Leseprobe Roman Simic, Von all den unglaublichen Dingen

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Sonar 12


Roman Simić ist Autor und Herausgeber sowie Organisator und Programmdirektor des renommierten Festival of the European Short Story. Zweimal erhielt er den Goran-Preis für junge Dichter, er war Stipendiat des Literarischen Colloquium Berlin und der Stadt Graz. Seine Erzählungen wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, 2007 erschien sein Erzählband »In was wir uns verlieben« (Voland & Quist) auf Deutsch. »Von all den unglaublichen Dingen« wurde von der kroatischen Tageszeitung Jutarnji list als das beste kroatische Prosawerk 2012 ausgezeichnet.


Roman Simić Von all den unglaublichen Dingen



Ostwärts

Stets gegen den Strom, sage ich, sommers Richtung Norden, im Winter auf die Inseln, keine Staus, keine Menschenmassen, wer in einem Reisebüro arbeitet, lernt den Tourismus hassen, oder es ist angeboren oder eine natürliche Reaktion auf die ganzen ausgelatschten Pfade und die in Meer und Himmel gestanzten Korridore; wenn alles über dieselben Linien läuft, nutzt es sich schneller ab, sagt Gita, und Kinder sehen so etwas viel eher und man muss ihnen glauben. Wir zwei auf Reisen, das ist eine Geschichte für sich, Küsse und Bisse, Liebe und Hass, manchmal reden wir tagelang nicht mitein­ander, dann wieder sehe ich sie an und finde, dass sie das 105


Größte ist, das Beste, was mir im Leben gelungen ist, und ich wünschte mir, ich könnte auf sie warten, mit ihr und einer Flasche Hochprozentigem im Schatten als Vierzigjährige beisammensitzen und ihr alles erzählen, alles, was sie bis zu diesem Punkt geführt hat, von der Pension auf Cres bis zur Pension auf Bali, von dem dickköpfigen Spermium bis hierher, meine ganzen Spinnereien, die ganzen Schoten ihres idiotischen Vaters; nicht, dass ich im Moment viel verschweigen würde, aber trotzdem, es ist was anderes, du willst sie nicht entmutigen, sie soll eine Chance haben. Reisen mit einer Fünfzehnjährigen: Keiner kann dir die Welt so zeigen, unglaublich, was die für Augen haben! Wir sind seit einer Woche hier, ein Mann, Made, führt uns für einen Dollar zum Fluss, für einen Dollar ans Meer, für einen Dollar an Plätze, von denen du nur träumen kannst, nur er und wir zwei, manchmal kommt sein Sohn mit, ein Junge, der nicht reden, aber wie ein Vögelchen vor dem Herrn pfeifen kann: Wie viel Leben für einen Dollar, Made, sagt Gita; er runzelt die Stirn, denkt wahrscheinlich, wir wollen ihn runterhandeln, bleibt stehen und steigt in die Verhandlungen ein, nein, nein, sage ich und zeige lachend: Alles in Ordnung, Made, ein Dollar für alles ist mehr als akzeptabel. Aber manchmal denke ich, ich sollte mich zu Hause verschanzen, einfach zu Hause bleiben und es gut sein lassen. Reisen heißt nicht unbedingt Bewegung, habe ich mal gelesen, Bewegung wird überschätzt, Bewegung ist Tourismus, und wir meiden den Tourismus und die Sonne und das Meer und kochen in einem Schuppen und sehen im Hotelzimmer fern und heulen im Klo zu Hause in Zagreb; manchmal ist es am besten, immobil zu sein, gegen den Strom zu schwimmen, nicht zu verreisen. Aber das hält nicht lange vor. Stillsitzen und Rumliegen sind Luxus, das kannst du dir nur leisten, wenn du allein lebst, krank oder reich bist, und das sind wir nicht, und Gita tröstet mich und fragt mir Löcher in den Bauch, und dann ödet es sie an und sie verlässt mich, verlässt den 106


Raum, in dem wir gerade immobil sind, und ich höre sie draußen lachen und tanzen und alle Vögel des Herrn zwitschern, ich höre die Sonne und den Wind und die Wolken meiner Tochter, und so fange ich mich und gehe auch hinaus, bewege mich. Und ich lerne nette Menschen kennen, wirklich, jeder gibt dir was, eine Geschichte, einen Blick oder was immer du für dich her­ ausholst. Made zum Beispiel schweigt schön. Ich beobachte, wie er den Weg freischneidet oder Feuer macht oder sich hinhockt und uns heimlich beim Baden zuschaut oder seinem Jungen die Schildmütze zurechtrückt, der ist auch schön anzusehen, erfüllt, er sieht nicht so aus, als würde ihm etwas fehlen, am wenigsten Worte. Ich meine: Weder der Machu Picchu noch Petra oder die Höhlen des Himalaya werden dich bezaubern, ohne dass du mit Menschen Zeit verbringst! Gott sprach: Sonne dich, sagte der ehemalige Geistliche aus Adelaide und lachte, während er mit nacktem Oberkörper unseren Kombi auf der staubigen Straße nach Ubud reparierte, und also sonne ich mich. Die Slowenin, die wir an einem wildromantischen Strand trafen, verglich sich mit einer Kellnerin, die mit zwanzig eine Tasse Kaffee pro Tablett trug und pro Jahr eine dazubekam, und jetzt bin ich fünfzig und habe mein Leben lang anscheinend nur balanciert und gebangt. Ich weiß nicht mehr, ob sie einen Traum wiedergab oder von Gefühlen sprach, sie erzählte es mit ihrem komischen Zungenschlag und weinte, und dann saßen wir da und sahen ihrem Mann und dem Sohn auf glänzenden Surfbrettern zu, schöne, lachende Männer, Halbgötter, die die Welle jagten und sich verausgabten, um sie zu reiten, wer weiß, denke ich, vielleicht fühlte sie sich genauso. Wenn wir schon bei Zeichen sind: Heute morgen ist uns ein Habicht vor die Füße gefallen, ein richtig großer Vogel. Er war ein Punkt im Notizbuch des Herrn, dem Himmel, und dann ging irgendetwas schief und er fiel herunter, er stürzte ab und knallte genau vor meinen Füßen auf die Erde. Ich hörte nur ein Pfeifen 107



