Chaussee der Enthusiasten - Die schönsten Schriftsteller Berlins erzählen was

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ANDREAS KAMPA

Daumen raus, bis uns ein junger Sizilianer mit seiner hübschen Freundin ein Stück mitnahm. Er redete mit uns auf Italienisch. Wenn wir nichts verstanden, wiederholte er es. Da wir nie etwas verstanden, redete er in einem fort.

Epilog Die nächste Woche konnte ich nicht mehr das Bett verlassen. Aufs Klo kroch ich auf allen Vieren. Erst Wochen später waren die Wundmale an meinen Fußsohlen soweit abgeklungen, dass ich wieder schmerzfrei gehen konnte. Eines stand für mich fest: nie wieder trampen.

Was vorher geschah Wir liefen zunächst ein Stück neben der Autobahn. Hin und wieder wechselten wir auf einen Weg abseits der Straße, um nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Es war sehr heiß, die Sonne brannte uns auf den Schädel. Die Noppen meiner Badelatschen massierten sich in meine Fußsohlen. Ich überlegte, ob ich nicht besser barfuß gehen sollte, aber der Asphalt war zu heiß und die Wege neben der Autobahn steinig und uneben. Fünfzehn Kilometer sind wir so gelaufen. Allmählich spürte ich jede Noppe an meinen Fußsohlen.

Trampen – rück wärt s

Was vorher geschah Wir trampten die ganze Nacht durch. Am Morgen erreichten wir endlich deutschen Boden in Freiburg, am Abend kamen wir in Berlin an, wo wir uns an der S-Bahn-Station trennten, um jeder für sich nach Hause zu fahren. Ich konnte kaum noch gehen, jeder Schritt wurde zur Qual. An meinen Fußsohlen hatten sich Flecken und Blasen in allen erdenklichen Farben gebildet. Ich stank, schwitzte und humpelte. Die letzten Meter bis zu meiner Wohnung waren die längsten meines Lebens. Was vorher geschah Irgendwann griff uns die französische Polizei auf. Wir befürchteten, sie würden uns wieder zu der Tankstelle zurückbringen, an der man uns ausgeraubt hatte. Noch schlimmer war, dass André keine Ausweispapiere mehr bei sich trug. Doch sie akzeptierten den seltsamen Zettel, den man uns gegeben hatte, und fuhren uns zur nächsten Péage. Dort hielten wir drei Stunden lang den 26

Was vorher geschah Wir hatten schließlich die Schnauze voll von dieser Tankstelle. Keine Sau würde uns hier mitnehmen. Es hielten ohnehin kaum Autos, um zu tanken. Also beschlossen wir, bis zur nächsten Tankstelle zu laufen. Wird schon nicht so weit sein, dachten wir. Nach 500 Metern endlich ein Schild: nächste Tankstelle 20 km, bis zur péage 18 km. Eine Katastrophe. Aber wir wollten auf keinen Fall wieder zurück. Ich überlegte, ob es möglich wäre, mit genoppten Badelatschen achtzehn Kilometer die Autobahn entlang zu laufen. Noppen sollen ja die Durchblutung der Füße fördern, redete ich mir ein. Mit ein bisschen Glück würde uns vielleicht ein netter Autofahrer mitnehmen und bis zur nächsten Tankstelle bringen. Wir mussten nur aufpassen, dass uns die Polizei nicht aufgriff. Was vorher geschah Wir gingen zurück zu der Tankstelle, an der schon tags zuvor kaum ein Auto vorbeigekommen war. Wir trugen nur noch die Sachen 27


ANDREAS KAMPA

Daumen raus, bis uns ein junger Sizilianer mit seiner hübschen Freundin ein Stück mitnahm. Er redete mit uns auf Italienisch. Wenn wir nichts verstanden, wiederholte er es. Da wir nie etwas verstanden, redete er in einem fort.

Epilog Die nächste Woche konnte ich nicht mehr das Bett verlassen. Aufs Klo kroch ich auf allen Vieren. Erst Wochen später waren die Wundmale an meinen Fußsohlen soweit abgeklungen, dass ich wieder schmerzfrei gehen konnte. Eines stand für mich fest: nie wieder trampen.

Was vorher geschah Wir liefen zunächst ein Stück neben der Autobahn. Hin und wieder wechselten wir auf einen Weg abseits der Straße, um nicht von der Polizei entdeckt zu werden. Es war sehr heiß, die Sonne brannte uns auf den Schädel. Die Noppen meiner Badelatschen massierten sich in meine Fußsohlen. Ich überlegte, ob ich nicht besser barfuß gehen sollte, aber der Asphalt war zu heiß und die Wege neben der Autobahn steinig und uneben. Fünfzehn Kilometer sind wir so gelaufen. Allmählich spürte ich jede Noppe an meinen Fußsohlen.

