert, sind es oft die Träger praktischen Wissens, die durch ihr handwerkliches Wissen technische Neuerungen umsetzen. Wenn man jedoch in der Konsequenz Coolidge als einen solchen Wissensträger sieht, muss man Vogels Ansatz erweitern: nicht nur die Umsetzung technischer Neuerungen erfolgt dann über praktisches Wissen, sondern auch die Herstellung eben dieser technischen Innovationen. Folgt man dagegen Schreyöggs Definition von Wissen, müsste man schlussfolgern, dass Können, und nicht Wissen die wohl größte Rolle bei Coolidges Innovation spielte. Der genaue Gegensatz davon ist Polanyis Ansatz, der das Wissen über Wolfram als 92
dynamisches Konstrukt sehen würde und den mit knowing den Akt des Wissens betont. Diesem Modell folgend sehen wir Coolidges Wissen sich ständig ändern: durch neue Informationen wie die Temperatur, bei der Molybdän biegsam wird, durch das Erkennen der Strukturveränderung von Wolfram durch Hitze, &c. Mit jedem Test und jeder Apparatur findet ein stetiges Strukturieren von Informationen statt, dass nach Capurro in das Konstrukt, das Coolidges Wissen darstellt, eingebaut wird. Nach dem ursprünglichen Zweck der Forschung, der Herstellung von Wolframdraht, ändert sich das Wissen in Coolidge weiter, und neue Felder der Anwendung erschließen sich, etwa die Anwendung von Wolfram für die Konstruktion einer Röntgenröhre. Erfahren und Begreifen Ebenfalls als ein Konstrukt sieht Schütz das Wissen an, das sich in Coolidge ansammelt. Der Philosoph nennt es das „Wissen als Verfahren zur (Re)konstruktion der Lebenswelt“. Demzufolge besteht Coolidges Wissen aus drei Teilen: (1) dem Gewohnheitswissen aus automatisierten Fertigkeiten wie Rechnen und Schreiben; aus dem selbstverständlichen Gebrauchswissen wie tüfteln oder beobachten; und aus dem speziell im Beruf angesammelten Rezeptwissen wie das Wissen über Metalle und den Umgang damit. Dazu besteht Coolidges Wissen aus (2) Erfahrungen, die ihm Analogien zu Unbekanntem möglich machen. Diese Analogiefähigkeit kann man bei Coolidges Europarereise beobachten, als er in London und Berlin Molybdänverfahren beobachten konnte und die Analogie zum verwandten Wolfram schlug, was zur Schlüsselerkenntnis in der Bearbeitung von Wolfram wurde. Auch die Kombination von Werkzeugen und Apparaten, etwa aus der Nadelproduktion, die Coolidge erstmals zur Lampendrahtherstellung nutzt, ließe sich unter den Erfahrungsbegriff Schützens fassen. Dazu kommt nicht nur der Transfer von Unbekanntem, sondern auch von eigenem Wissen: die chemische Lösung für das physikalische Problem, das beim Anspitzen des Molybdändrahtes anfiel, stellt ebenfalls einen Analogieschluss dar. Als letzten Teil von Coolidges Wissen sähe Schütz die (3) Typisierung zur Komplexitätsreduktion, etwa wenn das Wissen über die Eigenschaften von Wolfram letztlich abstrakt auf einen Maschinenentwurf für einen Sinterofen übertragen wird. Dieses durchdringende Begreifen eines Gegenstandes könnte man mit Faulkner auch als understanding betrachten, Wissen als grundlegendes Verstehen. So verstand Coolidge aufgrund seines Vorwissens über die Temperatureigenschaften des Materi-
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als, dass es der Temperaturentzug beim Hämmern sein musste, der selbst den Schmied den Wolframrohling zerbrechen ließ. Coolidge und Fink verstanden auch die besondere Struktur von Wolfram und Molybdän aus dem Verhalten der Materialien bei Temperatur und Druck. Die Forscher begriffen, dass die Strukturveränderung von kristallin in faserartig genau entgegengesetzt wie bei allen anderen Metallen stattfand. Dieses Verstehen schuf so im Kontext des Labors neue metallurgisches Kenntnis über Wolfram, die bisher gefehlt hatte. Dieses Erkennen von Zusammenhängen bezeichnet Renzl als mètis, als Kombinationsgabe. Die neue Sichtweise auf die Materialien, die durch die Wahl des mechanisch-thermischen Verfahrens bestärkt wurde, fehlte anderen Forschern und war ein Grund, warum etwa Werner Bolton bei Siemens & Halske keinen Erfolg mit Wolfram hatte. Als Letztes lässt sich ein weiterer antiker Wissensbegriff anwenden auf die Person Coolidge: Die praktische, soziale Weisheit – nach Renzl phronesis – könnte man sicherlich am Laborleiter Coolidge festmachen, der Whitney 1932 als Forschungsdirektor ablöste. Sein Wissen aus der Erfahrung als Industrieforscher und aus der gemeinsamen Praxis im Labor trug zum gefeierten Erfolg Coolidges in dieser Position sicher in großem Maße bei. Nun haben wir die Person, den Hauptcharakter betrachtet. Welches Wissen lässt sich dem Ort der Innovation aber zuschreiben?
5.2 Kultur, Ort und Träger des Wissens
Wissensraum Das 1900 gegründete GE Research Lab wuchs schnell an und beschäftigte, als Coolidge 1906 dazukam, bereits 44 Forscher.239 Der Ort der Innovation, der von einer Hütte auf dem Anwesen von Charles Steinmetz in ein professionelles Zentrallabor wechselte, könnte mit Ash als physischer Wissensraum bezeichnet werden. Das Zentrallabor war getrennt und verbunden zugleich: Das Research Lab wurde von der Produktion separiert – mit der Anfangsidee, die Forschung über kurzfristige Problemlösung zu stellen und Freiraum für grundlegende Projekte einzuräumen. Ash nennt als Merkmal eines solchen Wissensraumes
