Leseprobe Nora Gomringer / Martin Beyer - #poesie

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Die Welt muss #poetisiert werden

Guten Tag, wie halten Sie es eigentlich mit der Lyrik? Der Lyrik von heute, der Lyrik von gestern? Anstrengend und schwierig zu erschließen? Oder ofene Tür in eine Welt der sprachlichen Verdichtung von Erkenntnissen, Ideen und sinnlichen Eindrücken? Leben wir in einem Land der Gedichtaicionados oder der Lyrikmufel? Wie sieht es in den Schulen aus? Wir haben öfter die Gelegenheit, mit Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern über die tatsächliche Relevanz von Lyrik im Unterricht zu sprechen. Häuig wird beklagt, dass das Bindeglied zwischen zum Beispiel barocker Lyrik und der Lyrik der Jetztzeit fehle. Wie könnte man etwa das Gedankengut, das in die Produktion barocker oder expressionistischer Lyrik eingegangen ist, in das Jetzt übersetzen? Viele Schülerinnen und Schüler können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch des Barocks, der Klassik, der Romantik ... ähnlich oder gar Ähnliches gedacht und literarisch zum Ausdruck bringen wollte, wie ein Mensch das heute macht. Genau dieses Bindeglied möchte die Anthologie #poesie sein! Sie möchte Wortbrücken bauen, indem sie eine Auswahl von poetischen Gegenwartstexten präsentiert, die in assoziativer Verbindung stehen zu den großen Themen und Traditionen der Lyrikgeschichte seit Barock, Klassik bis hin zu den literarischen Strömungen der Moderne. Dabei werden die Gedichte nicht nach Epochen oder Themen sortiert, das würde mit Beginn der Moderne und der Zerfaserung der Strömungen und Tendenzen kaum noch möglich sein. Vielmehr sind sie alphabetisch angeordnet – unter den Texten inden Sie Hashtags, die ein assoziatives Spiel eröfnen und aufzeigen, mit welcher Epoche oder mit welchem Topos sich der Text in Verbindung bringen lässt. Diesen Spuren können Sie dann in Gedanken, in Wort und Bild nachgehen – unser Band ist mit Bildtafeln von Reimar Limmer ausgestattet, die bestimmte Epochen und große Themen wie Natur oder Sex/ Gender noch einmal veranschaulichen und Orientierung geben. Bilder gehören nämlich zur Lyrik wie auch Klang und Stimme. Was ist Lyrik anderes als bildreiches Sprechen? Darüberhinaus können Sie mithilfe der Hashtags auch in den sozialen Medien die Verbindungslinien weiterverfolgen und sich in einer poetischen Commu-


VORWORT

nity bewegen. So könnte ein Fotoauftrag an Schüler lauten, die vanitas einzufangen, denn wenn man den Memento-mori-Gedanken des Barock unter #mementomori oder #vanitas postet, ergibt sich der Umgang mit Themen der Lyrik im Jetzt fast von selbst. Ut pictura poesis! Sie selbst, aber auch ganze Gruppen oder Schulklassen können sich so an unserem Spiel der Poesie beteiligen. Viele der Hashtags, die wir verwenden, gibt es schon. Ein Blick in diese Art der Verschlagwortung in Wort und Bild lohnt sich. Bei der Auswahl haben wir einen weiten Textbegrif angelegt und uns ebenfalls sehr assoziativ und intuitiv durch unsere Bücherberge gegraben. So sind neben wichtigen Stimmen der Gegenwartslyrik wie Doris Runge, Durs Grünbein oder Thomas Kunst auch Songs von Advanced Chemistry, Peter Fox und LaBrassBanda vertreten. Bekannte Slammer wie Bas Böttcher stehen neben modernen Klassikern wie Mascha Kaléko. Vorbildideen dieses Experiments sind Erich Kästners Lyrische Hausapotheke und Hans-Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie – die Lyrik, der kurze Text, soll als Vademecum, als nützliches „Ding“ gegen die Schrecknisse der Welt, als Bereicherung des Geistes, als transportables Literaturgut ins Zentrum der Wahrnehmung rücken. Oder, um ein bekanntes Novalis-Zitat frech abzuwandeln: Die Welt muss #poetisiert werden. Nora Gomringer und Martin Beyer