Trampen – rück wärt s

Was vorher geschah Wir trampten die ganze Nacht durch. Am Morgen erreichten wir endlich deutschen Boden in Freiburg, am Abend kamen wir in Berlin an, wo wir uns an der S-Bahn-Station trennten, um jeder für sich nach Hause zu fahren. Ich konnte kaum noch gehen, jeder Schritt wurde zur Qual. An meinen Fußsohlen hatten sich Flecken und Blasen in allen erdenklichen Farben gebildet. Ich stank, schwitzte und humpelte. Die letzten Meter bis zu meiner Wohnung waren die längsten meines Lebens. Was vorher geschah Irgendwann griff uns die französische Polizei auf. Wir befürchteten, sie würden uns wieder zu der Tankstelle zurückbringen, an der man uns ausgeraubt hatte. Noch schlimmer war, dass André keine Ausweispapiere mehr bei sich trug. Doch sie akzeptierten den seltsamen Zettel, den man uns gegeben hatte, und fuhren uns zur nächsten Péage. Dort hielten wir drei Stunden lang den 26

Was vorher geschah Wir hatten schließlich die Schnauze voll von dieser Tankstelle. Keine Sau würde uns hier mitnehmen. Es hielten ohnehin kaum Autos, um zu tanken. Also beschlossen wir, bis zur nächsten Tankstelle zu laufen. Wird schon nicht so weit sein, dachten wir. Nach 500 Metern endlich ein Schild: nächste Tankstelle 20 km, bis zur péage 18 km. Eine Katastrophe. Aber wir wollten auf keinen Fall wieder zurück. Ich überlegte, ob es möglich wäre, mit genoppten Badelatschen achtzehn Kilometer die Autobahn entlang zu laufen. Noppen sollen ja die Durchblutung der Füße fördern, redete ich mir ein. Mit ein bisschen Glück würde uns vielleicht ein netter Autofahrer mitnehmen und bis zur nächsten Tankstelle bringen. Wir mussten nur aufpassen, dass uns die Polizei nicht aufgriff. Was vorher geschah Wir gingen zurück zu der Tankstelle, an der schon tags zuvor kaum ein Auto vorbeigekommen war. Wir trugen nur noch die Sachen 27


JOCHEN SCHMIDT Vielleicht muss man die Wurzeln meiner Beziehungsunf ähigkeit in Prof essor St öckers Seminar über alt provenzalische Liebeslyrik suchen

Es gab eine Zeit, in der ich meinem Wissensdurst hilflos ausgeliefert war. Damals sagte ich mir, dass man, wenn man die Welt erkennen wollte, mit einem Teilgebiet anfangen musste, um sich Erkenntnis für Erkenntnis vorzuarbeiten. Doch zuerst musste man Sprachen lernen, denn je mehr Sprachen man beherrschte, umso mehr Erkenntnisse standen einem zur Verfügung. Mit den lebenden Sprachen, die ich schnell lernte, war ich für die großen Erkenntnisse aus Naturwissenschaften und Philosophie gerüstet, aber es gab noch ein Fachgebiet, das mir weiterhin verschlossen bliebe, wenn ich nicht seine Sprache verstand, und das war die Liebe. Um in ihr Meisterschaft zu erlangen, musste ich Altprovenzalisch lernen, die Sprache der Troubadoure, die unsere Vorstellung von Zweisamkeit geprägt haben. An der Humboldt-Universität wurde damals gerade ein Seminar zur altprovenzalischen Liebeslyrik angeboten. Ich hatte davon gehört, wie überfüllt unsere Universitäten heute waren, und fand mich früh morgens vor den Toren des Campus ein, um im Moment, wenn der Universitätsdiener die schwere Kette löste, als einer der ersten in den Seminarraum zu stürmen. Kurz vor Beginn des Seminars folgte mir noch ein anderer Student. Als der Professor erschien und das Programm des Semesters erläuterte, stellte sich heraus, dass der andere Student sich im Raum geirrt hatte. 33



STEPHAN Z EISIG Es wird der Tag kommen, an dem keiner mehr Blumf eld kennt . Und darüber bin ich nicht t raurig. Jochen Dist elmeier ist selber schuld daran.

Franka Potente hätte mal fast mein Leben verändert. Bevor sie sich in Lola rennt umtaufte, spielte sie in Nach fünf im Urwald eine abgedrehte Teenagerin, die von zu Hause abhaute, weil ihre spießigen Eltern nicht akzeptieren wollten, dass Jugendliche kiffen. Als sie einen Tag später nach Hause zurückkehrte, waren ihre Eltern nicht mehr böse, da sie sich mittlerweile selber am Joint versucht hatten. Abhauen!! Diese drei Silben waren drogendurchtränkte Musik in meinen Ohren. Ich nahm zumindest an, dass so drogendurchtränkte Musik klang, hatte ich doch noch nie welche konsumiert. Hier lag auch schon mein Problem. Mir fehlte ein triftiger Grund fürs Abhauen. Meine Eltern waren nämlich weitaus weniger spießig als ich. Im Gegenteil, sie hatten mich immer zum Kiffen ermuntert. Sie spekulierten darauf, Haschisch dann nicht mehr selbst kaufen zu müssen. Wollte ich mich von ihnen emanzipieren, blieb mir nichts anderes übrig, als aus Protest nicht zu kiffen und an meiner Spießigkeit zu feilen. Statt Nirvana und Pearl Jam , wie alle in meinem Alter, hörte ich Chris de Burgh und Richard Marx. Schon als Dreizehnjähriger steckte ich meine ausschließlich weißen T-Shirts in die Hose. Mit vierzehn wünschte ich mir zum Geburtstag einen Bausparvertrag. Auf unserem Hof sorgte ich für Ordnung, indem ich darauf achtete, dass die Mieter den Müll auch 46