239 Reich, S. 78f.
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auch die räumliche Abtrennung von Wissenschaft und Öffentlichkeit, die zu Beginn durch die Lage der Forschung innerhalb einer privaten Firma gegeben war. In den 1920ern änderte sich dieser Ausschluss der Öffentlichtkeit und das GE Labor wurde zum „House of Magic“, einem Publikumsmagnet mit wöchentlichen Führungen.240 Das Labor war aber auch gut vernetzt, etwa mit der Akademia: Whitney pflegte nicht nur eine Bücherei im Labor mit den wichtigsten Grundlagen und Neuheiten der akademischen Forschung, sondern Whitney und Coolidge hielten weiterhin persönliche Kontakte und Bindungen in der akademischen Welt. Beide waren Mitglieder verschiedener Vereinigungen, etwa der Chemical Society, des American Institutes of Electrical Engineers (AIEE), der National Academy of Sciences, &c.241 Auch die zweite Spielart des Wissensraumes nach Ash, den sozialen Wissensraum, kann man bei GE beobachten: Die Vernetzung der Forscher erstens untereinander und zweitens mit Kollegen bei der Konkurrenz wird einmal an internen wöchentlichen Treffen und regelmäßigen Vorträgen der neusten Ergebnisse deutlich,242 vor allem aber die Forschungsreisen von Whitney und Coolidge in Labore der Konkurrenz zeigen den informellen Umgang, den man miteinander pflegte. Dabei fand auch ein Wissenstransfer statt, den man als Übertragung des impliziten local knowlegde bei Faulkner ansehen kann: Wissen, das Forschern eines bestimmten Labors zueigen war, etwa der Umgang mit Molybdän bei der DGA, fand seinen Weg von Deutschland in die USA allein durch die Interaktion der Forscherkollegen. Hier könnte man mit Ash von einem Transfer von Wissen zwischen geographischen Wissensräumen sprechen. Nicht nur die Lage eines Labors auf der Weltkarte oder im Gebäudeplan konstituieren für Ash einen Wissensraum, sondern auch das Equipment und die Rheinbergerschen Experimentalsysteme, die sich dort finden. Damit gehört auch Moissans und Whitneys elektrischer Bogenofen zum physischer Wissensraum dazu, machte er doch die Bearbeitung hochschmelzender Metalle erst möglich! Auch eigenes Experimentiergerät, wie die angepasste swaging machine, eigens hergestellte Ziehhole, &c. passen zu diesem Wissensbegriff. Auch die lokale Praxiskultur, die sich nach Ash in Wissensräumen finden lässt, zeigt sich im GE Forschungslabor. Whitney baute absichtlich eine neue Forschungskultur auf, wie es Carl Duisberg vor ihm in der deutschen Chemiein240
Reich, S. 94.
241
Whitney war 1911/12 sogar Präsident der Electrochemical Society, vgl. Reich, S. 112.
242 Whitney bemühte sich, eine möglichst wissenschaftsähnliche Atmosphäre zu emulieren, dazu zählte auch die Ausstattung der Bibiothek, vgl. Reich, S. 108f.
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dustrie getan hatte:243 Whitney ließ zunächst sein Dogma, das Experiment sei der Theorie vorzuziehen, in jede Beratung der Forscher miteinfließen. Er forderte und förderte auch einen neuen Umgang der Kollegen miteinander und mit ihrem Wissen: es musste geteilt werden, abgeschottete akademische Forschung gab es hier nicht. Nicht alle Forscher teilten diese Ansicht und Whitney ließ sie gehen. Austausch war ein Grundpfeiler, so wie Interdisziplinarität. Vielen Forschern viel es darüberhinaus nicht leicht, dass ihre Ergebnisse nun nicht mehr ihnen, sondern dem Unternehmen gehörten. Wie an der Karriere von Coolidge und vor allem von Whitney klar wird, war die Trennung von der akademischen Welt nicht zu vermeiden, wenn man in die Industrieforschung wechselte. Zwar war diese Trennung nicht vollständig und auch wieder umkehrbar,244 die meisten Forscher im Industrielabor jedoch wurden durch ausbleibende Publikationen und zurückgehender Teilnahme an akademischen Aktivitäten aus ihren ehemaligen Disziplinen herausgelöst und bildeten mithin eine neue Gruppe unter der Identität des Industrieforschers.245 Wissensbestand In den Ansätzen und Wissensbegriffen findet sich immer wieder der „Wissensbestand“ einer Disziplin oder Organisation. Bei General Electric könnte dieser Wissensbestand in mehreren Fällen nachgewiesen werden. Die Kombination von Forschern, von externem Experten- und internem Erfahrungswissen könnte man mit Vogel als Wissensbestand in Form wissenschaftlich-technischer Expertise bezeichnen. So halfen etwa die Ingenieure der Harrison Lamp Works beim letzten Schritt der Entwicklung von duktilem Wolfram, als es nämlich um die Rekristallationsunterbindung durch
243 Reich zeigt, wie Whitney im GE Labor einen Forschungsprozess nach seinen Vorstellungen verwirklichte und versuchte, ein fruchtbares Feld für Innovation zu schaffen, vgl. Reich, S. 97–112. John Beer zeigt, wie schon 10 Jahre vor Whitney Carl Duisberg bei Bayer das erste Großforschungslabor der Industrie schuf, komplett mit cross-fertilization durch Interdisziplinarität, emulierter Wissenschaftsumgebung und eigenem esprit de corps, vgl Beer, S. 129. 244 So verließ etwa Wheeler Davey das GE Labor und ging zurück in die akademische Welt: an die Pennsylvania State University. Vgl. Reich, S. 112. 245 Reich, S. 250 spricht etwas indifferent von einer „Auflösung“ von Wissenschaft und Technik im Labor – dagegen lässt sich eine Auslösung der Individuen aus den akademischen Gemeinschaften durchaus feststellen.
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Thoriumoxid ging, mit ihrer Expertise in der Produktion und erweiterten damit den Wissensbestand der Laborexpertise. Wenn nun ein Unternehmen solch einen Wissensbestand hat, dann bleibt die Frage: Wer ist der Träger dieser Wissensbasis? Schreyöggs Ansatz, das Kollektiv von Aufzeichnungen, Patenten, &c. als Wissensbasis zu sehen wird durch die Ansätze von Capurro und Weingart klar widerlegt: Die Forscher als Wissensträger (Weingart) beziehungsweise das Individuum als Wissensträger (Capurro) sind somit essenziell für General Electric: denn was sollte man ohne die Forscher mit Laboraufzeichnungen und Anleitungen anfangen? Wer sollte diese verschriftlichten Objekte dekodieren und übersetzen, wenn nicht die Individuen? Anders wird es noch deutlicher: Renzl spricht davon, dass Organisationswissen im Handeln der Mitglieder manifestiert wird, also verfügt GE über Wissen von duktilem Wolfram, weil Coolidge und Kollegen es in Aktivitäten zeigen: in der Überführung von Forschung in ein Produkt. Coolidge erhöhte somit den GE-Wissensbestand. Aber auch die Gemeinschaft der Industrieforscher selbst bildete einen eigenen Wissensbestand heraus, einen kollektiven body of knowledge nach Vincenti: Die Erfahrung der Forscher wurde kodifiziert als Technologie hochschmelzender Metalle, und führte zu einer Weiterentwicklung der Metallurgie, wie Luxbacher zeigt. Als Coolidge das local oder tacit knowledge der Nadelfabrikanten und Edelsteinschleifer in die Industrieforschung bringt, trug er damit auch zum deren Wissensbestand bei, der sich kumulativ über die Zeit weiterbildete, ähnlich wie Vincenti es für die Technologie der Aeronautik beschreibt. Transfer von Wissen Nicht nur Wissensräume und die Bildung eines Wissensbestandes lassen sich am Beispiel von General Electric zeigen, sondern auch Wissenstransfer. Beispielhaft steht dafür der Transfer vom Wissen um duktiles Wolfram zu Siemens & Halske. Wenn man mit Renzl Wissen am Handeln abliest, und die Arbeiter bei Siemens die gleichen Aktivitäten zeigen wie ihre Kollegen jenseits des Atlantiks – wenn nämlich GE und Siemens zeitgleich das Produkt Wolframdraht 1911 hervorbringen – so muss ein Wissenstransfer irgendeiner Art stattgefunden haben. Das könnte zum Beispiel ein Patent oder eine Anleitung, also ein Schriftobjekt sein, das man als Informationen weitergibt. Nach dem Stufenmodell des Wissens bei Bell, von Müller, Gundry, Capurro und anderen gelten Informationen als transferables Objekt, nicht aber Wissen. Danach werden Informationen im Rahmen von individuellen Wissensnetzen zu Wissen. Dies 97
