Liebesgedicht mit langwieriger Ankündigung
Bislang hatte ich tatsächlich geglaubt, die vorwiegend als Sauerkirsche bekannte, nahezu ungenießbare Schattenmorelle hieße so, weil die Sonne die unter den breiten Blättern versteckten kleinen Steinobstgesellen weniger beleuchtet als die normale Kirsche. Aber was musste ich lesen? Der Ursprung des Wortes, das im Übrigen der geschätzten Meinung des Autors nach die fundamentale Ekligkeit der niedlichen Perlen synästhetisch ausdrückt (das heißt, der Klang des Wortes evoziert Fressblasen or something like that), kommt aus dem Französischen und ist die eingedeutschte Version des Namens eines Schlosses: Chateaux Morel. (»Morel« bedeutet übrigens Nachtschatten, weswegen »Schattenmorelle« Schattennachtschatten bedeutet … oh elende Verdeutschung!) Aber warum? Warum denke ich über, schlage ich so etwas nach? Saß doch einfach nur in meinem Zimmer herum, schloss Augen und Nase, um dem Zigarettengestank und auch der allgemeinen Ödnis zu entfliehen. Der erste hervorschießende Gedanke beschäftigte sich mit der Formulierung eines Liebesgedichtes mit Worten wie »Mattigkeit«, »du« (natürlich …) und »Nachtschattengewächs«. Vom Nachtschattengewächs war es ein Katzensprung zur Schattenmorelle, von meinem Sofa war es für mich als menschliche Katze ein leichter Sprung zum Lexikon, wo ich oben stehende Wahrheit begraben fand. Der Wunsch, ein gutes Liebesgedicht zu schreiben, verband sich mit der Notwendigkeit, einen Gedichtereader Germanistik ratzfatz durchzuarbeiten, verband sich mit allem Vorangegangenen, weil ich zu selektiver Aufmerksamkeit nicht fähig bin. Selektive Aufmerksamkeit – Segen der Akademiker, Künstler und Leute, die lange Einleitungen mögen, die psychologische
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Bezeichnung für eine Art positiven Tunnelblick, kognitive Konzentration auf ein bestimmtes Ziel. Keine Ahnung, wie das geht. Zurück zu meinem Liebesgedicht. Methodisch und formal wird das sicherlich einwandfrei, da ich Walther von der Vogelweides »Unter der Linde« kopiere, der – was für viele Schriftsteller des Mittelalters gilt – auch heute noch eine sehr hohe Aktualität aufweist. Nun denn, wer früh aufsteht, pisst wo es ihm beliebt. Oder wo er sich erhebt. Selektive Aufmerksamkeit, da seht ihr’s. Letzte Vorbemerkung: Das Singen der Nachtigall, bei Walther durch das poetische »tandaradei« versinnbildlicht, ersetze ich durch »tsssch-ba-babelubau«. Damit tue ich dem Vogel nur Gutes. Nun denn:
Unter der Morelle Unter der Morelle, wo sich Hase und Wolf noch beseelt die Hände schütteln, wo die Larven sich im Steinobst Höhlen bauen, und die Nachtigall brüllt über die Ebene – tsssch-ba-babelubau, stehe ich, und finde es gut. Ich stehe, da auf der Ebene, auf dem Stück Wurzelwerk, was der flutende Beton übrig ließ, und harre deiner, deiner Haare harre ich, deiner herannahenden Gestalt – du! hinter der ich die Sonne untergehen lasse, damit das Ganze die Symbolik erhält, die es verdient – zusätzlich
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geilen in den Büschen Nachtschattengewächse vor sich hin, ihr Nachglühen ist von großer Mattigkeit befallen – die Nachtigall: tsssch-ba-babelubau. Ich wünschte, ich baute dir ein Haus aus blühenden Blumen, schnitte mir die Haare mit einem rostigen Stück Metall, führte es mit rosendornenblutigen Händen – für dich! Ich wünschte, du nahtest schon, lächeltest. Nachtigall: tsssch-ba-babelubau. Ich schrie dir die Botschaft deutlich um die Ohren: ICH LIEBE DICH. Hase und Wolf liefen vor Angst auseinander: ICH LIEBE DICH. Mein Schrei risse dir das Kleid vom Leibe, beide entblößt, du wüsstest, es wäre richtig: ICH LIEBE DICH. Wir liebten uns auf dem Stück Wurzelwerk, welches der Beton übrig gelassen, es würde Morellen regnen, ekle Morellen, die zerplatzen, Morellen, die uns träfen, kleine Male hinterließen: ICH LIEBE DICH. Nachtigall dazu: tsssch-ba-babelubau. Du nahst nach wie vor, und alles, was ich tue, alles was ich kann: Ich esse eine Morelle. Das sollte doch Zeichen genug sein.