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BAROCK

Barock, du unregelmäßige Perle! Zumindest dem portugiesischen Wortsinn nach. Dabei hat sich dein Club der höischen Dichter meistens schön brav an das rechte Maß gehalten und die deutsche Sprache salonfähig gemacht. Der Alexandriner mit seiner Lücke in der Mitte, das Versmaß schlechthin für die Zerrissenheit deiner Zeit. Daseinsangst. Krieg. Ein mitunter schmieriges Weltentheater unter den Augen eines Erzkritikers namens Gott. Worin besteht eigentlich der Unterschied, wenn man sagt: carpe diem!, oder: memento mori? Zwei Ausrufe jedenfalls, die uns heute noch zu allerhand Sinn und Unsinn anspornen.



AUFKLÄRUNG

„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Nun, an Kant kommen wir einfach nicht vorbei, wenn es um Aufklärung geht. Jedenfalls: Das Licht der Vernunft ist da. Toleranz und ein neuer Optimismus, dass man nicht in einer ganz so schlechten Welt lebt – vielleicht sogar in der besten aller möglichen, das wäre doch was. Die Naturwissenschaften feiern Erfolge, und erkenntnisfähig sind wir Menschen tatsächlich selbst, diese Einsicht stellt die Weltordnung auf den Kopf. Das Bürgerliche wird literaturfähig – und ofenbart seine ganz eigene Tragik. Und dass die verschiedenen Glaubensrichtungen miteinander verwandt sind, sagt uns Lessings Nathan schon damals, wir hören es bis heute nicht (gerne).


Wie ein Gewitter

LYDIA DAHER

#bildgedicht #istdaseingedicht #betrachten #gedichtalsbild #utopie #hofnung #mittelpunkt #vergleich #gewitter #collage #textbild #siehstdunichthinverpasstduwas #aufklaerung #bestewelt #leibniz

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Ach-ach-Maschine für Wulf Segebrecht

NORA GOMRINGER

Nachdem der Löwe gestorben war, zahnlos, auch die bärtige Frau einen Verehrer fand, haarlos, die kleinen Männer beim Film unterkamen – los, los! –, wurde Platz im Zelt. Ein Mann, gekleidet in einem Umhang aus italienischem Tuch, brachte sie: schwindsüchtig und blass. Sie lief langsam, immer etwas stockend, nicht recht im Fluss: die Gesten, Lippen, Worte. So waren die Annahmen die besten, das Mitleid groß, die Aufnahme kollegial, die Vergangenheit an diesem Ort nicht unter der Lupe. Eine so schöne Frau und dazu noch verschwiegen! „Herzensbrecherin Typ: E. T. A.“ stand an ihrem Wagen, und wenn der Direktor die Besucher zu ihr führte, hörte man eine unglaubliche Geschichte. Diese Zeiten sind längst vorbei. Ich habe sie erstanden. Sie steht bei mir zwischen einem Flipper, einem Wurlitzer, und wenn ich Interessenten zu ihr führe, halte ich eine Münze bereit (für das Schlitzohr), lasse sie selbst ihre unglaubliche Geschichte erzählen. Doch eigentlich sagt sie fast immer nur „Ach, ach“, und das lässt Raum für Interpretation.

#ballade #erzaehlungimgedicht #biograie #maschine #olympia #freak #freakshow #zirkus #seufzen #widmungsgedicht #forschung #automatenmensch #abnormitaetenschau #matching #dersandmann #etahofmann #schwarzeromantik #germanistik #interpretation

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