wird deutlich, wenn etwa die Information, die Anleitung zur Produktion von duktilem Wolfram, bei Siemens in den individuellen Wissensnetzen der Arbeiter und Ingenieure zu Wissen wird, wie man das Produkt konkret vor Ort herstellt. An den Problemen, die dabei 1911 auftraten, als deutsche Techniker nämlich ratlos vor amerikanischen Geräten standen und das Ziehen des neuen Materials erst lernen mussten, wird die Schwierigkeit von Wissenstransfer deutlich. Offensichtlich fehlte den Deutschen trotz Objektwissen, das sie als Anleitung und Geräte bekamen, für dessen Umsetzung eine andere Art von Wissen.246 Wie Gambardella zeigt, braucht ein erfolgreicher Wissenstransfer bereits ein bestimmtes Grundwissen, das etwa durch informelle Interaktion erfolgen kann, um die individuellen Wissensnetze anzugleichen, wie es Capurro ausdrücken würde. Ähnlich verstehen es auch Nonaka und Takeuchi, wenn sie von der Emergenz neuen Wissens sprechen, etwa durch Kombination von implizitem und implizitem Wissen durch Sozialisation. Somit wäre Coolidges Besuch in Europa und seine Beobachtung der Molybdänbearbeitung bei niedriger Temperatur eine Übertragung von implizitem Wissen durch Sozialisation der Forscherkollegen. Ein gänzlich gescheiterter Wissenstransfer lässt sich am Beispiel des Auer-Verfahrens zeigen. GE hatte es auf Whitneys anraten hin von Welsbach für $100.000 gekauft, und Whitney selbst arbeitete bis zum völligen Zusammenbruch an einer Adaption des Verfahrens – und scheiterte. Obwohl alle formalen Anforderungen erfüllt waren, gelang es Whitney nicht, dieses Wissen in die USA zu bringen. Wissenstransfer konnte auch unterbunden werden: Die Forschung und den Erfolg mit duktilem Wolfram konnte GE vor allen Konkurrenten offensichtlich zwei Jahre lang geheimhalten: Erst als Coolidge selbst sein Artefakt 1909 den Forschern der DGA präsentiert, wird sein Wissen bekannt.
5.3 Das Wissen selbst Struktur von Wissen Die bereits angesprochene Struktur von Wissen lässt sich an der sogenannten Wissenstreppe zeigen, die von Wirtschaftswissenschaftlern und Philosophen wie Capurro, Gundry oder Bell erläutert wird. Wissen besteht dabei aus Informationen, die wiederum 246 Luxbacher, S. 115.
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aus Daten bestehen. Daten sind nach Vincenti mit die messbarsten Ergebnisse technischer Forschung. Gundry bezeichnet Daten als „0-dimensional, a fact“, in unserem Fallbeispiel etwa eine Temperatur oder die Festigkeit und Dauer von Hammerschlägen, die Ingredienzien eines Amalgams, &c. Diese Daten werden im Stufenmodell zu Informationen und letztlich zu Wissen. Konkret ist das am besten zu zeigen an zwei Beispielen aus dem GE-Labor: die Daten sind (1) 3422°C und 2650°C oder (2) die Beobachtung einer faserartigen Struktur im Mikroskop. Daraus werden nun Informationen – nach Gundry ist eine Information „1-dimensional, a difference that makes a difference“. Das könnten etwa Kriterien & Spezifikationen für den Glühdraht sein, die Vincenti als Teil von technischem Wissen definiert. In unserem Beispiel würden die Daten zu (1) Schmelz- bzw Sintertemperatur von Wolfram oder (2) zur Unterscheidung von Faser- und Kristallstruktur. Wissen letztlich wäre die Verbindung von Informationen in einer konkreten Anwendung, in dem sie einen Sinn ergeben und Erklärungskraft erhalten. Konkret wäre das im Beispiel (1) das Festlegen der Bearbeitungsgrenzen für einen formbaren Wolframblock oder (2) das Erkennen des Zusammenhanges von Änderung der Wolframstruktur und seiner Bearbeitung. So werden einzelne, für sich bedeutungslose Daten wie eine Gradzahl durch die Zusammenfassung als Informationen und ihrer Einbettung in einen konkreten Kontext zu bedeutungsvollem Wissen. Wissen wird von Faulkner daher auch als Verfügen über Informationen gesehen. Publikation, Patent, Artefakt Wissen als Bestand von Expertise haben wir bereits kennengelernt. Andere, wie etwa Schreyögg, vertreten dagegen einen Begriff von Wissen als zeitfestem Bestand aus Objekten. Dieses Wissen bezeichnet Schreyögg als artikulierbar, transferierbar und archivierbar und nennt es disembodied knowledge. Die Einzelobjekte dieses Wissensbestandes finden sich u.a. bei Ash als Formeln und Publikationen. Die Verschriftlichung ist bei diesem Wissensbegriff das Mittel der Wahl. Unter dieses Objektwissen fallen etwa die Laborprotokolle und Tagebücher der Forscher, die jeder auf Whitneys Anweisung zu führen hatte. Das Paradebeispiel für ein Wissen in diesem Sinn sind auch Patente. Buss und Wittle reden von Wissen als Ware und meinen damit Patente oder Intellectual Property. Den beiden Autoren zufolge wurde in der Industrieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar auch geistiges Eigentum produziert, jedoch nur als Beiprodukt im Forschungsprozess. Dagegen zeigt unser Fallbeispiel den Leiter des Patentbüros Davis sogar als Mitbegründer der Industrielabors bei GE. Die 99
Überwachung der Forschung durch die Patentabteilung war allgegenwärtig, in der Entwicklung des Coolidge-Verfahrens sogar maßgebender Antrieb! Das Patent auf dieses Verfahren, nicht das Produkt als solches, bezeichnen Historiker wie Reich und Luxbacher als die größte Waffe zur Monopolsicherung und Marktherrschaft.247 Neben dem Patent zählt die Publikation zu den meistgenannten Wissensbegriffen, wie auch bei Buss und Wittke. Sie definieren etwa den Wissensbestand als Menge zitierfähiger Werke von Wissenschaftlern. Dieses Wissen ist danach ein öffentliches Gut. Wenn wissenschaftliches Wissen jedoch Publikationen sind, dann ist Industrieforschung nur sehr eingeschränkt als Wissenschaft zu sehen: sie ist durch ihre Einschränkungen weder öffentlich, noch produziert sie eine kritische Menge zitierbarer Werke. Letztlich kann mit Weingart Wissen als Forschungsergebnis, also auch als das Produkt selbst betrachtet werden: duktiler Wolframdraht als Ergebnis der Forschung. Das technische Wissen, das laut Vincenti zur Erzeugung und Nutzung von sachlichen Artefakten dient, zeigt sich damit auch im Produkt Wolframdraht. Wert von Wissen Wie wir wissen, ist Wissen Macht. Genauer ist es nach Berger und Tuckmann ein Teil von Macht- und Aushandlungsprozessen. Das kann man am erwähnten Patent beobachten: Es bedeutete für GE nicht nur ein Recht, das sie vergeben konnten, wie sie wollten und so kleinere Firmen effektiv vom Markt verdrängten248 sondern auch ein Verhandlungsprivileg. So bedeutete Coolidges Amalgamverfahren für Whitney einige Verhandlungsvorteile, als dieser in Europa Patente kaufen musste. Ein anderes Beispiel ist Coolidges Gehaltsverhandlung mit seinen Vorgesetzten bei GE: er kannte offenbar den Marktwert seines Wissens und wollte daran mehr beteiligt werden. Den Wert von Coolidges Wissen erkannten auch die GE-Patentanwälte, als sie auf die Fertigstellung des Wolframverfahrens drängten, während Coolidge schon etwas anderes als hot swaging entwickeln wollte. Diesem Verhandlungs- und potentiellen Wert von Wissen steht der konkrete Profit gegenüber. Weingart betrachtet Wissen als profitgenerierendes Gut, das wir sowohl
247
Vgl. Luxbacher, S. 454 und Reich, S. 242.
