Leseprobe Jaromir Konecny - Tatar mit Veilchen

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Roman Verlag Voland & Quist



Zu lieben muss man verstehen. Alexander Grin, Purpursegel



Veilchenfeste

Mit zehn, in der Nacht, als ich erfahren habe, dass meine Eltern nicht mehr nach Hause kommen würden, habe ich auch gelernt, das Glück fest­ zuhalten. Mag sein, dass mein blödes Grinsen daher kommt. In dieser Nacht, nachdem mich Oma den ganzen Nachmittag in den Armen gehal­ ten und geweint hatte, obwohl sie versucht hatte, nicht zu weinen, dachte ich an meinen Vater, an die Reitstunde, als ich etwa vier Jahre alt gewe­ sen war: Ich hockte auf Papas Knien, er hob sie hoch und runter und sang eine gereimte tschechische Weise dazu: »So reiten die Herren, so reiten die Soldaten, sooo reiten die Bauern!« Die Herren ritten langsam, die Soldaten etwas schneller, die Bauern am schnellsten: Der kleine Bauer Pepík flog von seinen Knien und in seinen Händen hoch in die Luft und wieder zurück. Ich kreischte vor Lachen. Meine Mutter las mir vor dem 7


Einschlafen die Märchen vom dummen Hans vor. Nahezu jede Nacht bin ich in das große Holzbett meiner Eltern geschlüpft, noch ein paar Tage vor ihrem Tod – ich lag zwischen ihnen wie der Prinz der Nacht, ließ mich durch das Trennbrett zwischen ihren zwei Matratzen nicht stören und hörte ihren schönen Atemzügen zu, bis ich wieder einschlief: Papas sägende Melodie rechts, Mamas leises Lied links. Weil ich das Glück, das aus der Erinnerung erwächst, durch das die Trauer zur Schöntrauer wird, schon damals mit zehn festzuhalten lernte, ist mir diese Erinne­ rung erhalten geblieben. Ein paar Wochen, bevor meine Eltern starben, war Fialka mit ihrer Familie in unser Städtchen gezogen. Wir spielten bei uns im Garten, ich quetschte mir den Finger an unserer Schaukel, Fialka pustete darauf und sagte laut: »Pusteblume!« War das schon der Sex?, fragte ich mich später. Auch diese Erinnerung blieb mir. So konn­ te ich auch an dem Tag, als meine Eltern starben, ein bisschen lächeln. Fialka hat sich nie darum geschert, dass ich ein Deutscher war. Bis sie mir ihren Namen wegnahm. *** Von Janas Nippeln hingen Ringe wie von den Nüstern eines Ochsen. Ein schönes Wiesenbild, untermalt durch Omas Veilchenduft. »ICH BIN AUCH AN DEN LIPPEN GEPIERCT«, meldete die Schlagzeile auf der Titelseite der Blitz unter dem Obenohne-Foto der Studentin aus Prag. Doch an ihren Mundlippen hing nichts! Noch gestern hatte Jana das Aschenbrödel gespielt, dann bekam sie drei leere Nüsse und wurde für einen Tag zur halbnackten Prinzessin der Titelseite gekürt. Wenn ich hier in Omas Wiesenduft hockte, fand ich solche Bilder nahezu poetisch. Im Kapitalismus kümmern sich die Zeitungen um die wichtigen Seiten des Lebens: Neben Jana mit den gespickten Brustwarzen regte sich eine englische Abgeordnete über einen Prager Taxifahrer auf, der die Innenwände seines Autos mit lauter nackten Damen tapeziert hatte. »Ein verachtendes Frauenbild!«, sagte die Alte. 8