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Heroisch esse ich eine Morelle, ich hasse Morellen, das musst du doch wissen. Du weiĂ&#x;t nicht. Drehst dich wieder um. Und doch esse ich die verdammte Morelle nur fĂźr dich. Andere tragen Tische, ich esse die Morelle. Nachtschatten. Sonne weg. Du. Die Nachtigall sagt: tsssch-ba-babelubau. Zumindest sie hat mich verstanden.
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Der neue Mensch – keine Utopie
Der neue Mensch fährt gern im Vorwärtsgang. Er tritt die Pedale durch, dass es knirscht und kracht in den Gelenken, um möglichst schnell irgendwo anzukommen und die Zeit, die er zur Verfügung hat, so gut wie möglich zu nutzen. Ist immer unterwegs, kommt nirgendwo an. Neue Menschen haben keine Haare am Körper, nur noch ein paar am Kopf, diese aber aerodynamisch gestylt, damit sie ratzfatz von einem Event zum nächsten huschen können. Man nennt das auch Erlebnisorientierung. Und wenn erlebnisorientierte Menschen irgendwo sind, wo man Party machen kann – das sind sie oft –, dann trinken sie mit Vorliebe Getränke mit Zusatz. Wenn es keine Wellnessdrinks mit Traube, Apfelessig, Gingkowurz und Rapsextrakt sein können, weil man abends in Diskos so ein Teufelszeug nicht bestellen kann, dann ist es energylastiges oder ähnlich angloexotisch daherspazierendes Bier. So entsteht eine Aura, die einen umgibt, die reine Quelle des Glücks. Sowohl die eigene Wahrnehmung als auch die der anderen wird plötzlich ganz blumig, ganz rosa, da sehen alle geil aus, da ist jeder potenziell alkopopbar. Eine goldene GetränkeGeneration bemächtigt sich der kahlrasierten Körper. Die Gold-Varianten. Der Markt muss eben alle Wünsche erfüllen, so auch den Wunsch nach Bier, das nicht nach Bier schmeckt, sondern nach Bier, das man eine halbe Stunde im Regen hat stehen lassen. Die Gold-Varianten sind genauso ein Beschiss wie die Alkohol-Mischgetränke, schmecken nach nix oder nur nach Frucht und Zucker, greifen aber neben der Leber auch die Magenschleimhaut, den Kehlkopf und die äußeren Geschlechtsorgane an. Wer so etwas auf Dauer trinkt, wer sich auch nur wünscht, so etwas zu trinken, wird über kurz oder lang eines grausamen Todes
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sterben. Leute, wir sprechen hier von Bier – das schmeckt eben ein bisschen bitter, kein Grund, es mit allem zu mischen, was einem in die Finger kommt. Das ist wie mit Zwiebeln: Alle wollen sie mit ins Essen machen, keiner will sie schneiden. Mensch, wo gehobelt wird, da fallen Späne, und wenn es um Bier geht, sind wir alle Männer, selbst die Frauen; Bier-Mix, ich glaube, es hackt, Bier ist doch kein Sirup, den man einfach verdünnen kann. Aber sicher wird das auch noch kommen, Bier-Sirup, also Bierup beziehungsweise BierUp, das neue Modegetränk, Stärke und Alkoholgehalt selbst wählbar, ihr verdammten weltfremden Arschlöcher, es geht um Bier, das ist wie ein Grundgesetz, das darf man nicht verpfuschen, Reinheit und alles, ich scheiß’ doch auch nicht ins Grundwasser, oh Mann, was ist das für eine stinkende Welt? Ich bin so wütend, ich könnte reimen wie Bushido. Hör zu was ich dir sage, das ist der Jüngste Tag, und wenn du Bier nicht pur trinkst, schaufelst du dein eig’nes Grab. Hör zu was ich dir sage, das ist Apokalyps’, du sägst verfickt krass an dem Ast, auf dem du sitzt. Neue Menschen haben Hobbys wie Zum-Sport-Gehen oder Die-Steuererklärung-Ausfüllen, neue Menschen tragen Knöchelstrümpfe und wechseln ihre Schlüpfer zweimal in der Stunde. Und je mehr sie sich so von ihrem Körper äußerlich und innerlich entfernen im Streben nach der am Horizont auf- und abspringenden Zufriedenheit, desto weniger merken sie, dass sie austauschbar werden. Aber es geht ja weiter, immer weiter. Auf dem Weg der Individualität nimmt man alles mit, was schnell geht und gute Laune macht.