248 Die einzige Ausnahme blieb nach dem ersten Weltkrieg nur noch die Firma Julius Pintsch, die ein eigenes Verfahren patentiert hatte. Alle anderen waren entweder direkt vom Patentkonglomerat aus GE, Siemens & Halske, DGA und AEG abhängig oder verschwunden, s. Kapitel 3.
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am Artefakt selbst sehen: 1914 wurden mehr als 74 Mio. Wolframdrahtlampen allein in den USA produziert mit einem Wert von 11,8 Mio. US-$.249 Aber auch das Patent als Forschungsergebnis generiert Profit. GE kaufte etwa Patente auf Verfahren von Auer für $100.000, von Siemens & Halske für die gleiche Summe, von Just & Hanamann für $250.000, &c. Diese Forscher und Firmen machten damit mit ihrem patentierten Wissen eindeutig Gewinn. Bei diesen Summen ist zu bedenken, dass die gesamte Entwicklung des duktilen Wolframdrahtes bei GE die Errichtung eines Zentrallabors benötigte, dazu dutzende Forscher, die vier Jahre damit zubrachten; die Eigenproduktion dieses Wissens also kostete GE insgesamt knapp $100.000 – weniger als die Hälfte des Just&Hanamann-Patents allein.250 Eigenes Wissen herzustellen hatte sich für GE mehr als gelohnt: 1914 verkauften sie mehr als 100 Millionen Wolframdrahtlampen und verdienten allein damit 50% mehr als sie 1910 an Gesamtgewinn verbucht hatten!251 Andere Wertarten als Geld sehen Buss und Wittke bei der Wissenform Publikation: Für sie bedeutet Wissen in der Wissenschaft Reputation, für den Wissenschaftler wertvoller als bares Geld. Auch am Beispiel Coolidge zeigt sich, dass die Publikation ihren Wert hat: Er konnte sein Wissen erst in wissenschaftlichen Journalen in Umlauf bringen, nachdem alles patentiert worden war. Am Beispiel Publikation und Wert von Wissen wird auch eine Bruchstelle der Industrieforschung deutlich: Die Forscher bei GE verdienten mit ihrem Wissen praktisch keine Reputation in Wissenschaft, wurden auf der anderen Seite aber auch nicht an den Lizenzeinnahmen von GE beteiligt. Das konnte durchaus zu Sinnkrisen führen, wie John Beer am Beispiel der Chemieindustrieforschung zeigt.252
5.4 Meta-Wissen Nachdem wir nun Wissen in und um die Forscherperson, in und durch die Forschungsstätte, als auch Struktur und Wert von Wissen betrachtet haben, wenden wir uns der Bezeichung zu: Wissen als Nichtwissen, als wissenschaftliches und wirtschaftliches
249 Bright, S. 489, Appendix D. 250 Reich, S. 118. Bright nennt $116.856 als genauen Betrag, Bright, S. 195. 251 Für das Jahr 1910 listet General Electric einen Nettogewinn von $10,9 Mio., vgl. Bright, S. 149. 1914 verkauften sie mehr Lampen im Wert von rund $16 Mio., vgl. Wise, S. 123. 252 Beer, S. 129f.
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Wissen. Nicht-Wissen ist nach Schreyögg das Wissensdefizit, und damit alles, was noch nicht Wissen ist. Schreyögg spricht von einer nicht festzustellenden Menge, also ist Nichtwissen das, wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß: unknown unknowns, wie sich der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ausdrückte.253 Daneben gibt es aber known unknowns, oder nach Schreyögg: Aussagen, die noch nicht Wissen sind, weil sie die notwendigen Qualifikationsverfahren noch nicht durchlaufen haben. Noch sind es Meinungen, die aber Wissen werden könnten. Danach müsste in unserem Beispiel die Kenntnis der Bearbeitungstemperatur von Wolfram, ausschlaggebend für die Entwicklung des Verfahrens, als Nichtwissen bezeichnet werden. Denn noch war es nicht intersubjektiv geprüft worden, wie es Schreyögg verlangt. Wissensbestand Bevor die Forscher bei GE sich daran machten, Kenntnisse von Temperatur und Struktur von Wolfram zu erarbeiten, existierten sie nicht im wissenschaftlichen Wissensbestand, den Schmoch als Definitionsteil für Wissenschaft benutzt. Die Wissenschaft, hier die Chemie und Physik, war vor Coolidge nicht in der Lage, die Probleme bei der Bearbeitung mit Wolfram zu verstehen oder zu erklären. Es fehlte an technischem Wissen, wie Luxbacher feststellt: Man benötigte erst technische Instrumente wie den Moissan-Ofen als Grundlage zur Forschung. Der Wissensbestand über Wolfram war im 19. Jahrhundert sehr langsam angewachsen mit der ersten Beschreibung von Wolfram um 1800, ein paar angedachten Versuchen um 1850 und den ersten Experimenten ab 1900. Der Wissensbestand war zu Anfang der Glühlampenforschung noch gleich verteilt, alle Entwickler von Lampen untersuchen alle verfügbaren Metalle und einigten sich auf Wolfram.254 Der Bestand änderte sich durch Coolidges Forschungen: es fand eine Revision des geltenden Wissens statt, man hatte gelernt, dass auch bei niedrigeren Temperaturen ein duktiler Draht erzeugt werden konnte. Das zeigt die Konstruktion 253 US-Secretary of Defense Donald Rumsfeld antwortete während einer Pressekonferenz am 12.02.2002 auf die Frage, ob man ausschließen könne, dass der Irak Terroristen unterstütze: „Reports that say that something hasn‘t happened are always interesting to me, because as we know, there are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns -- the ones we don‘t know we don‘t know. And if one looks throughout the history of our country and other free countries, it is the latter category that tend to be the difficult ones.“ News Briefing Transcript, S. 6. 254 Mit der Ausnahme von Carl Auer Freiherr von Welsbach, der Wolfram nicht für brauchbar hielt und es lediglich als Zusatzmaterial, nicht aber als Drahtgrundstoff nutzte.
