SONAR
Voland & Quist
EURO 19,90 (D) ISBN 978-3-938424-81-0
Das mit den Cowboys hatten wir unserem Vater zu ver足danken. Er hatte damit an足gefangen, es war irgendwie seine Geschichte.
*** Ich fand jede Menge Schlafmittel auf dem Boden unter dem Küchenschrank: Xanax, ein bisschen Prozac, Normabel, Praxiten, Portal und Apaurin, alles in einer Schachtel mit der Zahl 505 und einem Strich, zusammen mit Plastern, Schmerztabletten und Halspastillen. Sie hatte sie nicht einmal versteckt, wie meine Schwester vermutete – oder aber Ma wusste, dass ofenkundige Verstecke die besten waren. Letzten Winter hatte sie alles in den Müll geworfen, das hatte ich beobachtet. »Wie kommt sie bloß da dran?!«, schnaubte die Schwester wütend. Das ist kein Problem, dachte ich. Das halbe Studentenwohnheim war auf Wodka oder Wein in Kombination mit Valium, Beruhigungsmitteln und anderen Sachen, die man angeblich nur auf Rezept bekam. Sie waren billiger als Bonbons. Ein Rasta aus dem ersten Stock hatte immer eine Tüte voll dabei, nach dem Prinzip: »Greif rein, und was du in der Hand hast, gehört dir«, hatte mir eine Mitbewohnerin erzählt. »Das Problem ist, dass jeder Gaul, der keine Lust hat, sich die Haare zu waschen, meint, ein Rasta zu sein«, erinnere ich mich gesagt zu haben. »Lass ihr das Lorisan zum Schlafen«, ermahnte mich meine Schwester. »Den Rest, den du indest, kannst du in die Toilette schütten.« Ich zog mehrmals die Spülung, eine hartnäckige blaue Prozac-Tablette kam immer wieder hoch. Dann war auch die weg. Ich sitze auf der Schaukel auf dem Balkon und sehe über die Dächer hinweg. Von der Straße grüßen mich Nachbarn und ich winke ihnen zu. Als sie auftaucht – zuerst ein Minus, dann ein Maulwurf – von Westen, hinter dem Haus des Bäckers, winke ich ihr ebenso zu. Schon in der Tür sage ich: »Ma, ich habe beschlossen, eine Zeit lang zu bleiben. Kannst du Daniels Sachen aus meinem Schrank räumen?« 15
Sie steht in der Toilette vor dem Waschbecken und seift sich unter dem heißen Wasserstrahl lange die Hände ein. »Ja«, antwortet sie, dreht den Wasserhahn zu und trocknet die Hände mit einem rauen Frotteehandtuch. »Es hat keinen Sinn, im Sommer Blumen hinzubringen, das vertrocknet alles, nach einem Tag ist schon alles vertrocknet«, sagt sie nachdenklich.
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Mein Zimmer ist eine Schachtel in einem Schachtelhaus. Über dem Zimmer beindet sich das Bad, sodass feuchte Flecken durch die frische Farbe an der Decke dringen. Das Bett hinter dem niedrigen Schrank ist eine noch kleinere Schachtel. Die nächste Schachtel bin logischerweise ich. Die kleinste Schachtel, ein Schächtelchen, ist meine Möse. Bevor ich schlafen gehe, stelle ich eine Schachtel in die andere, und in die letzte räume ich alles, woran ich gern denke und was mich beruhigt. Wie das Betreten einer leeren sauberen Küche, in der der Kühlschrank surrt, das Geräusch eines abhebenden oder landenden Flugzeugs, etwas Warmes mit neutralem Geruch, wie ein trockener Kinder- oder Katzenkopf, das Beschnuppern von Fingerkuppen, die zufällige Berührung eines Unbekannten, unerwartete absichtslose Berührungen; Halluzinationen bei klarem Verstand – dass ich der weiße Inhalt einer Kapsel bin oder saure Milch, die in einem Stück ausgegossen wird. Doch wenn ich zu lange wach bin, tauchen in der Schlalosigkeit, die zu einer Art Verwirrung und Qual wird, jene Bilder in beschleunigter Abfolge auf. Ich weiß, dass es sich um die Bilder eines Amateur-Pornos handelt, den jemand aus dem Internet heruntergeladen