ja in die dafür vorgesehene Tonne warfen. Ich war so spießig, dass meine Eltern niemals Freunde zu sich einluden, aus Angst, die könnten mich peinlich finden. Eher hätten meine Eltern einen Grund gehabt, von zu Hause abzuhauen als ich. Meinem Abhauen von meinen Eltern stellte sich noch ein zweites Problem in den Weg. Ich wohnte gar nicht mehr bei ihnen. Dieses Dilemma hatte ich beim Ausziehen glatt übersehen. Da müsste ich ja von mir selbst abhauen. Von sich selbst abhauen, an sich eine originelle Idee. Vielleicht ließe sich sogar ein neuer Trend kreieren. Allerdings konnte mir niemand den Erfolg garantieren. Besser, ich blieb bei der klassischen Methode. Um meine Flucht irgendwie mit Authentizität und Glaubwürdigkeit auszustatten, entschied ich mich, bei meinen Eltern zu Abend zu essen und am Tisch einen Streit anzuzetteln, den ich ihnen in die Schuhe schieben konnte. Dann würde mein Verschwinden jedem einleuchten. Irgendwann, nach vielen Jahren, käme ich nach Hause zurück, würde mich mit meinen Eltern aussöhnen und meine Biographie wäre endlich peppig und sexed up. Meine Eltern machten große Augen, als ich mit Wanderschuhen, Reiserucksack, Bauchtasche, Isomatte, Zelt und reichlich Proviant bei ihnen in der Tür stand. »Ich will doch von euch abhauen. Da brauch ich doch die passende Ausrüstung.« Ihre Reaktion erwischte mich auf dem falschen Fuß: »Toll! Weißt du Stephan, wenn wir in deinem Alter wären, wir würden schnell unsere Sachen packen und mitkommen. Wohin soll’s denn gehen?« »Weiß ich doch noch nicht? Das ist doch spontan.« Sie gerieten erneut in Verzückung: »Dann wirst du ja auch endlich ein bisschen selbständiger! Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben.« Dem von mir erbetenen Streit verweigerten sie sich. »Dann schreit mich doch wenigstens mal an.« »Stephan! Papa und ich haben uns geschworen, dass wir bei dir all die Verhaltensweisen vermeiden, unter denen wir bei unseren Eltern selber gelitten haben. Dazu gehört Anschreien. Wenn wir das jetzt täten, dann würden 47


STEPHAN Z EISIG Es wird der Tag kommen, an dem keiner mehr Blumf eld kennt . Und darüber bin ich nicht t raurig. Jochen Dist elmeier ist selber schuld daran.

Franka Potente hätte mal fast mein Leben verändert. Bevor sie sich in Lola rennt umtaufte, spielte sie in Nach fünf im Urwald eine abgedrehte Teenagerin, die von zu Hause abhaute, weil ihre spießigen Eltern nicht akzeptieren wollten, dass Jugendliche kiffen. Als sie einen Tag später nach Hause zurückkehrte, waren ihre Eltern nicht mehr böse, da sie sich mittlerweile selber am Joint versucht hatten. Abhauen!! Diese drei Silben waren drogendurchtränkte Musik in meinen Ohren. Ich nahm zumindest an, dass so drogendurchtränkte Musik klang, hatte ich doch noch nie welche konsumiert. Hier lag auch schon mein Problem. Mir fehlte ein triftiger Grund fürs Abhauen. Meine Eltern waren nämlich weitaus weniger spießig als ich. Im Gegenteil, sie hatten mich immer zum Kiffen ermuntert. Sie spekulierten darauf, Haschisch dann nicht mehr selbst kaufen zu müssen. Wollte ich mich von ihnen emanzipieren, blieb mir nichts anderes übrig, als aus Protest nicht zu kiffen und an meiner Spießigkeit zu feilen. Statt Nirvana und Pearl Jam , wie alle in meinem Alter, hörte ich Chris de Burgh und Richard Marx. Schon als Dreizehnjähriger steckte ich meine ausschließlich weißen T-Shirts in die Hose. Mit vierzehn wünschte ich mir zum Geburtstag einen Bausparvertrag. Auf unserem Hof sorgte ich für Ordnung, indem ich darauf achtete, dass die Mieter den Müll auch 46