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des wissenschaftlichen Wissens, dessen Bestand sich über die Zeit ändert. Wissenschaftlich, Technisch, Wirtschaftlich Was ist nun wissenschaftliches Wissen und lässt sich diese Bezeichnung auf Coolidges Wissen hier anwenden? Wissenschaftliches Wissen nach Scheler ist Wissen zur Beherrschung und Umformung der Natur nach Willen des Menschen. Demzufolge wäre Coolidges Wissen von Wolfram tatsächlich wissenschaftlich, bewirkte es doch eine Umformung der Natur durch und für ein Artefakt. Nach Lyotard ist Wissenschaft ein denotatives Sprachspiel, das über privilegiertes Wissen verfügt. Das Kriterium der Annehmbarkeit einer Aussage ist darin ihr Wahrheitswert. Den Rechtfertigungsaspekt wissenschaftlichen Wissens betont auch Schreyögg, wenn er episteme als wahre, gerechtfertigte Meinung zitiert: Wissenschaftlich werden Aussagen nach Schreyögg nur durch ein Qualifizierungsverfahren, in der Wissenschaft mit dem binären Unterscheidungskriterium wahr/unwahr, in der Wirtschaft entsprechend mit erfolgreich/unerfolgreich. Faulkner nennt als wissenschaftliches Wissen Wissen über die Forschungsfront und Wissen über Versuchstechniken. Ersteres war durchaus bei Coolidge vorhanden: Bei GE war man stets auf Horchposten gegenüber Konkurrenten und der akademischen Forschung. Letzteres bezeichnet Vincenti als theoretical tools und ordnet es der Technik zu, nicht der Wissenschaft. Letztlich ist klar, dass Forscher immer über Versuchstechniken verfügen müssen, ob nun wissenschaftlich oder technisch ausgebildet. Diese Techniken sind ebenso Teil der Ausbildung wie technische Theorien nach Layton, die er den wissenschaftlichen Theorien entgegensetzt, damit aber nur eine Entsprechung schafft und kein Gegenteil. Weingart spricht vom wissenschaftlichen Forschungsergebnis, das könnte in unserem Fallbeispiel also entweder die Publikation und damit die Erklärung eines Phänomens darstellen. Oder das Forschungsergebnis manifestiert sich als Produkt Wolframdraht, der ja das Ziel war und der Grund, warum GE Coolidge Gehalt zahlte. Nach der Unterteilung von Wissenschaft und Technik, die wir in Kapitel 2.3 vorgenommen haben, kann Weingart mit einem wissenschaftlichen Forschungsergebnis jedoch nur die Erklärung eines Phänomenes meinen – denn das Artefakt als Forschungsergebnis wäre der Technik zuzuordnen. Da zumindest der praktische Zweck der Forschung ganz klar die Artefaktproduktion war, lässt sich Weingarts Begriff hier nicht anwenden. Ebenso gilt dies für den Begriff des wissenschaftlichen Trägers von Wissen bei Weingart, den
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er als Forscher identifiziert. Da wir hier wie erwähnt von einer technischen Forschung im Sinne der Erforschung von Technik(en) zum Zweck der Artefaktproduktion ausgehen, greift hier auch dieser Wissenschaftsbegriff Weingarts nicht. Die Wissensräume nach Ash lassen sich hier anwenden, wie oben gezeigt wurde. Diese Räume bezeichnet Ash als wissenschaftliche Forschungsstätten – demnach könnte das GE Labor ein solches gewesen sein und damit Coolidge in wissenschaftlichem Umfeld gearbeitet haben. Neben dem technischen Zweck von Coolidges Forschung zeigt Vincenti auch den technischen Charakter seines Wissens: wir entdecken sowohl die fundamentalen Konzepte von Design, wie auch praktische Überlegungen und die Kriterien & Spezifikationen wieder, die alle der Technik zugeordnet werden. Für die Entscheidung zwischen wissenschaftlichem und wirtschaftlichem Wissen stelle ich für unseren Fall beispielhaft die Frage: War die Kenntnis des Verhaltens der Wolframstruktur, also das Wissen, wann Wolfram kristallin oder faserartig wird, nun wissenschaftlich oder wissenschaftlich? Wirtschaftliches Wissen nach Schreyögg kann die Strukturkenntnis nicht sein, weil es noch nicht nachgewiesen erfolgreich ist und nicht unbedingt sein muss. Wissenschaftliches Wissen ist die Kenntnis aber auch nicht, weil sie vor der Publikation nicht von der wissenschaftlichen Gemeinschaft geprüft werden kann. Wenn Coolidge aber seine Meinung nicht gerechtfertigt hat, war seine Leistung dann nicht auf episteme, sondern im Gegenteil auf doxa basierend, also reine Meinung? Schreyöggs Definition hilft uns hier nicht weiter und kann damit den Erfolg Coolidges nicht erklären. Nach Lyotard wäre Coolidges Kenntnis dann wissenschaftliches Wissen, wenn sie von der Wissenschaft angenommen wurde, also durch seine Publikation, und damit erst nach Fertigstellung des Artefaktes zum wissenschaftlichen Wissen geworden. Wir sehen also, der Zuordnung der Wissensbegriffe nach zu urteilen, scheinen die Autoren Coolidges Wissen ebenso oft der Wissenschaft wie der Technik zuzuordnen, wobei ein wissenschaftliches Wissen erst nach Abschluss der Forschungen zu erkennen ist. Wirtschaftlich wäre Coolidges Wissen ebenfalls erst zu einem sehr späten Zeitpunkt zu bezeichnen, als der Erfolg klar abzusehen war.