»He?«, sagte der Taxifahrer. »Ich verachte die nackten Frauen nicht!« Auch über die vielen nackten Mädels auf tschechischen Werbeplakaten schimpfte die englische Politikerin. Das verwirrte sogar den tschechischen Interviewer: »Was sollen wir da sonst hin­ hängen?«, fragte er. »Zum Beispiel mich!«, sagte sie. »Ich bin hier auf Einladung des tschechischen Parlaments. In Prag sollten jetzt überall meine Plakate hängen!« Aber Hand aufs Herz: Wer möchte sich schon ’ne alte verschrumpelte englische Abgeordnete nackt an die Wand hängen? Ich kenne zwar einen, der sich im Netz illegale Rentnerpornographie anguckt, aber dem kommt man sicher bald auf die Schliche. Gemütlich blätterte ich die Zeitung durch. Die Tagespresse ist ein gutes Abführmittel. Leider wurde jetzt nichts daraus. Bumm bumm bumm – bumm bumm bumm – bumm bumm bumm – bumm bumm bumm! Oh, Gott, Mann! Konntest du Oma nicht etwas aufhalten? Zumindest bis ich die Zeitung zu Ende gelesen habe? Da brüllte sie auch schon: »Du Nichtsnutz! Du wirst im Hajsl noch sterben!« »Hajsl« kommt vom deutschen »Häusle«, bedeutet »Klo« und klingt im Tschechischen sehr derb. Im Tschechischen verbindet man das Hajsl nun mal nicht mehr mit dem schönen deutschen Wort »Haus«, sondern mit der Tätigkeit, die im Hajsl verrichtet wird. Somit gehört das anständige deutsche Wort »Häusle« zur tschechischen Fäkalsprache. Alles ist relativ! Um unser Hajsl lieblich zu halten, lässt Oma hier ihre Veilchen duften. Aus einem Körbchen oben in der Klofensternische. »Komm sofort raus!«, kreischte sie jetzt. »Und räum den Saustall in der Küche auf! So ein Taugenichts! Deine Eltern würden sich im Grab umdrehen!« »Ich bin noch nicht fertig!«, rief ich. Aber das brachte Oma noch mehr in Rage. Hmm … dann eben ein anderes Mal. Ich zog mir die Jeans hoch und wusch mir die Hände, auch wenn das Geschäft unverrichtet blieb. Dafür haben sich die Psychologen einen schönen Begriff ausgedacht: das Scheitern vor dem Ziel. 9


»Na, Oma! Bist du schon zurück? Wie geht’s Tante Alena?« Oma und ich waren Alenas einzige Familie und sie unsere. Alenas Mutter, Omas Schwester, war schon lange tot. Alena hatte keine Kinder. Normalerweise redete Oma gern über die Besuche bei der Tochter ihrer Schwester in Olmütz, diesmal ließ sie sich aber auf keine Annäherungsversuche ein. Mit dem großen Küchenmesser in der Hand winkte sie wie die Leute beim Ersten-Mai-Zug mit den bunten Winkelementen, damals zu sozialistischen Zeiten, und brüllte: »Los! Los! In die Küche! Aufräumen!« Oma hatte Deutsch erst richtig von ihrem Mann gelernt, der 1940 aus dem ›Reich‹ in unser Hultschiner Ländchen kam. Schon immer wollte Oma mir Hochdeutsch beibringen. Nachdem die Deutschen vertrieben worden waren, sprach hier keiner mehr richtiges Deutsch. Natürlich mischte Oma auch in ihres Hultschiner Ausdrücke. Vor allem, wenn sie so komisch drauf war wie jetzt. »Den ganzen Tag sitzt du im Hajsl, du Gysde?«, kreischte sie. »Gysde« kommt aus dem Polnischen. Aber jetzt ist Schluss mit dem Hultschiner Dialekt. Sonst versteht das hier keine Sau. Das »Hajsl« ersetze ich einfach durchs »Klo« und die Beschimpfung erspare ich Oma, weil Oma meistens eigentlich sehr lieb ist. Also noch mal: »Den ganzen Tag sitzt du auf dem Klo«, kreischte Oma. »Da bilde ich mich«, sagte ich. »Das weißt du doch, Omi.« Sie hob ihr großes Küchenmesser hoch, ich versuchte auszuweichen, duckte mich schnell, doch sie briet mir mit dem breiten Messerblatt eins über den nackten Rücken. »Auuutsch!« Das war ein gewichtiges Argument, ich widersprach nicht mehr und galoppierte in die Küche. »Und lächle nicht so doof!«, rief Oma mir hinterher. »Du siehst aus wie ein Idiot!« Das sagte mir Oma schon, seit ich klein war. Auch andere sagten das. Meine Freundin Hanka, meine Kumpel … Aber immer wenn ich versuche, nicht zu lächeln, geht’s mir nicht gut. Warum sollte ich dann nicht lächeln? Außerdem ist das Lächeln mein Naturzustand. Ich muss mich immer sehr anstrengen, um die Mundwinkel 10