ja in die dafür vorgesehene Tonne warfen. Ich war so spießig, dass meine Eltern niemals Freunde zu sich einluden, aus Angst, die könnten mich peinlich finden. Eher hätten meine Eltern einen Grund gehabt, von zu Hause abzuhauen als ich. Meinem Abhauen von meinen Eltern stellte sich noch ein zweites Problem in den Weg. Ich wohnte gar nicht mehr bei ihnen. Dieses Dilemma hatte ich beim Ausziehen glatt übersehen. Da müsste ich ja von mir selbst abhauen. Von sich selbst abhauen, an sich eine originelle Idee. Vielleicht ließe sich sogar ein neuer Trend kreieren. Allerdings konnte mir niemand den Erfolg garantieren. Besser, ich blieb bei der klassischen Methode. Um meine Flucht irgendwie mit Authentizität und Glaubwürdigkeit auszustatten, entschied ich mich, bei meinen Eltern zu Abend zu essen und am Tisch einen Streit anzuzetteln, den ich ihnen in die Schuhe schieben konnte. Dann würde mein Verschwinden jedem einleuchten. Irgendwann, nach vielen Jahren, käme ich nach Hause zurück, würde mich mit meinen Eltern aussöhnen und meine Biographie wäre endlich peppig und sexed up. Meine Eltern machten große Augen, als ich mit Wanderschuhen, Reiserucksack, Bauchtasche, Isomatte, Zelt und reichlich Proviant bei ihnen in der Tür stand. »Ich will doch von euch abhauen. Da brauch ich doch die passende Ausrüstung.« Ihre Reaktion erwischte mich auf dem falschen Fuß: »Toll! Weißt du Stephan, wenn wir in deinem Alter wären, wir würden schnell unsere Sachen packen und mitkommen. Wohin soll’s denn gehen?« »Weiß ich doch noch nicht? Das ist doch spontan.« Sie gerieten erneut in Verzückung: »Dann wirst du ja auch endlich ein bisschen selbständiger! Wir hatten die Hoffnung schon aufgegeben.« Dem von mir erbetenen Streit verweigerten sie sich. »Dann schreit mich doch wenigstens mal an.« »Stephan! Papa und ich haben uns geschworen, dass wir bei dir all die Verhaltensweisen vermeiden, unter denen wir bei unseren Eltern selber gelitten haben. Dazu gehört Anschreien. Wenn wir das jetzt täten, dann würden 47


VOLKER STRÜBING Der Fluch der Schönhauser Allee Arcaden

Es gibt sie noch, die großen Herausforderungen, die wahren Abenteuer, selbst hier bei uns. Wer den absoluten Thrill sucht, wer an die Grenzen des Erträglichen und noch ein Stück darüber hinausgehen will, wer Reinhold Messner beschämen möchte – der versuche an sonnigen Frühlingstagen gegen fünfzehn Uhr zu Fuß den S-Bahnhof Schönhauser Allee zu erreichen. Ich persönlich scheiße auf Abenteuer. Wenn ich zur S-Bahn muss, ergreife ich alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Ich kaufe je ein Exemplar jeder Berliner und jeder überregionalen Tageszeitung und trage sie gut sichtbar am Mann, um mir die Probeabo-Leute vom Hals zu halten. Um selbigen hänge ich mir mindestens drei Handys mit verschiedenen Betreiberlogos, das hilft gegen die Mobilfunk-Werber. Auf keinen Fall darf ich den Pelzmantel vergessen, welchen ich stets offen trage, damit man die Grillschürze darunter sehen kann. So signalisiere ich den Tierschutzbund-Spendensammlern, dass sie mit mir nur ihre Zeit verschwenden. Dazu schminke ich mich leichenblass, um unbehelligt am Blutspendemobil vorbeizukommen und wenn ich mir dann noch einen Ghettoblaster auf die Schulter stelle und ganz laut »You can’t always get what you want« höre, stehen die Chancen gut, auch an den Bettlern und Straßenmusikanten vorbeizukommen. • • •

66

Eines Tages jedoch zwangen mich Umstände, die hier nicht von Interesse sind, dazu, mich dieser Situation unvorbereitet zu stellen. Von meiner Wohnung kommend, muss ich zuerst eine Fahrbahn der Schönhauser Allee überqueren, mich dann unter der Hochbahnbrücke durchkämpfen, die zweite Fahrbahn überqueren und schließlich den Hindernisparcours auf dem Platz vor den Schön-Schöner-Schönhauser-Allee-Arcaden meistern. Ich hatte Glück. Die erste Fußgängerampel stand zwar auf Rot, doch ich erreichte sie zusammen mit einem großen Pulk von Menschen – zu vielen, als dass die hier stationierten Häscher sie alle hätten bewältigen können. Eine spindeldürre Oma direkt neben mir fiel den Leuten von der »kostenlosen Körperfettmessung« in die Hände. Jugendliche mit Umfragebögen rempelten auf der Suche nach Opfern durch die Menge und wurden fündig. Mitleid kam in mir auf: Wer schon hier an der ersten Station nachgab, würde den S-Bahnhof nicht vor neunzehn Uhr erreichen und bis dahin seine Seele stückchenweise verkauft und sich auf ewig verschuldet haben. Die Ampel schaltete auf Grün. Jetzt galt es, eine gute Position zu erwischen. Wer die andere Straßenseite zu früh erreichte, würde von den Tierschützern mit offenen Armen empfangen werden, wer zu lange zögerte, hatte, nun nicht mehr durch eine Menschenmenge geschützt, keine Chance gegen die Körperfettmesser. Ich schloss die Augen, kreuzte die Arme vor der Brust und rannte los, wobei ich in einem fort »Nein! Nein! Nein!« schrie. »Berliner Zeitung mal vierzehn Tage gratis zur Probe?« »Nein!« »D2 CallYa jetzt mit fünfzig Gratis SMS!« »Nein!« »Haste mal ’n Euro?« »Nein!« »Sie sind doch sicher auch gegen Tierquälerei, oder?« »Nein, bin ich nicht! Ich bin für Tierquälerei!« 67