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Das Industrielabor als Wissenschaft? Wissenschaft nach Schmoch ist das, was Wissenschaftler als Wissenschaft ansehen. Auf die Frage: ist Industrieforschung Wissenschaft oder Industrie? müsste man also antworten: Wissenschaft, wenn sie von Wissenschaftlern „akzeptiert“ wird. Wenn das System Wissenschaft die Industrieforschung für sich vereinnahmen würde, gehörte sie dazu. Man müsste also überprüfen, ob 1912 die Industrieforschung bei GE als Teil der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert wurde. Diese Frage wurde so noch nicht untersucht und kann an diese Stelle nicht beantwortet werden, nur so viel: Wenn Forscher im Industrielabor so gut wie keine Publikationen produzierten, wenn sie an keiner Tagung mehr teilnahmen und keine anerkannte Forschungsstelle in der Akademia innehatten, dann waren sie dadurch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft deutlich distanziert und in ihrer Kommunikation eingeschränkt. Andererseits gab es immernoch Verbindungen der Industrieforscher in die Wissenschaft: als Mitglieder, Präsidenten und sogar Preisträger von wissenschaftlichen Vereinigungen, und als Koryphäen auf ihrem Gebiet. Für unser Fallbeispiel kann man allenfalls auf ein gespaltenes Verhältnis der Identität schließen, ohne näher darauf einzugehen. Die spätere Entwicklung der Industrieforschung, als das GE Labor zum „House of Magic“ wurde, zeigt einen deutliche Veränderung der genannten Trennung. In den 1920er Jahren entstanden engere Verbindungen zur Öffentlichkeit wie auch zur Akademia, die Industrieforschung dann als „Fortschritt der Wissenschaft“ feierten.255
5.5 Nicht anwendbare Begriffe Bei einer solchen Fülle an Wissensbegriffen, wie ich sie hier zeige, ist es nur natürlich, dass einige davon nicht anwendbar sind. Wenn Machlup etwa von Intellektuellem Wissen spricht, so nennt er zwar die Wissenschaft als Anwendungsgebiet – es geht ihm jedoch um Bildung, vielleicht Ausbildung, nicht jedoch um Forschung. Auch Wissen als symbolischer Raum nach Ash, also die Inszenierung von Wissenschaft in der Öffentlichkeit, kann ich an meinem Fallbeispiel nicht aufzeigen. Es geht Ash um neue Phänomene, die präsentiert werden, oder grundlegende Einsichten. Hier jedoch handelt es 255 Reich, S. 92f.
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sich um private Produktinnovation, die weder grundlegend neue Phänomene erforscht (denn Glühlampen gab es zuvor bereits), noch um die Öffentlichkeit buhlt, denn es gilt das Betriebsgeheimnis. Später, als das GE Research Lab zum „House of Magic“ wurde, ließe sich Ashs Begriff dagegen durchaus anwenden. Andere Ansätze von Wissen gehen zu sehr in eine sehr abstrakte oder extrem detaillierte Richtung. Wenn etwa Nonaka und Takeuchi von ihrer Trennung in explizites und implizites Wissen auf innere Eigenschaften wie „sequenzielles Wissen“ oder „Geist-Wissen“ schließen, das sich im Kopf des Individuums trennt – dann ist eine Überprüfung dieser Begriffe wenigstens am historischen Fallbeispiel nicht nachzuvollziehen, zu psychologisch und individuell müsste solch eine Überprüfung sein. Berger und Tuckmanns Begriffe vom Wissen als Gewissheit der Wirklichkeit oder als Bedeutungs- und Sinnkonstruktion wiederum bewegen sich in einer philosophischen Sphäre, die der historischen Fallstudie mit empirischem Charakter verschlossen ist. Letztens lassen sich systemtheoretische Ansätze schlecht in ein Fallbeispiel einbinden, da sie naturgemäß einen Makrotheoretischen Blick benutzen. Wenn Luhmann nun von Wissen als systemtheoretischer Funktion von Kommunikation spricht, so lässt sich dies an meinem begrenzten historischen Beispiel nicht nachweisen.
5.6 Erklärungsmacht der Wissenstheorien Wissen als Objekt zu betrachten, das archiviert, transferiert und verkauft werden kann, hat in meinem Fallbeispiel wenig Erklärungsmacht entfaltet. Weder lässt sich der Vorgang der Forschung durch Formeln, Patente oder Publikationen erklären, noch ließe sich daran das Verhältnis von Forschern untereinander und zum Unternehmen nachzeichnen. Eine einzelne Innovation dadurch nachzuvollziehen gestaltet sich als fast unmöglich. Eine brauchbare Unterteilung dagegen stellt die „Wissenstreppe“ der Verwaltungswissenschaftler dar, die Wissen in Informationen und Daten zerlegen. Damit lässt sich sehr gut nachweisen, welches Wissen in der Innovation wo entsteht und welcher Teil vom Wissen der Forscher später als Informationen verschriftlicht werden – und die Einschränkungen, die daraus resultieren. Extreme Vertreter wie Schreyögg, die Wissen ausschließlich als ein Objekt begreifen und argumentieren, andere Formen dürfe man nicht als Wissen gleich welcher Art bezeichnen, sind in einer historischen Betrachtung daher nicht nur hinderlich, sondern kontraproduktiv: Schreyöggs Ansatz 106
kann nicht nur nicht erklären, wie das Wissen über Wolfram entstand und wie die Innovation im GE Labor geschah. Mit seiner Methode wäre die Forschung von vier Jahren darüber hinaus reine Meinung, unüberprüfbare Intuition und unerklärliche Erfahrung gewesen. Wenn man nicht die Entstehung, sondern den Wert eines bestimmten Wissens sehen möchte, bringt ein Objektansatz durchaus Vorteile: Am Patent zeigen sich deutlich die Marktpreise und die Verhandlungsmacht, die Wissen erzeugen kann. An der Publikation zeigt sich dazu die Problematik der Zuordnung von Industrieforschung. Auch der Ansatz von Wissensräumen als Objekt gibt interessante Hinweise auf das Umfeld, das bei der Innovation eine große Rolle spielt. Nur das Objekt jedoch kann den Zusammenhang nicht erklären. Wie und wo also Wissen entsteht und welche Faktoren in der Innovation eine Rolle spielen, kann ein Ansatz von Wissen als Objekt nicht erklären. In der Anwendung von Wissensbegriffen, die Wissen als Prozess begreifen, zeigt sich dagegen eine deutliche Erklärungsmacht. Nicht nur versteht ein Prozessansatz Wissen als historisch wandelbares, sozial und kulturell abhängiges Konstrukt und kann daher viel effizienter die Abhängigkeiten und Einflüsse von Wissen zeigen – Wissen als persönlichen Prozess zu sehen, leistet in der Erklärung von Innovation einen viel größeren Dienst. Denn in einen persönlichen Wissensbegriff spielen Erfahrungen, Begabungen, Expertise und Intuition mit hinein, und zeigen die Rolle des Individuums in der konkreten Situation viel deutlicher. Bei einen Prozessansatz ist nicht nur das Endprodukt der Innovation wichtig, sondern auch die Voraussetzungen und der Innovationsprozess selbst: die Ausbildung der Forscher, ihre Methoden, Apparaturen und Vernetzung mit Anderen wie auch die Informationen, die zu neuem Wissen führen oder grundlegend wichtig sind, um fremdes Wissen anzuwenden. Zwar können Prozessansätze auch zu weit führen, etwa wenn sie auf die Makroebene abheben oder mikropsychologisch die Bewusstseinsvorgänge nachvollziehen wollen. Trotzdem bleiben Ansätze, die Wissen als Prozess begreifen, das Mittel der Wahl um Innovation nachzuzeichnen und die einfließenden Faktoren aufzuzeigen.