nach unten zu bekommen. Wegen meines Lächelns habe ich in der Schule von den Lehrern immer wieder Kopfnüsse bekommen: »Was? Du lachst mich aus?« Und BUMM! Ich glaube, alle Kinder haben das Lächeln. Bis es ihnen die Lehrer vertreiben. Das warme Wasser rauschte in die Spüle, daneben ein Berg von Geschirr. Oma wachte, verfolgte meine Hände mit ihrem Blick wie der Tiger seine Antilope beobachtet. Nur zuschlagen, wenn das arme Vieh einen Fehler macht und sich von der Herde entfernt. Jeden zweiten Teller schob sie zurück in die Spüle. »So dreckig willst du den in den Schrank tun?« »Ich mach’ das noch mit dem Geschirrtuch sauber«, sagte ich, und schon watschte sie mir eine. »Oma! Ich bin dreißig. Du sollst mich nicht mehr schlagen!« »Bis du dein eigenes Geld verdienst, bist du für mich vierzehn. Jesus Christus! Wenn ich nicht aufpasse, bekommen wir noch die Gelbsucht!« Tja, jetzt war Oma wieder mal so weit! Und schon flitzte sie in den Flur, zu ihrem Altar auf der Kommode. Dort hockte inmitten von ein paar Kerzen mein Opa in seiner SS-Uniform. Dank meines SS-Opas war ich gar kein richtiger Tscheche: Für meine tschechischen Kumpel war ich Deutscher. Und für meine Oma. Opa kam im April 1945 bei der Befreiung von Ostrava um. Acht Monate vor der Geburt seines einzigen Sohns, meines Vaters. Als Kind habe ich gedacht, mein SS-Opa hätte den Krieg verschuldet. Zum Glück haben die Russen meinen SS-Opa erschossen, und so konnte der Krieg beendet und mein Vater schon im Frieden geboren werden. Um das Foto meines Opas lagen einige weitere Erinnerungs­stücke, ebenso in der Schublade darunter. Oma zog das Heiligste heraus, Opas SS-Ausweis, und lief damit zurück zu mir in die Küche. »Du solltest dir ein Beispiel an deinem Opa nehmen!«, brüllte sie und wedelte mir mit dem Scharführer vor den Augen herum. »So ein fleißiger Mann! Ordentlich! Aus einer ganz armen Familie! Aber mit Disziplin! Schau, wie weit er’s gebracht hat!« Um sich abzusichern, klebte Oma mir noch eine und watschelte schimpfend aus der Küche. 11