VOLKER STRÜBING Der Fluch der Schönhauser Allee Arcaden

Es gibt sie noch, die großen Herausforderungen, die wahren Abenteuer, selbst hier bei uns. Wer den absoluten Thrill sucht, wer an die Grenzen des Erträglichen und noch ein Stück darüber hinausgehen will, wer Reinhold Messner beschämen möchte – der versuche an sonnigen Frühlingstagen gegen fünfzehn Uhr zu Fuß den S-Bahnhof Schönhauser Allee zu erreichen. Ich persönlich scheiße auf Abenteuer. Wenn ich zur S-Bahn muss, ergreife ich alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen. Ich kaufe je ein Exemplar jeder Berliner und jeder überregionalen Tageszeitung und trage sie gut sichtbar am Mann, um mir die Probeabo-Leute vom Hals zu halten. Um selbigen hänge ich mir mindestens drei Handys mit verschiedenen Betreiberlogos, das hilft gegen die Mobilfunk-Werber. Auf keinen Fall darf ich den Pelzmantel vergessen, welchen ich stets offen trage, damit man die Grillschürze darunter sehen kann. So signalisiere ich den Tierschutzbund-Spendensammlern, dass sie mit mir nur ihre Zeit verschwenden. Dazu schminke ich mich leichenblass, um unbehelligt am Blutspendemobil vorbeizukommen und wenn ich mir dann noch einen Ghettoblaster auf die Schulter stelle und ganz laut »You can’t always get what you want« höre, stehen die Chancen gut, auch an den Bettlern und Straßenmusikanten vorbeizukommen. • • •

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Eines Tages jedoch zwangen mich Umstände, die hier nicht von Interesse sind, dazu, mich dieser Situation unvorbereitet zu stellen. Von meiner Wohnung kommend, muss ich zuerst eine Fahrbahn der Schönhauser Allee überqueren, mich dann unter der Hochbahnbrücke durchkämpfen, die zweite Fahrbahn überqueren und schließlich den Hindernisparcours auf dem Platz vor den Schön-Schöner-Schönhauser-Allee-Arcaden meistern. Ich hatte Glück. Die erste Fußgängerampel stand zwar auf Rot, doch ich erreichte sie zusammen mit einem großen Pulk von Menschen – zu vielen, als dass die hier stationierten Häscher sie alle hätten bewältigen können. Eine spindeldürre Oma direkt neben mir fiel den Leuten von der »kostenlosen Körperfettmessung« in die Hände. Jugendliche mit Umfragebögen rempelten auf der Suche nach Opfern durch die Menge und wurden fündig. Mitleid kam in mir auf: Wer schon hier an der ersten Station nachgab, würde den S-Bahnhof nicht vor neunzehn Uhr erreichen und bis dahin seine Seele stückchenweise verkauft und sich auf ewig verschuldet haben. Die Ampel schaltete auf Grün. Jetzt galt es, eine gute Position zu erwischen. Wer die andere Straßenseite zu früh erreichte, würde von den Tierschützern mit offenen Armen empfangen werden, wer zu lange zögerte, hatte, nun nicht mehr durch eine Menschenmenge geschützt, keine Chance gegen die Körperfettmesser. Ich schloss die Augen, kreuzte die Arme vor der Brust und rannte los, wobei ich in einem fort »Nein! Nein! Nein!« schrie. »Berliner Zeitung mal vierzehn Tage gratis zur Probe?« »Nein!« »D2 CallYa jetzt mit fünfzig Gratis SMS!« »Nein!« »Haste mal ’n Euro?« »Nein!« »Sie sind doch sicher auch gegen Tierquälerei, oder?« »Nein, bin ich nicht! Ich bin für Tierquälerei!« 67


DAN RICHTER Haar

Eine Mutter zu haben, die in den 60ern den Beruf der Friseuse gelernt hat, kann für einen jungen Menschen nachhaltige Schäden bedeuten. Wenn außerdem die betreffende Mutter den Beruf eigentlich nur gelernt hat, um 60er-Jahre-Frauen die Haare zu toupieren, dennoch aber glaubt, ihr Handwerk an allen Menschen ihrer Umgebung praktizieren zu müssen, und zwar auch noch Jahrzehnte später, wenn sie diesen Beruf gar nicht mehr ausübt, wenn man der Gerechtigkeit halber auch noch hinzufügen muss, dass sie diesen Beruf in der DDR gelernt hat, einem Land, dessen Coiffeurkünste zu Recht nicht über die Grenze von Oder und Elbe hinausgedrungen sind, dann wird man zugeben müssen, dass die Kosten, die zur professionellen Behebung der psychischen Traumata, die der Sohn einer solchen Frau im Laufe seiner Kindheit und Jugend davontragen musste, genügen werden, um das Sozial- und Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland zum Einsturz zu bringen. Bis heute streitet meine Mutter ab, an der Verkrüppelung des linken Ohres meines Vaters Schuld zu tragen. Jedes Jahr höre ich die Geschichte in zwei Versionen. Am Geburtstag meines Vaters ist die Rede davon, wie sie während des Haarschneidens aus dem Fenster schaute. Meine Mutter hingegen berichtet Jahr für Jahr an ihrem eigenen Ehrentag: »Aber da hätte doch Blut fließen müssen.« Das ist weniger eine Geschichtsversion als ein Argument, ein Verteidigungsargument zumal, schwach hervorgebracht und 72