hatte und an den ich bei einer Party vor zwei, drei Jahren geraten bin. Sie haben sich in meinem Bewusstsein festgesetzt, erschöpfen und quälen mich, denn besonders ekelerregende Bilder haben die Angewohnheit, immer wieder zurückzukehren und nicht zu verblassen, merkte ich. Auf manchen Partys war es üblich, in den frühen Morgenstunden solche Amateurilme zu zeigen, von irgendwelchen Seiten heruntergeladen, nichts Illegales angeblich, auch wenn ich das nicht beschwören würde. Die Anwesenden waren bemüht, sich über die zwei, drei oder fünf Menschen mit den spielfreudigen Geschlechtsteilen auf dem Bildschirm lustig zu machen. Meist verließ ich das Zimmer schon zu Beginn der Projektion, aber diesmal blieb ich bis zum Schluss, denn meine Aufmerksamkeit wurde vom Gesicht des Hauptdarstellers gefesselt. 22
Die Aufnahmequalität war nicht besonders, in dem Zimmer war es ofensichtlich zu dunkel gewesen. Wahrscheinlich hat das jemand mit dem Handy geilmt, dachte ich damals. Es beginnt mit dem Gesichtsausdruck eines Mannes, der einen mageren weißen Körper besteigt, jemand mit großen kräftigen Händen. Das Gesicht des Stechers, das ich nicht gut erkennen kann, ist verschwommen, aber ofensichtlich dem Weinen nahe. Die Person unter ihm bewegt nur ab und zu die Hand oder das Bein und gibt ein kaum hörbares Geräusch von sich, ein Stöhnen. Im zweiten Bild sind die schmalen Hüften der anderen Person zu sehen, eines Jungen oder Mädchens, das kann man nicht genau erkennen: entblößte und geschlossene Schenkel, zwischen die ein dünner Stachel dringt, der Rüssel eines großen Männchens. Das dritte Bild zeigt einen jungenhaften Hinterkopf mit kurz geschorenem Haar und eine große fette Hand, die auf ihm liegt: Das Gesicht der Person, die der Große ickt, ist in ein Kissen gedrückt. Das vierte Bild bewegt sich kaum merklich: Mit der einen Hand hält der Hengst das Objekt seiner Begierde an der Schulter oder am Hals, wahrscheinlich zu fest, und drückt es langsam nach unten, greift tiefer, zieht es an sich heran und stößt es und weint immer heftiger und lauter, um schließlich zu schluchzen und zu wimmern. Sein Weinen ist es, was man unmöglich vergessen kann, besonders wenn man es will. Ich kann keinesfalls behaupten, dass mich diese Bilder erregten, sie beunruhigten mich vielmehr. Manche Bilder prasseln auf mich nieder wie ein Regenguss: so wie die Bilder dieses riesigen Mannes, der gleichzeitig kam und weinte und dessen Gesicht sich meiner Erinnerung entwindet. *** Schweißperlen bahnen sich ihren Weg die Rippen hinab, ich halte sie mit den Fingerkuppen auf und verteile sie auf dem Bauch. Ich drehe das Kissen auf die trockene Seite, stecke meine Hand 23
zwischen meine Schenkel und versuche mich zum Geruch meines Schoßes hin zusammenzurollen. Als Kind schlief ich davon ein. Schließlich gebe ich den Versuch, einzuschlafen, auf, ziehe das feuchte Hemd aus, zünde mir eine Zigarette an und setze mich ins niedrige Fenster der Sommerküche, sehe nach oben, in die blaue Lücke über der Straße, von wo statt frischem Nachttau ein feuchter, wabbeliger Pudding herabgeglitten ist. Nur Schnarchen ist zu hören – unterbrochen von Flüchen, quietschenden Federn, nervösem Gliederzucken aus den Löchern der Nachbarhäuser – und eine Katze, die durch ihre winzigen Nasenlöcher ausatmet. Irgendjemand hat vergessen, seinen CD-Player auszuschalten, der nun in regelmäßigen Abständen einen dünnen Piepston von sich gibt. Die dicke Stadt schläft im Fieber, dämmert. Es ist beinahe sechs, doch draußen ist es wärmer als drinnen.