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Beim Kaffee zählt nicht mehr nur das Bohnenaroma sondern die Vielzahl an Attributen, die der Besitzer eines dieser Kaffee-undSnack-Schnellimbisse sich aus den Fingern saugt, super Frappadappacinos mit Zimt, Limette und Kumquatkernmehl. Was ist denn mit Kaffee? Einem köstlichen Kaffee, der schlechten Atem und die Zunge pelzig macht? In diesem Sinne bin ich gerne ein Advokat der Bequemlichkeit, des Althergebrachten, ich bin jemand, der immer in dieselben Restaurants geht, der nie etwas Neues ausprobiert: Seit Jahren trage ich Unterwäsche von H&M, sie passt nicht richtig, kneift ein wenig am Übergang von den Adduktoren hin zu dem, was man gerne »Sack« nennt. Ich trinke meinen Kaffee mit fettarmer Milch und versuche voranzukommen, indem ich mich treiben lasse. Im Gesicht rasiere ich mich nur, wenn ich wirklich muss, der Rest meines Körpers ist für Wilkinson und Braun tabu, da kreuzen sich die Speere meiner unsichtbaren Leibgarde vor den vier Klingen des Teufels, oder vor seinen fünf Klingen, denn der neueste Trend ist so eine obenauf sitzende Klinge, mit der man auch die feinsten Härchen im Nasen- oder Leistenbereich mit einem Wisch wegmachen kann. Für weniger Hautirritation, denn nur XS-Hautirritation weckt XXL-Gefühle. Neue Menschen wissen alles. Sie wissen, zu welcher Tageszeit welche Nährstoffe am besten abbaubar sind, sie haben den Überblick über Politik, Sport, Mode und Bausparfonds. Sie kennen ihre Rentenversicherungsnummer auswendig und sind Mitglieder in allen Wir-bleiben-Freunde-Internetangeboten, die es gibt. Beim studiVZ kennen sie Leute von der Hochschule Mittweida und sind auf vierhundert Fotos verlinkt. Wow. Und wenn sie keine Beziehung haben, dann doch wenigstens eine Traube von Leuten, mit denen sie am laufenden Band Frappadappacino trinken gehen. Allein dass sie früher sterben, wissen sie nicht. Sie unterschätzen auf fatale Weise die Aufgaben und Möglichkeiten der Körperbehaarung: Absorption von Sonnenlicht zur Steigerung guter Laune, Hilfe beim Verkrusten von Wunden, Schutzfilm gegen Viren aller Art – euch brauche ich das nicht zu erzählen.
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Sie werden sich, wenn die Zeit gekommen ist, wie die Nacktmulle missmutig in Höhlen zusammenscharen, übereinander krauchend und krösend, während wir anderen Affen ganz gemächlich, aber doch im Vorwärtsgang auf sonnigen Pfaden dahinswingen.
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