Der Berg war jetzt einigermaßen sauber, ich musste ihn nur noch abtrocknen. Aber wo hatte Oma die verdammten Geschirrtücher hingetan? Vorsichtig guckte ich zur Küchentür hinaus. Die Luft war rein. Oma betete wohl für mich in ihrem Zimmer vor dem großen Bild des Heiligen Antonius. Um mir weiteren Stress mit ihr zu ersparen, zog ich mein T-Shirt aus und wischte damit das Geschirr trocken. Der nasse Stoff kühlte angenehm, als ich’s wieder anzog. Sauheiß! Die Zeitungen werden wohl Recht haben: Die Erde erwärmt sich. Nach der Küchenarbeit brachte ich noch etwas Gülle auf die Kartoffeln im Garten. Man sollte den EU-Kommissaren klar­machen, dass die Evolution auf Erden nur deswegen stattfinden konnte, weil ausgiebig mit Naturdung gedüngt wurde. So! Schon lief der Kreislauf der Natur wieder. Fertig! Jetzt musste ich schnellstens mein Geschäft zu Ende bringen. Der freie Wille funktioniert nur beim Input – und auch da nur begrenzt. Beim Output waltet die Natur. Außerdem hatte die Gartenarbeit mich in Stimmung für etwas Anspruchsvolleres gebracht: Zombies verlassen ihre Gräber hieß das gute Buch, das im Regal gegenüber vom Waschbecken auf mich wartete. Mein Freund Haschisch hatte es mir mitgebracht. Auf dem Umschlag nahm sich ein Scheintoter ein nacktes Mädchen vor. Das Mädchen sah Hanka verblüffend ähnlich. Besonders mit ihrem langen schwarzen Haar. Verdammt! War Hanka so austauschbar? Oh, Hanka! Vermutlich ging dieser ganze Krampf mit den Frauen auch nach dem Tod weiter. Ich hockte mich wieder auf die Brille und tauchte in die Geschichte ein. Nur hin und wieder hob ich den Kopf und heulte leise vor Glück. So froh bist du nur auf dem Klo … Na ja, manchmal spürte mich das Schicksal auch hier auf, so wie vorhin meine Oma, aber etwas ganz Übles passierte im Klohäuschen nicht so oft. Dafür war es einfach zu klein. Und es waren zu wenige Leute hier. »In Marias kleinem Körper bebte ein großes Herz vor Leidenschaft«, las ich. Ich überrannte zusammen mit den Untoten das Mädchenpensionat, in dem Maria auf die Liebe ihres 12


Lebens wartete, dann war Ruhe. Für heute Bildung genug. Solche tiefgründigen Sätze kannst du nur häppchenweise genießen. Hmm … wenn hier nur etwas Nettes zum Abwischen wäre – etwas Weiches. Neben der Schüssel lag nur Zeitungspapier. Sauber in kleine Quadrate geschnitten. Mit Zeitung als Klopapier kämpfte Oma symbolisch gegen die Korruption. Ich wischte mir den Arsch mit dem Gesicht eines Politikers ab, der eines der tschechischen Traditionsunternehmen beim Kaffeetrinken verscherbelt hatte. Trotz der wohltuenden Politikerschändung dachte ich beim Abwischen an handgeschöpftes Klopapier mit einem Wasserzeichen auf jedem Blättchen, das weich und fest ist wie Seide aus China. Noch auf der Kloschüssel sitzend zog ich die Spülung, das Wasser brodelte in der Schüssel wie in ’nem Whirpool und massierte sanft meinen Hintern, bis ich vor Wonne wimmerte. Huuuh! Wenn das Wasser nur ’ne Spur wärmer wäre, käme mir das Leben richtig süß vor. *** Oma bügelte in ihrem Zimmer meine Boxershorts. »Ach Omi«, sagte ich. »Unterwäsche bügelt man nicht!« »Doch«, sagte sie wie immer. »Ordnung muss sein.« Sie steckte mir einen Hundert-Kronen-Schein in die Jeanstasche. Sicherlich hatte ihr die Attacke mit dem Messerblatt ein schlechtes Gewissen beschert. Mit Geld kannst du alles kaufen und manchmal sogar dich selbst bestechen – dem Geld ist alles recht, Geld überlebt alles, und weil das Geld das Herz des Kapitalismus ist, hat auch der Kapitalismus unseren Sozialismus überlebt. Ich hatte zusätzlich noch ein paar Silberlinge – vier Halbe Radegast würde es heute geben, gerade genug für eine kleine Bewusstseinserweiterung. Am Anfang der Woche hatte Oma mir so wenige Kicherscheine dagelassen, dass ich mich in den letzten Tagen in der Gifthütte nicht blicken lassen konnte. 13