schwach ausgearbeitet. Das linke Ohr meines Vaters ist ein stiller Zeuge der Anklage. Wer zweifelt an den traurigen Blicken eines misshandelten Krüppels, der in den Zeugenstand gerufen wird! Ich liebte, seit ich mich erinnern kann, meine halblangen Haare. Sie abzuschneiden war jedes Mal ein Horror für mich, zumal ich mir sicher war, dass meine Mutter nicht nur an dem Krüppelohr, sondern auch an der Glatze meines Vaters nicht ganz unschuldig war. Als sie dann eines Tages, ich war nicht älter als zehn, freudig beim Haareschneiden bemerkte: »Aaaaah! Du hast ja hier hinten auch schon eine kleine Stelle«, war ich mir sicher, dass angesichts ihrer ewigen Befummelei meine Haare früher oder später Reißaus nehmen würden. Und das taten sie schließlich auch. Ich war einundzwanzig als mir meine Schwester den Rat gab, ich solle mir meine Geheimratsecken ausrasieren, denn erst durch die Rasur würde das an dieser Stelle ausfallende Haar zum Bleiben genötigt. Es war keine leichte Entscheidung: Ignorierte ich ihren Rat, bekäme ich eventuell früher oder später Geheimratsecken. Rasierte ich mir die Geheimratsecken, dann hätte ich schon im Alter von einundzwanzig Geheimratsecken, wenn auch künstliche, da ausrasierte. Und selbst dann gab es ja keine Garantie dafür, dass das Rasieren überhaupt hülfe. In dem Falle hätte ich schon mit einundzwanzig Geheimratsecken und trüge sie bis an mein Lebensende. Darüber hinaus stellte sich natürlich die Frage, warum meine Schwester ausgerechnet mir diesen Ratschlag gab. Hatte ich etwa schon Geheimratsecken? Dann würde das Rasieren der kahlen Stellen wohl auch nichts nutzen, oder hat man je davon gehört, dass das Herumschaben auf nackter Haut den Haarwuchs provoziere? Ich prüfte im Spiegel nach: Na ja – eine hohe Stirn und etwas dünne Haare. Um dieses Selbstimage zu behalten, schaue ich nur noch in den Spiegel, wenn ich dazu gezwungen werde. Dann schiebe ich mein zunehmend zerknautschteres Gesicht darauf, dass ich in der letzten Nacht schlecht geschlafen habe, wobei ich zugeben 73


DAN RICHTER Haar

Eine Mutter zu haben, die in den 60ern den Beruf der Friseuse gelernt hat, kann für einen jungen Menschen nachhaltige Schäden bedeuten. Wenn außerdem die betreffende Mutter den Beruf eigentlich nur gelernt hat, um 60er-Jahre-Frauen die Haare zu toupieren, dennoch aber glaubt, ihr Handwerk an allen Menschen ihrer Umgebung praktizieren zu müssen, und zwar auch noch Jahrzehnte später, wenn sie diesen Beruf gar nicht mehr ausübt, wenn man der Gerechtigkeit halber auch noch hinzufügen muss, dass sie diesen Beruf in der DDR gelernt hat, einem Land, dessen Coiffeurkünste zu Recht nicht über die Grenze von Oder und Elbe hinausgedrungen sind, dann wird man zugeben müssen, dass die Kosten, die zur professionellen Behebung der psychischen Traumata, die der Sohn einer solchen Frau im Laufe seiner Kindheit und Jugend davontragen musste, genügen werden, um das Sozial- und Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland zum Einsturz zu bringen. Bis heute streitet meine Mutter ab, an der Verkrüppelung des linken Ohres meines Vaters Schuld zu tragen. Jedes Jahr höre ich die Geschichte in zwei Versionen. Am Geburtstag meines Vaters ist die Rede davon, wie sie während des Haarschneidens aus dem Fenster schaute. Meine Mutter hingegen berichtet Jahr für Jahr an ihrem eigenen Ehrentag: »Aber da hätte doch Blut fließen müssen.« Das ist weniger eine Geschichtsversion als ein Argument, ein Verteidigungsargument zumal, schwach hervorgebracht und 72

