Kriszta Bódis - Artista

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SONAR

ARTISTA

EUR 19,90 (D) ISBN 978-3-938424-40-7

www.voland-quist.de

ROMAN

Voland & Quist

„Menschen nicht. Aber ich.“

ROMAN

„Glaubst du, Menschen können fliegen?“

ARTISTA

„Ich versuche zu fliegen.“

Kriszta Bódis

„Was tust du?“


JANÓ

Wenn man klein ist, dann ist das Blöde daran, dass die Größeren einen fertigmachen. Und wenn jemand als Jugendlicher reinkommt, dann kriegt er schon mit, was passiert. Solange man klein ist, wenigstens nicht richtig. Stimmt schon, hier im Übergangsheim sind die Kindergartenkinder im anderen Flügel. In dieser Bude hier die Größeren. Mädchen und Jungs gemischt. Wenn sie einen in Ruhe lassen sollen, weil man schwächer ist, wenn irgendein Vollassi einen fertigmacht, dann geht man zu den Kleinen rüber. Weil der Erzieher, der hat keinen Plan, zu dem geht man umsonst, der macht keinen Handschlag. Und wer zu viel in der Scheiße rührt, muss sich nicht wundern, wenn er stinkt. Mich haben sie wegen den Lehrern hergebracht. Ich war vierzehn, angeblich hätte ich die Schule nicht besucht, hätte mich rumgetrieben und so weiter. Und dass dann die Eltern also wohl nicht in der Lage sind, mich zu erziehen. Und dann hierher. Na, das war ein Bonbon. Da biste ja schon im Gips, wenn du das nur hörst. Und dann so eingeschlossen. Nirgends mal ein freier Blick, immer steht was im Weg. Da standen mir die Haare hoch. Das ist das Wenigste … Janó, du sitzt in der Klemme, sagte ich mir, wie ein Hase in der Falle. Sie haben mich eingewöhnt. Wissen Sie, ich fand, es gibt Leute, mit denen kann man reden, und es gibt welche, mit denen lohnt es sich erst gar nicht. Denn eine Meinung ist hier wie ein Arschloch: Jeder hat eins, aber das von den anderen will man nicht wirklich kennen. Jungs und Mädchen sind getrennt. Ich meine, wir vermischen uns nicht besonders. Paar steile Schnitten sind schon dabei, nicht wie sonst alle … Aber wir sprechen nicht besonders viel miteinander. 7


Wissen Sie, Judit, es gibt Gesetze. Zum Beispiel: die Weiber oder der Schnee. Darüber, wer wie an Gras oder H kommt, reden wir nicht. Auch nicht untereinander. Mit niemandem. Drogen sind kein Thema. Es ist eher Thema, dass der Laci die Rozi fickt wie die Feuerwehr … Ich sag mal, darüber zerreißen wir uns auch nicht das Maul, aber es ist eher Thema, als dass wir von den Drogen sprechen. Dass du Roma bist? Das ist hier kein Thema. Es interessiert nicht, ob du Roma bist oder Ungar. Die Hautfarbe zählt hier nicht. Man kann mit dir reden oder nicht. Darauf kommt es an. Ob du ein Romakerl bist, Bauer oder ein Ungarntyp, das interessiert hier keinen, aber auch wirklich keinen. Klar sind manche so blöd, die fallen sogar beim Erdbeerenpflücken von der Leiter, und die reden rein, aber darum muss ja nun nicht gleich der Schwanz mit dem Hund wedeln. Der Unterschied ist, die Roma sind hart, die Ungarn nicht so. Vielleicht ist das der ganze Unterschied. Aber es ist kein Gesetz. Meinen einen ungarischen Kumpel haben sie auf dem Kieker, auch wenn er Ungar ist, sie haben ihn trotzdem auf dem Kieker, also, das zählt hier nicht, ob du eine ungarische Mutter hast und dein Vater ist Zigeuner oder beide sind es. Das interessiert hier zum Glück keinen. Und dann finde ich, es ist hier besser als in anderen Heimen. Aber das ist ein Übergangsheim. Das steht schon im Namen, eine Anstalt, aber auf Zeit. Na, ich war anfangs verwirrt wie Adam am Muttertag, als sie mich hier eingelocht haben, dass du in den Übergang kommst, wenn noch nicht entschieden ist, wohin sie dich packen, und immer wieder zurück, wenn du eine andere Altersgruppe erreichst, denn hier ist eine Verteilstation. So eine Verteilstation für unfrankierte Pakete. Egal, wie alt bist du denn? Dann kommst du hierhin, und wenn du so und so alt bist, dahin. In Kenese ist ein Platz, ab dahin, jetzt einer in Zala, na los, und wenn sich arme Pflegeeltern melden, dann nichts wie hin. Können Sie folgen? Trotzdem möchte ich gern hier bleiben, aber das ist fast unmöglich. Wenn sie entschieden haben, wohin sie dich stecken, gehst du. 8