Gott spielt

Wir sind fünfzehn. Fialka und ich besuchen ein Gymnasium in Ostrava. Fialka die Parallelklasse. Sie hat sich in Eda aus der 10a verliebt. Ich darf aber weiter ihre Tasche zum Bus tragen, der uns jeden Tag ins Hultschiner Ländchen bringt. Unterwegs zum Bus lache ich mit Fialka. Schöntraurig. Nichts und niemand vermag es, dir deine Erinnerungen zu nehmen. *** Vor dem Kaufhof hockte ein Bettler. »Bist du auch katholisch?«, fragte ich ihn. »Ich bin Taoist«, sagte er. Ich steckte ihm den Zwanziger des Alten zu. 61


»Danke, Genosse«, sagte er. »Dafür kriegst du von mir einen guten Spruch mit auf den Weg. Merk ihn dir: Von der Aufmerksamkeit kommt das Staunen, und vom Staunen kommt die Freude.« »Das gefällt mir«, sagte ich. »Du bist ein Philosoph, dabei hockst du hier in abgerissenen Klamotten.« Der Bettler lachte. »Wer seine Glorie kennt und dennoch in Schande weilt, der ist das Vorbild der Welt.« »Wo kann ich hier billig essen?«, fragte ich. »In München?«, fragte er. »Billig? Nirgendwo! Aber essen kannst du auf dem Viktualienmarkt! Soll ich dir Geld leihen?« *** Der Viktualienmarkt, gleich unter dem Marienplatz, duftete nach Omas Küche: Buden, Leute, Mädchen … na ja, Mädchen sind auch Leute, aber hier auf dem Viktualienmarkt, nach meinem Besuch im Höllenmuff des Dicken, kamen sie mir in ihren bunten Sommerkleidern überirdisch sanft vor. Jede von ihnen auf ihre Art schön. »Was ist die hiesige Spezialität?«, fragte ich eine Marktfrau am Gemüsestand. »Wie meinen Sie das?«, fragte sie. »Was sollte ich essen, wenn ich zum ersten Mal in München bin?« Sie wollte mir einen Sack Kartoffeln andrehen. »Leberkäse«, sagte sie endlich. Ich lief weiter. Käse aus Leber wollte ich nicht. Ein Mann im Tirolerhut empfahl mir »Weißwürschtl«. Aber auch auf weiße Würste hatte ich keine große Lust, ich bin schließlich kein Vegetarier. Oma hatte sogar mal Sojawürste gekauft. Sie hatte weniger Hemmungen als ich. Oh! Münchner Suppenküche. Mit Gulaschsuppe! Wie in der Gifthütte bei Hanka. Ich löffelte die Paprikabrühe und dachte dabei an Oma. Und dann an Hanka. An ihre Gulaschsuppe und an ihr scharfes Tatar. 62


Durch die Fußgängerzone in München mit ihren Ufern aus herausgeputzten Geschäftshäusern floß ein Menschenstrom. Die Sonne war inzwischen ins Exil gegangen. Mit der Sonne flatterten auch die Schmetterlinge in den Sommerkleidern davon. Plötzlich liefen nur noch Männer in Krawatten und teueren Anzügen an mir vorbei. Vielleicht sollte ich mich in einen Biergarten hocken, mir ein paar bayerische Bierchen genehmigen und wieder heimfahren? Von dieser weisen Überlegung ließ sich die Sonne so begeistern, dass sie mich wieder breit anlachte, und auch die Mädchen tauchten wieder auf. Aus einem Ghettoblaster inmitten eines Menschenstrudels sangen die Beatles All You Need Is Love. Ich drängte mich durch die Menge. Ein Jongleur! Seine Hände schmissen die Bälle im Rhythmus des Songs. Die Beatles sangen ihr Lied zu Ende und der Jongleur erklärte seine Kunststücke. Sie trugen schöne Namen: Wasserfall, Kaskade, Dusche … »Alles fließt!«, sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich drehte mich um. Der Taoist. Er winkte und schlurfte die Fußgängerzone hinauf. Ich hockte mich auf den Boden. Der Jongleur ließ fünf Bälle gleichzeitig durch die Luft fliegen. Neben mir saß eine Frau in einer kurzen Jeans. Ein bisschen älter als Hanka, mit einem neugierigen Blitzen in den Augen, in denen blaue Blümchen wuchsen. Nur ein kleines Fältchen zwischen ihren Augen schien sagen zu wollen, dass sie nicht nur lustig durchs Leben ging. »Der Mann ist gut«, sagte sie vor sich hin und zog aus ihrer großen braunen Ledertasche einen Skizzenblock heraus. Wie der Kohlestift in ihrer Hand gelandet war, hatte ich nicht beobachtet – ich sah ihn erst, als sie mit ihm zeichnete. Auch wenn sie immer wieder kurz die Augen hob und den Jongleur ansah, bewegte sich ihre Rechte mit dem Stift weiter. Zu lächeln fing sie an, als sie zu zeichnen begann. Mein Herz wurde von einer Horde kleiner breitmundiger Musen gestreichelt. Ich bin kein Über-die-Schulter-Gucker, aber die Neugier drehte meinen Kopf auch gegen meinen Willen. Nach zehn Minuten stand der Jongleur auf ihrem Bild inmitten von drei fliegenden Bällen. Wow! Ich hatte keine Ahnung vom Jonglieren, trotzdem wusste ich, dass 63