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Zusammenfassung Wissen in der Innovation Als am Ende des 19. Jahrhunderts eine Innovation der Glühlampe dringend nötig wurde, suchte man in der Elektroindustrie nach neuen Materialien, die sich für ein Glühfilament eigneten und stieß schließlich auf Wolfram. Bisher war es nicht gelungen, dieses harte und spröde Metall nutzbar zu machen, oder gar einen haarfeinen Draht daraus zu ziehen. Dennoch gelang es dem Elektroingenieur, promovierten Physiker und erfahrenen Chemiker William David Coolidge im Forschungslabor des USamerikanischen Großkonzerns General Electric am Ende des Jahres 1908, duktilen, also mechanisch ziehbaren Wolframdraht herzustellen. Diese Innovation der Glühlampe bezeichnet der Historiker Günther Luxbacher als Schlüsseltechnologie, da sie nicht nur zu einem Produkt führte, sondern sowohl den Konzern General Electric an die Spitze des internationalen Glühlampenmarktes beförderte, als auch neue Technologien wie die der hochschmelzenden Metalle schuf und die Metallurgie enorm voranbrachte. Meine erste Untersuchungsfrage lautete nun: Welcher Art war das Wissen, das William Coolidge zur Entwicklung des Wolframdrahtes nutzte? Dazu habe ich zunächst den Kontext der Industrieforschung aufgezeigt, um dann 14 Autorinnen und Autoren aus den Disziplinen Philosophie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften, Historiographie sowie aus der Innovationsforschung in ihren Ansätzen zu vergleichen und ihre Begriffe von Wissen herauszuarbeiten. Da Wissen ein sehr breiter und flexibler Begriff ist, war eine Neukategorisierung zwingend notwendig, um die verworrenen Definitionen für eine Bewertung meines Fallbeispieles anwendbar zu machen. Dazu schlage ich ein Modell der Wissens-Quadranten vor, das eine Einteilung aller Ansätze und Definitionen von Wissen in vier Felder ermöglicht. Zwei Achsen teilen die Felder in einem kartesischen Koordinatensystemen. Die erste Achse unterscheidet zwischen Persönlichem Wissen – wenn beispielsweise der innere Vorgang des Wissens und Verstehens betrachtet wird – und Kollektivem Wissen, wenn also Wissen in einer Beziehung zwischen mehr als zwei Individuen untersucht wird. Die zweite Achse spanne ich zwischen der Dichotomie von Wissen als Prozess und Wissen als Objekt: Diese Unterscheidung zeigt sich bereits in der Vokabel „Wissen“, das einmal Objektwissen sein kann, das man besitzt oder hat; und einmal Prozesswissen 108
im Sinne des Vorganges von Verstehen und Erkennen. Die so neu eingeteilten Ansätze und ihre verschiedenen Wissensbegriffe wende ich auf den historischen Fall an, und komme zu folgendem Ergebnis: Ein Ansatz von Wissen als Objekt kann antworten auf die Fragen nach „Wie viel“ und „Wo“, kann damit Wissen quantifizieren und mit einem Wert versehen, sowie in Wissensräumen lokalisieren. Der Ansatz von Wissen als Prozess kann uns dagegen Fragen nach dem „Wer“, „Wie“ und „Wann“ beantworten – also Wissen mit Personen verknüpfen, Verbindungen aufzeigen, den Entstehungsprozess nachzeichnen helfen und von Nutzen sein, wenn man zeitliche Abläufe des Wissens festmachen will. Die Sinnerklärung der Entstehung, Verwendung oder Nutzung bestimmten Wissens muss der Fragende jedoch aus der Synthese beider Ansätze entwickeln. Das Wissen in der Innovation durch Coolidge ist mannigfach: Es lässt sich sowohl Objekt-Wissen feststellen, das kodifiziert vorliegt als Patent auf das Coolidge-Verfahren, als Publikation darüber in wissenschaftlichen Journalen und als konkreter Produktionsprozess in Industriehallen in New York und Berlin: Diese Wissensart ist explizit, archivierbar und verschriftlicht. Die Behauptung, Wissen als Objekt ließe sich genauso einfach transferieren, wie es sich archivieren lässt, muss jedoch diskutiert werden; zeigt sich doch am Fallbeispiel, dass gerade die beim Transfer des Wissens auftretenden Probleme sich mit Objekt-Wissen nicht beheben ließen. Dazu bedarf es der gegensätzlichen Art von Wissen im Prozessansatz. Bei Coolidge zeigt sich eine dauernde Kombination vieler Wissensarten im Prozess der Innovation: implizites Wissen als Können und Intuition spielte ebenso eine Rolle wie lokales und schweigendes Wissen als persönliche Erfahrungen von Forschern und Arbeitern, die durch informelle Interaktion Wissen übertragen konnten, und somit erst die Grundlage für den erwähnten Wissenstransfer schufen. Weiter lässt sich eine ständige Rekonstruktion des Wissensbestandes beobachten, in den nach und nach neue Informationen eingebaut wurden. Auch wissenschaftliches Wissen spielte mit in die Innovation hinein, denn ohne wissenschaftliche Theorien in Chemie und Physik wäre neues Wissen über Werkstoffe und Elektrizität nicht möglich gewesen. Auch nach Schelers Definition tritt hier deutlich wissenschaftliches Wissen hervor, nämlich in der Umformung der Natur nach dem Willen des Menschen. Im Verständnis von Wissenschaft als Suche nach Verständnis von Phänomenen lässt sich ebenfalls zeigen, dass Coolidges Wissen ein wissenschaft109
liches war: führte es doch zu Verständnis und Einsicht in die Struktur bestimmter Metalle. Der Schluss liegt nahe, dass Forschung auch in der Industrie daher akademisch und damit wissenschaftlich blieb. Wie ich jedoch gezeigt habe, ist durchaus eine Trennung von Wissenschaft und Technik möglich und erwünscht. Diese Trennung wird vor allem in der Forschung deutlich – so auch in meinem Fallbeispiel. Coolidge musste trotz Ausbildung in Chemie und Physik zuerst ohne konkretes wissenschaftliches Vorwissen auskommen, da das metallurgisches Wissen um 1900 nicht ausreichte, bestimmte Phänomene wie die Brüchigkeit von Wolfram zu erklären. Die konkreten Eigenschaften von Wolfram waren schlichtweg unbekannt und es gab für die Industrieforscher keine direkte Theoriebasis. Ihre Methoden der Forschung lassen sich eher der Technik als der Wissenschaft zuordnen: Trial&Error–Verfahren, Modelltests oder spezielle, stark limitierte Werkstofftheorien. Dies alles identifiziert Vincenti klar als technisches Wissen. Im Übrigen musste Forschung bei General Electric angewandt sein, auch wenn langfristige Forschungsprojekte als Grundlagenforschung tituliert wurden: Das Ziel von GE als Unternehmen waren Gewinne, seine Industrieforschung daher auf die Produktion und Verbesserung von Artefakten ausgelegt. Ganz explizit hatte Coolidge den Auftrag, Wolframdraht herzustellen – ein besseres Verständnis der Metalle war dabei wissenschaftliches Mittel zum technischen Zweck. Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Coolidge nutzte für seine Innovation implizites, persönliches und intuitives Wissen, das sich im Laufe der Untersuchungen und Entwicklungen veränderte, um letztlich teilweise expliziert und kodifiziert zu werden. Es wurde dann in Form von Publikationen zu wissenschaftlichem Wissen – zuerst jedoch manifestierte es sich technisch und wirtschaftlich: als Prozess, Patent und Produkt. Ein Primat wissenschaftlichen Wissens lässt sich nicht belegen, eher das Gegenteil ist der Fall: Bei der Innovation des Glühlampenfilamentes spielte technisches Wissen die Hauptrolle. Verwissenschaftlichung der Industrie Der Ort von Coolidges Innovation war das erste große Industrieforschungslabor der Elektroindustrie, das 1901 gegründete General Electric Research Laboratory. Dieses Labor war eines der ersten seiner Art, und definitiv das erste Großforschungslabor der Elektroindustrie. Nach der Historikerin Margit Szöllösi-Janze ist die entstehendende Industrieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Kristallisation der Verwissen110