Was unterm Dach ist, das soll lieber unter uns bleiben … meine Dame. Judit …? Dann eben Judit. Also, was im Dachgeschoss ist, das wäre eine Möglichkeit. Dass da Gelencsérs Truppe … Das ist etwas anderes. Ich beneide sie, sie können hier bleiben. Die haben den Tre¤er gelandet, verstehen Sie? Leider hätte ich wegen meiner schlechten Lernergebnisse und auch wegen der Drogen keine Chance. Wie ein Einbeiniger im Arschtreterwettbewerb. Der Gelencsér hat es mir ja auch gesagt, nicht wegen den Drogen, der redet mir wegen sowas nicht rein, der ist mein Kumpel: »Du weißt, wer hier der Boss ist, Janó!« Sage ich: »Na, Sie sind hier der Boss, Diri!« Jetzt lachen Sie, weil ich so ein mächtig witziger Kerl bin, und Sie sind eine Schnepfe, dass Sie da doch so’n bisschen drauf abfahren, oder? Also, der Gelencsér sagt zu mir: »Hand aufs Herz, mein lieber Janó … « Na, schön reden, das kann ich. Egal, ob ich tolles Gelaber ablasse, es bringt nichts. Super Text, und dafür drücken sie hier und da mal ein Auge zu, aber das ist kein Kriterium. Sodass klar ist, dass sie mich weiterreichen. Die da oben, die können bleiben, weil sie gut lernen. Die haben eine Chance: weiterlernen, sich integrieren. Wenn sie die auch hierhin und dahin packen würden, wie das hier eben läuft, dann wär es schwerer … zu lernen und alles. Wenn ich endgültig die Kurve kratze, wenn ich nämlich volljährig bin, kann ich gleich auf Parkbankphilosoph machen … »Du hast nichts, bleibt nur die Straße: Weg mit dir, Kleener, Proletencontainer, Dreck ist da unten, das Koks schlägt zu, hey boy, bist du clean, hast du auch keine Ruh, Nepper, Schlepper haun dich übers Ohr, guckst in die Röhre, was hast du schon vor: ewribaddi party, ewribaddi party, Leben ist scheiße, kapiert?, auch für dich, was bleibt, das ist die Straße, los, mach dich auf den Weg … « Ein neuer Song … Wir haben da so ne Band. Jetzt wollen sie uns 9


unterstützen, dass wir auftreten, seit der Sache mit der Pickler sind da diese Programme, Filme, aber glauben Sie bloß nicht, dass ich darum gleich Hurra schreie. Ansonsten: Seit Sie hier rumgeschnü¤elt haben und dann abgehauen sind, haben sie mich einmal in die Besserung in die Provinz gebracht. Da war so eine Popschnepfe mit Handy und Modeklamotten, das war die Erzieherin, und einige Größere, die haben die Jungs ziemlich oft verprügelt, mich nicht so, weil ich bin eher ein harter Typ, wirklich, ein Faultier ist gegen mich die reine Nervenkrankheit. Aber die Kerle da haben regelmäßig die Kleinen vermöbelt. Die haben dir dermaßen eins in die Fresse gehauen, da war sogar der fertig, der dir hochgeholfen hat! Nasse Handtücher, Tritte, alles war dabei. Sexuelle Gewalt. Aber das ist aufgeflogen. Dabei heißt es doch, wer kriecht, der kann nicht stolpern. Aber einen mussten sie ins Krankenhaus bringen, bisschen zu spät, stimmt schon, und da ist es rausgekommen. Gab nen riesen Aufstand, aber dem armen Jungen hat das nichts geholfen, so haben sie den bei der Neulingstaufe zusammengetreten. Das erzähle ich jetzt lieber nicht, wie das ablief, sonst kotze ich gleich. Und dann ist er nicht rechtzeitig zum Arzt gekommen, die Wunden haben sich entzündet, uh, das sah eklig aus, und dann haben wir gehört, dass sie ihm erst das eine und dann das andere Bein abnehmen mussten, und dann noch seinen, na sein Dings halt, alles umsonst, gab einen großen Skandal … In der Bude, da waren wir nur Jungs. Sie können sich das nicht vorstellen. Wir waren richtig eingeschlossen. Wie im Gefängnis. Rausgehen konnte man nicht, wenn sie Lust hatten, haben sie das Taschengeld eingezogen, weil sie fanden, dass du, sagen wir mal, schlecht gelernt hast. Du hattest keine Knete, keine eigenen Klamotten, nicht mal eine Unterhose. Einmal in der Woche haben sie saubere Wäsche ausgeteilt, wir waren immer abgerissen und hatten Hunger, die Knochen kamen mir fast durch die Haut. Na, ich bin da voll ausgetickt. Hatte ein bisschen Ärger. Dann bin ich verduftet. 10