die drei Bälle in einem extrem schwierigen, nahezu unmöglichen Muster in der Luft hingen. Der Jongleur sah die Bälle an, als wäre er selbst verblüfft, wie er diesen Jongliertrick gerade hinbekommen hatte. Ich musste lachen. Und dann lächeln – mehr als bei meinem andauernden Grinsen. Weil ich in ihrem Panna-Cotta-Haar ein rotes Schmuckstück mit schwarzen Punkten entdeckte, sagte ich: »Du hast eine kleine Sonne im Haar.« Sie sah mich an und riss die Augen weit auf. »Das gibt’s doch nicht! Du lächelst wie …« »Was meinst du?« Sie winkte ab. »Du müsstest das Bild sehen.« »Das da?« »Nee … ist nicht so wichtig. Was für eine kleine Sonne?« Ich holte den Marienkäfer aus ihren Haarsträhnen. Als ich mich zu ihr beugte, begrüßte mich ein sanfter Duft. Omas blaue Blümchen in ihrer natürlichen Umgebung, auf einer Wiese aus Frauenhaar. Nicht um zu verdecken. Nur um zu duften! Ich wollte ihr gerade den Marienkäfer zeigen, als er davonflatterte. »Du hattest einen Marienkäfer in den Haaren.« Sie glaubte mir nicht. »Auf Tschechisch heißt der Marienkäfer ›Kleine Sonne mit sieben Punkten‹«, fügte ich hinzu. »Eine solche Anmache hab’ ich noch nie erlebt«, sagte sie. Der Jongleur hörte auf zu jonglieren. »Beim Jonglieren verbindet man die linke mit der rechten Gehirnhälfte«, sagte er. »Wissenschaftler haben gemessen, dass bei Jongleuren das Gehirnvolumen zunimmt. Wenn ich viel jongliere, habe ich das Gefühl, dass mir die Augen aus den Höhlen kriechen, weil’s im Schädel so voll wird. Jonglieren ist wichtig. In Polynesien bekommen Mädchen gleich nach der Geburt ein paar Früchte und müssen damit jonglieren lernen. Noch bevor sie krabbeln können. Wenn die Mädchen fünfzehn sind, können sie mit zwölf Früchten jonglieren – mit Melonen. Wo bei uns Blasmusik gespielt wird, zeigen die Mädchen ihre Jonglierkunststücke – auf Hochzeiten, bei Begräbnissen, 64