schaftlichung“ zu sehen, die den Beginn der heutigen Wissensgesellschaft markiere. Meine zweite Untersuchungsfrage schließt nun an die erste an und fragt danach, welche Auswirkungen die Art des von Coolidge benutzten Wissens auf Szöllösi-Janzes These von der Verwissenschaftlichung der Industrie entfaltet. Besonders die postulierte Diffusion wissenschaftlichen Wissens in die Wirtschaft war zu hinterfragen. Da die These der Verwissenschaftlichung eine komplexe und umfangreiche ist, lässt sie sich im Rahmen meiner Arbeit weder belegen noch entkräften – trotzdem konnte ich zeigen, dass Coolidge hauptsächlich technisches, nicht wissenschaftliches Wissen benutzte, dass also eine Verwissenschaftlichung im Sinne einer „Durchdringung“ der Elektroindustrie mit wissenschaftlichem Wissen nicht zu beobachten ist. Szöllösi-Janze selbst zeichnet eher das Bild einer Technisierung der Wirtschaft, und dies lässt sich an meinem Fallbeispiel auch zeigen – man könnte auch von einer Akademisierung des Personals oder einer Professionalisierung der Entwicklung reden, Verwissenschaftlichung jedoch scheint mir dafür ein zu unscharfer und irreführender Begriff zu sein. Wissen als industrielle Ressource Obwohl unklar ist, welcher Art nun genau dieses Wissen war, das sich in der neuen Industrieforschung manifestierte und bestimmte Innovationen erst möglich machte, so lässt sich doch Wissen als Ressource betrachten: General Electric hat gezielt Forschung in das Unternehmen geholt, von Anfang an in großem Maßstab geplant und, verglichen mit allen bisherigen Forschungslaboratorien der Elektroindustrie, zum ersten Mal das Wissen vieler Forscher systematisch exploriert und genutzt. Erhebliche Investitionen waren nötig: Es wurden teuer Akademiker eingekauft, ein neues Zentrallabor aus dem Nichts aufgebaut und das Wissen durch Patente und Verhandlungen zu sichern versucht. Wenn sich nun die Frage stellt, warum General Electric mit Coolidge das filament race um die Hegemonie über den internationalen Glühlampenmarkt gewann, so könnte man zwar mit Luxbacher antworten: dass die Amerikaner letztlich ihr Wissen auch von den Europäern bekommen hätten, somit alle mehr oder weniger gleich gewesen seien; dass aber General Electric in nicht näher erklärbarer Weise, wohl durch einen größeren Ehrgeiz in der Produktentwicklung und im folgenden Patentstreit, die Konkurrenten überholt hätte. Die Frage nach dem Sieg der Amerikaner ließe sich meiner Meinung nach aber auch anders beantworten. Wenn man sich nämlich vor Augen führt, dass um die Jahrhun-
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dertwende Deutschland als die Techniknation schlechthin galt, dass eine Ausbildung an deutschen Hochschulen für den Bildungshimmel gehalten wurde, dass die deutsche Industrie (vor allem die Elektroindustrie) alle Konkurrenten in Frankreich und England in puncto Innovation ausstach – dann muss man sich fragen, ob in diesem Umfeld der deutsche Teilnehmer des filament race, der Großkonzern und Marktführer Siemens & Halske, tatsächlich das Rennen gegen die Amerikaner verlor, weil man die eigene technische Innovation nicht zuende bringen konnte? Weil man nicht genug Ehrgeiz gezeigt hatte? Sinnvoller erscheint es mir doch, die Forschungseinrichtungen der Unternehmen zu betrachten und daran auch deren Einstellung gegenüber der internen Industrieforschung zu verdeutlichen: Obwohl in der deutschen Chemieindustrie um 1900 bereits seit mindestens zehn Jahren Pionierarbeit auf dem Feld der industriellen Großforschung geleistet wurde, obwohl das Modell eines Zentrallabors, wie Carl Duisberg es bei Bayer errichtete, sich gegen alle Skepsis als nicht nur gewinnbringend, sondern maßgebend bei der Erlangung einer Marktkontrolle erwiesen hatte, obwohl dies alles im gleichen Land, ein paar hundert Kilometer von Siemens & Halske entfernt schon seit 20 Jahren zu beobachten war, entschloss man sich erst 1913, ein solches Zentrallabor zu errichten. Erst nach der Niederlage gegen General Electric und Verhandlungen, bei denen man seine eigene Leistung verleugnen musste – erst dann konnte man sich zu einem offensichtlich erfolgreichen Modell der Industrieforschung durchringen. General Electric hatten sich schon 1900, inspiriert von der deutschen Industrie, für ein Großlabor entschieden – und das mit Erfolg. Wie ich zu zeigen versucht habe, war es gerade die Mischung verschiedener Wissensarten, gerade die „cross-fertilization“ und Interdisziplinarität der Forscher, welche in einem großen Zentrallabor zusammenkamen und zum Austausch gezwungen waren, also letztlich ein gezielter Ansatz von Forschungswissen als geplant angelegtem, regenerierbarem Rohstoff, der zur Schlüsselinnovation der Glühlampenindustrie führte. Bayer hatte diesen Ansatz und General Electric hatte ihn. Beide profitierten enorm davon und alle Rivalen beeilten sich, es ihnen gleichzutun. Meines Erachtens spielte der Ansatz von Wissen als Ressource mit die größte Rolle bei der Entwicklung des Wolframdrahtes – der bis dahin als nicht machbar galt und der bis heute die Welt im Lichte erstrahlen lässt.
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Appendix
Tabelle 1: Die verbesserte Leistung von Glühlampen 1881–1910 Effizienz: Es gelten die gebräuchlichsten Größen: 16 candlepower für Kohlelampen; 50 oder 40-Watt bei GEM und Metallfilamentlampen. Jahr
Filament-Typ
Ursprüngliche Effizienz / Watt
Näherung für die Nutzdauer
1881
Verkohlter Bambus
1,68 lm/watt
600h
1884
„Flashed“ squirted cellulose
3,4
400
1888
Asphalt-surfaced verkohlter Bambus
3
600
1897
Nernst (refractory oxides)
5
300 (AC) / 800 (DC)
1898
Osmium
5,5
1000
1902
Tantal
5
250 (AC) / 700 (DC)
1904
GEM (metallized carbon)
4
600
1904
Non-ductile Wolfram
7,85
800
1910
Duktiler Wolfram
10
1000 Quelle: Bright S. 169.
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