MORGEN

Sie sprang hinunter. Sah sich nicht einmal um, ging einfach los, an der Ziegelmauer entlang. Die Mauer lag im Dämmerlicht, und aus dem Mörtel, der die unverputzten Ziegelreihen zusammenhielt, quollen gelbe Blumen. Als sie um die Ecke bog, lief sie einem Mann gegen die Brust. »Verdammte Scheiße!«, knurrte sie, hob aber nicht den Kopf, sondern trat nur zurück um loszurennen, aber der Mann fasste sie ums Handgelenk und ließ eine Handschelle einrasten. »Verdammte Scheiße! Mister D.?« »Einen reichhaltigen Wortschatz hast du … « In Mister D.s Stimme lag keine Verwunderung. »Pickler!« Er sprach ihren Namen mit Nachdruck aus, dann lachte er kurz auf und schloss den anderen Ring der Handschelle um sein eigenes Handgelenk. Auf dem pfeilgerade ins Unendliche führenden Gehweg neben der Mauer des Übergangsheims waren selten Fußgänger unterwegs. Die Straßenbahn ratterte klappernd die Schienen entlang und hatte weder Grund noch Möglichkeit stehenzubleiben. Mister D. stand wortlos da und nahm sich eine Zigarette. Pickler war sich sicher, dass er auf sie gewartet hatte. »Soll das ein Scherz sein?«, fragte sie und hob den Arm mit der Handschelle. Mister D. lächelte geheimnisvoll. Pickler zuckte mit den Schultern. »Ich kenne dich, Pickler … besser als du dich selbst.« Mister D. hob Picklers Kinn mit dem Zeigefinger. Pickler musste ihn wohl oder übel ansehen. Mister D., Picklers Erzieher in der Sodrás-Straße, hatte sie am Nachmittag zuvor ins Übergangsheim begleitet. Pickler hätte dort auf die Entscheidung warten sollen, ob sie in das Mädchenheim in 20


der Sodrás-Straße zurückgenommen oder in die Besserungsanstalt gebracht werden sollte. Nach ihrer Ankunft hatte man im Krankenzimmer die bereits wohlbekannten Routineuntersuchungen an ihr vorgenommen. Niemals hatte Pickler mehr geho=t, ihre Mutter würde plötzlich erscheinen, sie zu sich nehmen, und der Albtraum hätte mit einem Schlag ein Ende. Aber sie kam nicht. In dem Moment, als sie Mister D. in die Arme lief, ahnte sie nicht, dass das ihre letzte Flucht sein würde. Sie konnte sich nur darauf konzentrieren, ihre Mutter zu suchen. Dann dachte sie an die Freiheit. Sonst an nichts und niemanden. Mister D. hatte sie zwar geschnappt, aber sie waren noch nicht zurück zum Eingang des Übergangsheims gegangen. Gelencsér, der Direktor des Heims, stieg an der Ecke einer Seitenstraße, wenige Schritte von ihnen entfernt, aus dem Auto. Er sah sie an und zögerte. Mister D. kam ihm mit dem Grüßen zuvor, Gelencsér erwiderte es unsicher und eilte auf den Eingang zu. Mister D. und Pickler grinsten sich zu. Es war ein Morgen mit strahlendem Sonnenschein, die Glasstreifen zwischen den Fenstergittern des Übergangsheims glänzten altgolden. Gelencsér kam oben auf der Treppe an. Er trat in sein Büro, spürte den Ka=eegeruch, der sich in den Kieferhöhlen sammelte, und plötzlich überfiel ihn Müdigkeit. Er hatte die ganze Nacht am Computer gesessen, einige neue Bilder, die er von seinen Zöglingen aufgenommen hatte, in Ordnung gebracht und ausgedruckt. Der morgendliche Sonnenschein brannte die Kinderporträts ringsum an den Bürowänden zu einer flirrenden Stahloberfläche, auf der nichts zu erkennen war, und als Gelencsér klar wurde, dass er Mister D. mit Pickler gesehen hatte, war es schon zu spät. Das folgenlose Tre=en mit Gelencsér hatte Pickler in gute Laune versetzt. Mister D. jedoch sprach nicht mit ihr, und der Weg 21


schien endlos. Plötzlich blieben sie jedoch vor einem auffällig eleganten Auto stehen. »Klapp den Mund wieder zu!« Mister D. grinste. »Das Seelische! Das innere Wesen ist wichtig!« Im Auto saß Kati. Mit geschwollenem Gesicht starrte sie vor sich hin, dann tat sie, als sähe sie Pickler gerade zum ersten Mal.

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