wenn Männer sterben. Bälle sind sowieso was sehr Erotisches …« Der Typ laberte ununterbrochen, trotzdem hörte ihm jeder zu. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich jonglieren lernen musste. Wenn ich meine linke und rechte Gehirnhälfte besser verbinden würde, könnte ich die Welt mit ganz anderen Augen sehen, oder? Vielleicht würde ich dann auch erfahren, warum ich die ganze Zeit lächelte. Nach ein paar Minuten war die Show vorbei. Ich warf ein ZweiEuro-Stück in den Hut. Meine Marienkäfer-Nachbarin lief weiter in Richtung Marienplatz. Ich holte sie ein. »Wo kann ich hier Jonglier­bälle kaufen?«, fragte ich. »Das ist noch eine blödere Anmache als die mit dem Marien­ käfer«, sagte sie. »Was ist eine Anmache?«, fragte ich. Das Wort »Anmache« hatte es in Omas Wortschatz nicht gegeben. »Wo kommst du her?«, fragte sie. »Ich bin Tscheche«, sagte ich. »Aber kein richtiger Tscheche. Meine Oma sagt, ich bin Deutscher. Meine Kumpel auch. Für meine Freundin bin ich manchmal Tscheche und manchmal Deutscher. Je nach Stimmung. Ich denke aber, dass ich eher Tscheche bin als Deutscher.« »Das ist wohl egal dafür, wer du bist«, sagte sie. »Ich weiß es manchmal auch nicht. Einen Namen hast du aber schon, oder?« »Ich heiße Pepa.« »Ich bin Paula«, sagte sie und fragte mich, was ich in München trieb. Ich zeigte ihr den SS-Ausweis meines Opas. »Oh«, sagte Paula und guckte mich ziemlich komisch an. Musste wohl mit dem Ausweis meines Opas vorsichtiger umgehen. In Tschechien hatte sich über meinen SS-Opa jeder gefreut, in Deutschland schien er aber keine Eintrittskarte ins Paradies zu sein. »Mein Opa ist am Ende des Krieges umgekommen«, sagte ich. »Kann ich dafür nicht eine kleine Entschädigung bekommen?« »Machst du dich über mich lustig?« »Nein!« 65


»Du grinst ständig so, als ob du einen verspotten würdest«, sagte sie. »Nee … eigentlich nicht. Du lächelst wirklich wie Fifi. Deswegen war ich so erstaunt, als ich dich zuerst gesehen habe.« »Wer ist denn Fifi?« »Ein … egal. Vergiss Fifi!« »Das Lächeln ist bei mir eine Art angeborener Defekt«, sagte ich. »Lächeln ist doch kein Defekt«, sagte sie. »Manchmal möchte ich auch die ganze Zeit lächeln können.« »Das ist nicht schwierig«, sagte ich. »Du musst nur die Mundwinkel hochziehen, so …« »Du willst mich doch verarschen, oder?« »Echt nicht!« »Für einen SS-Ausweis bekommst du hier keine Rente«, sagte sie. »Vor siebzig Jahren schon, aber jetzt nicht mehr.« »Ich muss etwas Geld verdienen«, sagte ich. »Meine Freundin will eine Boutique aufmachen.« »In der Gastronomie kannst du jetzt im Sommer sicher einen Job finden«, sagte Paula. »Bei uns in Kleinding ist ein großer Ausflugsbiergarten. Die suchen ständig Kellner und Küchenhilfen.« Hmm … Kleinding? »Oder hast du irgendeine Qualifikation?« »Ich kann Hunde Gassi führen«, sagte ich. Sie sah mich lange an. »Ich werde aus dir nicht schlau.« »Ich kann wirklich mit Hunden umgehen.« »Hast du nichts Gescheites gelernt?« »Ich habe zwei Semester Philosophie studiert.« »Das müsste für einen Job als Kellner reichen«, sagte Paula. »Ich muss jetzt los.« »Wo kann ich hier Jonglierbälle kaufen?« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist schon komisch, oder? Pappnase«, sagte sie und erklärte mir den Weg. »Kauf sie besser gleich. Morgen ist Feiertag – Christi Himmelfahrt.« »Christi Himmelfahrt?«, sagte ich. »Wahnsinn!« »Wahnsinn?« 66