schwach ausgearbeitet. Das linke Ohr meines Vaters ist ein stiller Zeuge der Anklage. Wer zweifelt an den traurigen Blicken eines misshandelten Krüppels, der in den Zeugenstand gerufen wird! Ich liebte, seit ich mich erinnern kann, meine halblangen Haare. Sie abzuschneiden war jedes Mal ein Horror für mich, zumal ich mir sicher war, dass meine Mutter nicht nur an dem Krüppelohr, sondern auch an der Glatze meines Vaters nicht ganz unschuldig war. Als sie dann eines Tages, ich war nicht älter als zehn, freudig beim Haareschneiden bemerkte: »Aaaaah! Du hast ja hier hinten auch schon eine kleine Stelle«, war ich mir sicher, dass angesichts ihrer ewigen Befummelei meine Haare früher oder später Reißaus nehmen würden. Und das taten sie schließlich auch. Ich war einundzwanzig als mir meine Schwester den Rat gab, ich solle mir meine Geheimratsecken ausrasieren, denn erst durch die Rasur würde das an dieser Stelle ausfallende Haar zum Bleiben genötigt. Es war keine leichte Entscheidung: Ignorierte ich ihren Rat, bekäme ich eventuell früher oder später Geheimratsecken. Rasierte ich mir die Geheimratsecken, dann hätte ich schon im Alter von einundzwanzig Geheimratsecken, wenn auch künstliche, da ausrasierte. Und selbst dann gab es ja keine Garantie dafür, dass das Rasieren überhaupt hülfe. In dem Falle hätte ich schon mit einundzwanzig Geheimratsecken und trüge sie bis an mein Lebensende. Darüber hinaus stellte sich natürlich die Frage, warum meine Schwester ausgerechnet mir diesen Ratschlag gab. Hatte ich etwa schon Geheimratsecken? Dann würde das Rasieren der kahlen Stellen wohl auch nichts nutzen, oder hat man je davon gehört, dass das Herumschaben auf nackter Haut den Haarwuchs provoziere? Ich prüfte im Spiegel nach: Na ja – eine hohe Stirn und etwas dünne Haare. Um dieses Selbstimage zu behalten, schaue ich nur noch in den Spiegel, wenn ich dazu gezwungen werde. Dann schiebe ich mein zunehmend zerknautschteres Gesicht darauf, dass ich in der letzten Nacht schlecht geschlafen habe, wobei ich zugeben 73


ROBERT NAUMANN Das Sucht verhalt en des Robert N. (II) – Nikot insucht

Raucher sterben früher, steht seit einiger Zeit warnend auf den Zigarettenpackungen. Nicht definiert ist, wer länger lebt als die Raucher. Nahezu seine gesamte abschreckende Wirkung verliert der Satz, wenn man ihn gedanklich so verlängert: Raucher sterben früher als tausendjährige Eichen. Das juckt keinen klar denkenden Raucher, denn auch Nichtraucher sterben früher als tausendjährige Eichen. Man sollte sich also von solchen Sprüchen nicht gleich abschrecken lassen. Einer genaueren Betrachtung halten sie nicht stand. Außerdem werden die positiven Aspekte des Rauchens verschwiegen, so dass der noch Unentschlossene, der zaudernd die Zigarettenschachtel in den Händen hält, eine einseitige und verzerrte Vorstellung vom Rauchen bekommt. Das ist alles andere als fair. Einer der zahlreichen Gründe, die für das Rauchen sprechen, ist die appetithemmende Wirkung. Ich hatte das unterschätzt, als ich das Rauchen aus verschiedenen albernen Gründen aufgab. Augenblicklich wurde die Nikotinsucht durch die EssSucht ersetzt. Schmerzlich bewusst wurde mir das etwa zwei Monate später, als ich während des Mittagessens das Bedürfnis hatte, meinen obersten Hosenknopf zu öffnen und feststellen musste, dass dieser schon offen war. Eine entwürdigende und konfliktbehaftete Situation. Sollte ich aufhören zu essen und so einen letzten Rest Würde bewahren, oder sollte ich meinem Verlangen nachgeben und einen zweiten Knopf öffnen, um Platz zu schaf92

fen? Wenn es nicht Gulasch mit Spätzle gegeben hätte, wäre meine Würde vielleicht gewahrt worden, aber so öffnete ich beherzt einen weiteren Hosenknopf und langte kräftig zu. Da es immer mehr übergewichtige Kinder und Jugendliche gibt, sollten diese Fakten nicht unter den Tisch fallen. Vielleicht können Zigaretten sogar eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Fettleibigkeit spielen. Ich bin mir noch nicht sicher, aber seit ich merke, dass beim Laufen meine Brüste wippen, spiele ich mit dem Gedanken, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Der Grund für meine erste Zigarette war ein anderer. Es führt nur ein Weg zur Lunge, und der muss geteert werden, erklärte mir Ingo aus der Zehnten, als ich ihn fragte, warum er rauche. Diesem Argument hatte ich nichts entgegenzusetzen und zündete mir mit vierzehn Jahren die erste Zigarette meines Lebens an. Es war ein notwendiger Prozess, welcher der Orientierungslosigkeit in meinem Leben ein Ende setzen sollte. Zum ersten Mal fühlte ich mich einer Gruppe zugehörig. Ingo hatte seinen Eltern eine Schachtel Marlboro aus dem Westpäckchen geklaut und bot mir eine an. Gleich die erste Zigarette eine aus dem Westen, das Raucherleben ließ sich nicht schlecht an. Tief inhalierte ich den Rauch in meine Backe und ließ ihn dort einige Sekunden zirkulieren, bevor ich ihn betont lässig aus dem Mundwinkel wieder hinausblies. Im Gegensatz zu den meisten Rauchern mochte und mag ich immer noch selbst als Nichtraucher den Geruch von Zigarettenrauch. Manchmal gehe ich heutzutage in stark frequentierte Kneipen und halte mich dort einige Stunden auf, bis meine Kleider rauchgetränkt sind. Zuhause schnuppere ich dann daran. Für den einen oder anderen mag das abartig klingen, aber der eine oder andere sollte mal vor der eigenen Tür kehren. Für mich kam es nun darauf an, mich zu einer Marke zu bekennen. Die Zigarettenmarke galt zu DDR-Zeiten mangels Alternative als Statussymbol. Man fuhr zwar zum großen Teil das gleiche 93