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Im Rahmen eines Freiwilligenaustauschs gleich nach dem Krieg verschlug es einen altklugen Studenten aus Heidelberg zu uns. Er befragte uns für seinen Studentenradiosender zum Nachkriegsleben junger Leute in Kroatien. »Ihr lebt in einem multikulturellen Land …«, begann er. »Das tun wir nicht«, sagte ich deutlich ins Diktiergerät, als wäre es ein Mikrofon. »Ich weiß, was er meint«, mischte sich meine Schwester ein. »Es gibt hier verschiedene Völker, in unserer Straße leben in jedem Haus mindestens zwei Völker, aber das ist alles dieselbe erbärmliche Kultur, wenn du mich fragst. Nur die Chinesen können uns vor der Langeweile retten.« Meine Schwester war auf ihre Art vom Geist des Internationalismus durchdrungen. In unsere enge Gasse waren bald Engländer und Niederländer gezogen, Belgier und Franzosen – ich glaube, Chinesen inden Armut nicht unbedingt romantisch. Es war faszinierend zu verfolgen, wie Behausungen aus Steinen, die Zement und Vogelmist zusammenhielt, und aus Balken, durch die sich Würmer bohrten und in denen Mäuse nisteten, zu Bilderbuchhäusern wurden. Menschen mit viel Zeit und Geld machten daraus Schmuckstücke. Alle Chinesen, die ich kennengelernt habe, leben in Hochhäusern, dachte ich. Es gibt Leute, die das Solide der Konfektionsware schätzen, das kann ich gut nachvollziehen. Das sind Menschen aus Orten wie unserem, egal wo auf der Welt. »Hey«, sagte meine Schwester zu dem Jungen aus Heidelberg und schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter, »wenn wir vor dem Krieg mit Touristen gespielt haben, waren die kleinen Deutschen und Italiener Deutsche und Italiener. Einer hat deswegen sogar mal geheult.« »Und im Krieg? Und danach?«, er hustete und hielt mir das Diktiergerät hin. »Was weiß ich. Niemand hat die Balkankriege gespielt, wenn du das meinst. Tja, alle wollten Kroaten sein.« 30
»Yep«, bestätigte meine Schwester. »Deshalb haben wir Cowboy und Indianer gespielt.« »Mit dem Schienenclan.« »Gegen den Schienenclan. Es muss einen Konlikt geben: Cowboys und Indianer.« »Yep.«
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Die Frau im Film, den Ma und meine Schwester gesehen haben, wird wahnsinnig, als ihr Kind stirbt. Das erzählt Ma, als sie sich endlich neben mich setzt und sich eine Zigarette anzündet. »Und als nach einiger Zeit der Schmerz verschwand, hielt diese Frau, eine vornehme Frau, wenn auch verrückt, einen Mann am Weg an, einen Passanten und fragte ihn, ob sie am Leben sei.« »›Lebe ich?‹, fragte sie ihn«, wiederholt Ma gedankenverloren und zupft sich trockene Blütenblätter vom Kleid. »Was ist dann aus dieser Frau geworden?«, will ich wissen. »Wie meinst du das, was aus ihr geworden ist?«, sagt Ma. »Kennst du jemanden, der wieder unverrückt wurde?!« Als wir nach Hause kommen, sehe ich, dass auf den Stufen vor dem Haus noch alle Winterschuhe stehen, die sie noch putzen wollte, und jetzt braten sie in der Sonne. Dazwischen sind auch Männerstiefel, Collegeschuhe und Turnschuhe, obwohl sich in diesem Haus vor vier Jahren zuletzt ein Mann die Schuhe ausgezogen hat. Zwei Paar Schuhe auf jeder Stufe, von der fünfzehnten bis zur dritten, als stiege zufällig gerade eine Gruppe Menschen in Zweierreihen herab. Zu einem Begräbnis, einer Prozession oder Hochzeit oder so etwas. *** Daniel, mein Bruder, ist im achtzehnten Lebensjahr umgekommen, als er sich vor den Intercity Osijek-Zagreb-Split warf. Er stürzte sich von der Betonüberführung auf das Gleis, an einem frühen Wintermorgen. Den Körper fand man zwanzig Meter weiter, im Weinberg. »Das Blut war überall hingespritzt, auf die Bäume und die gefrorenen Weinblätter«, sagten die Leute, die in den ersten Wochen zum Unglücksort gepilgert waren und hinter dem Andreaskreuz Plastikrosen und Lichter aufgestellt hatten, die so lange lackerten, wie die Batterien hielten.
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EURO 19,90 (D) ISBN 978-3-938424-81-0
Das mit den Cowboys hatten wir unserem Vater zu ver足danken. Er hatte damit an足gefangen, es war irgendwie seine Geschichte.