»Schon in Ordnung«, sagte ich. »Die Tschechen haben im Mittelalter auch Gott verehrt. Dafür müssen sich die Bayern nicht schämen. Das ist normal. Früher, wenn irgendwo zum Beispiel ein Blitz eingeschlagen hat, hat man das Unverständliche mit einem göttlichen Eingriff erklären wollen …« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. »Na, hör mal! Bayern ist ein High-Tech-Land!« »Aber katholisch schon, oder?« »Kaum noch. Ich kenne mehr Buddhisten als Katholiken.« »Schon gut«, sagte ich. »Wo kann ich mit den Bällen üben?« »Im Englischen Garten«, sagte sie. »Ciao!« Nachdem Paula ihr Jongleurbild gezeichnet hatte, hatte sie kein einziges Mal mehr gelächelt. Ich blickte mich um: Keiner lächelte hier. Alle liefen in einem irren Tempo an mir vorbei und starrten nach vorne, als ob das Ziel wichtiger wäre als der Weg. Eine Stunde später trottete ich durch den Englischen Garten, im Rucksack fünf Bälle und ein Buch übers Jonglieren. Wie lange würde das Geld von Oma wohl reichen? Bis zum Abend lernte ich jonglieren. »Das ist die Kaskade«, sagte ich zu einem kleinen Jungen, der bei mir mit seiner Mutter anhielt. »Bei der Kaskade fliegen die Bälle untereinander hindurch, bei der Rückwärtskaskade übereinander. So! Siehst du? Und was ist das? Was meinst du?« Ich warf die Bälle jeweils zweimal untereinander und einmal übereinander. »Das ist Tennis«, sagte der Kleine. »Das weiß doch jeder!« Seine Mutter schmiss ein Ein-Euro-Stück in den Beutel, den ich für die Bälle gekauft hatte. Damit konnte ich richtig Geld verdienen! Ganz schön praktisch, das Jonglieren. Nur vergaß ich dabei, dass ich nicht wusste, wo ich schlafen sollte. Ich nahm mir ein Hotel. Omas Geld wurde immer knapper. *** 67


Am nächsten Tag besuchte ich den Taoisten in der Fußgängerzone. »Paula hat gedacht, dass ich über sie gespottet hätte«, sagte ich. »Soll ich mir das Lächeln in Deutschland abgewöhnen?« »Der Unglückliche empfindet bereits das Lachen als Kränkung«, sagte er, aber das nahm ich ihm nicht ab – dass Paula unglücklich sein sollte. Sie war so schön, warum sollte sie unglücklich sein? Nach drei Tagen jonglierte ich wie ein Profi, das Geld aber war alle. Was jetzt? Nicht mal die Rückfahrkarte nach Ostrava konnte ich mir mehr kaufen. Für die letzten Münzen zog ich am Marienplatz eine S-Bahn-Fahrkarte aus dem Automaten. »Fährst du weg?« Ich drehte mich um. Mein Bettler grinste mich an. »Was machst du hier?«, fragte ich. »Ich seh’ mir hier gerne die Leute an. Zur U-Bahn hetzen sie wie sonst nirgendwo. Das bestätigt mir immer, dass ich einen vernünftigen Lebensweg eingeschlagen habe, als ich aufhörte zu arbeiten.« »Ich muss langsam anfangen, Geld zu verdienen«, sagte ich. »Meine Freundin will eine Boutique aufmachen.« »Die Frau ist unbefriedigbar, der Mann unbelehrbar, die Schwingungen im Kosmos unaufhaltbar und Gott unfassbar«, sagte der Taoist, packte seine Plastiktüten und schlurfte zur Treppe aus dem Untergeschoss. Ich fuhr nach Kleinding. *** Mit sechzehn sind wir nicht mehr gleich alt. Ich glaube, Fialka hat’s mit Eda gemacht. So glücklich, wie sie ist. Ihre Tasche ist ganz schwer gewor­ den. Sie lacht nur Eda an. Mich nicht mehr. Den ganzen Tag guckt sie nach ihm. Traurig bin ich nicht. Ich lächle ja ständig.

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