ROBERT NAUMANN Das Sucht verhalt en des Robert N. (II) – Nikot insucht

Raucher sterben früher, steht seit einiger Zeit warnend auf den Zigarettenpackungen. Nicht definiert ist, wer länger lebt als die Raucher. Nahezu seine gesamte abschreckende Wirkung verliert der Satz, wenn man ihn gedanklich so verlängert: Raucher sterben früher als tausendjährige Eichen. Das juckt keinen klar denkenden Raucher, denn auch Nichtraucher sterben früher als tausendjährige Eichen. Man sollte sich also von solchen Sprüchen nicht gleich abschrecken lassen. Einer genaueren Betrachtung halten sie nicht stand. Außerdem werden die positiven Aspekte des Rauchens verschwiegen, so dass der noch Unentschlossene, der zaudernd die Zigarettenschachtel in den Händen hält, eine einseitige und verzerrte Vorstellung vom Rauchen bekommt. Das ist alles andere als fair. Einer der zahlreichen Gründe, die für das Rauchen sprechen, ist die appetithemmende Wirkung. Ich hatte das unterschätzt, als ich das Rauchen aus verschiedenen albernen Gründen aufgab. Augenblicklich wurde die Nikotinsucht durch die EssSucht ersetzt. Schmerzlich bewusst wurde mir das etwa zwei Monate später, als ich während des Mittagessens das Bedürfnis hatte, meinen obersten Hosenknopf zu öffnen und feststellen musste, dass dieser schon offen war. Eine entwürdigende und konfliktbehaftete Situation. Sollte ich aufhören zu essen und so einen letzten Rest Würde bewahren, oder sollte ich meinem Verlangen nachgeben und einen zweiten Knopf öffnen, um Platz zu schaf92

fen? Wenn es nicht Gulasch mit Spätzle gegeben hätte, wäre meine Würde vielleicht gewahrt worden, aber so öffnete ich beherzt einen weiteren Hosenknopf und langte kräftig zu. Da es immer mehr übergewichtige Kinder und Jugendliche gibt, sollten diese Fakten nicht unter den Tisch fallen. Vielleicht können Zigaretten sogar eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Fettleibigkeit spielen. Ich bin mir noch nicht sicher, aber seit ich merke, dass beim Laufen meine Brüste wippen, spiele ich mit dem Gedanken, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Der Grund für meine erste Zigarette war ein anderer. Es führt nur ein Weg zur Lunge, und der muss geteert werden, erklärte mir Ingo aus der Zehnten, als ich ihn fragte, warum er rauche. Diesem Argument hatte ich nichts entgegenzusetzen und zündete mir mit vierzehn Jahren die erste Zigarette meines Lebens an. Es war ein notwendiger Prozess, welcher der Orientierungslosigkeit in meinem Leben ein Ende setzen sollte. Zum ersten Mal fühlte ich mich einer Gruppe zugehörig. Ingo hatte seinen Eltern eine Schachtel Marlboro aus dem Westpäckchen geklaut und bot mir eine an. Gleich die erste Zigarette eine aus dem Westen, das Raucherleben ließ sich nicht schlecht an. Tief inhalierte ich den Rauch in meine Backe und ließ ihn dort einige Sekunden zirkulieren, bevor ich ihn betont lässig aus dem Mundwinkel wieder hinausblies. Im Gegensatz zu den meisten Rauchern mochte und mag ich immer noch selbst als Nichtraucher den Geruch von Zigarettenrauch. Manchmal gehe ich heutzutage in stark frequentierte Kneipen und halte mich dort einige Stunden auf, bis meine Kleider rauchgetränkt sind. Zuhause schnuppere ich dann daran. Für den einen oder anderen mag das abartig klingen, aber der eine oder andere sollte mal vor der eigenen Tür kehren. Für mich kam es nun darauf an, mich zu einer Marke zu bekennen. Die Zigarettenmarke galt zu DDR-Zeiten mangels Alternative als Statussymbol. Man fuhr zwar zum großen Teil das gleiche 93



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