Also sprach Majakovski

Kein Zweifel: Zazu Majakovski war verrückt. Seine Bekanntschaft machte ich im Irrenhaus, sah ihn dort im Flur randalieren, sah, wie ihn drei kräftige Pfleger zusammenfalteten, als wäre er eine Klappliege, und in eine Zwangsjacke steckten, aber selbst wenn das alles nicht gewesen wäre, der bloße Name genügte: Nicht einmal in der Spätphase des selbst verwalteten Sozialismus, nicht einmal am Ende der goldenen achtziger Jahre nannte sich ein vernünftiger Mensch Zazu Majakovski! Damals gab er den Dichter, und was er draußen getan hatte, setzte er im Irrenhaus fort, nur hieß es dort Therapie. Auf Toilettenpapier verfasste er düstere Poeme, Gedichte mit Titeln 159


wie Eisdusche, Elektroschocks, Einzelzelle, und jede Menge Haikus, die mit den Namen von Sedativa anfingen. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass ihm das in bestimmten Kreisen zu Berühmtheit verhalf. Es hieß, Majakovski sei alles, nur nicht psychisch krank – man sprach von innerem Exil, Protest gegen ein repressives Regime – und fast jeden Tag kam einer aus der Stadt angewackelt und las das Gekritzel den versammelten Insassen vor, seufzte und zeigte sich erkenntlich, wovon letztlich auch die Wärter profitierten: Sie erbeuteten Zigaretten, Frauen, Alkohol, durch die Bank billig, aber für lau. Einer räumte mir gegenüber sogar mal ein, dass sie den Poetenzirkus mit kleinen Vergünstigungen förderten: ab und an auf Prügel verzichteten, hie und da ein bisschen Schokolade … klingt unwahrscheinlich, aber so waren die Achtziger, Sozialismus und Selbstverwaltung; selbst psychiatrische Krankenpfleger fanden es sinnvoll, in Poesie zu investieren. Ich besuchte Majakovski ebenso regelmäßig wie unfreiwillig, ein Delegierter mit unsicherem Mandat: der neue Freund seiner Frau. Ana Majakovska, das klingt wie der Anfang eines Liebesbriefs, und das war es wohl auch: der Anfang eines nur geringfügig anderen Wahnsinns. Natürlich hieß Ana so wenig wie Zazu tatsächlich so, aber es war aufregend, sie so zu nennen: Der geborgte Name stand ihr wie anderen Frauen ein Kleid; er beleuchtete die Fehlstellen, verlieh ihr, was ihr die Natur nicht mitgegeben hatte – Sprödigkeit, und in jenen Tagen war er für uns Liebeslosung und witzige Pointe, wenn unser liebender Ringkampf zu Ende war und wir schweißgebadet und klebrig auf dem Teppich, in dem sich die Milben tummelten, lagen und gen Decke schnauften. Und lachten: Ana Majakovska – mein Mund ist noch voll von deinem Namen! 160


Ana arbeitete in der Schule, sie unterrichtete Sprachen. Nach allen Standards war sie eine attraktive Frau, aber das zwischen uns war keine Liebe auf den ersten Blick. Wir haben uns einfach zu lange in demselben Dunstkreis bewegt, liefen uns immer wieder über den Weg, beide Ende dreißig, beide schon ein bisschen verbeult, stellenweise ramponiert, beide besoffen vor lauter Übermut, was einen Überschuss an Kraft verleiht, der du dir nicht bewusst bist und von der du nicht weißt, was du mit ihr anfangen sollst. Eines Abends saßen wir halt an einem Tisch, eng nebeneinander, und ich sah ihre Füße und, na ja, die Fußnägel. Wenn es in unserer Beziehung einen romantischen Moment gab, dann war es dieser. Hochsommer, offene Biergärten und Sandalen, Anas Fußnägel glitzerten, weil transparent lackiert, silbrig, annähernd mandelförmig, ihre Zehen waren schön und lang, die Füße so anmutig wie ein verheißungsvoller Sternhaufen, und wir hatten beide ziemlich viel getrunken, vielleicht lag es auch daran. Nun, sich von ein paar Fußnägeln dazu verleiten lassen, den Gatten der Angebeteten im Irrenhaus zu besuchen, das bringe nur ich fertig. (Allerdings hatte Ana so ihre Tricks, sie brachte mich zu so einigem, etwa, den Mond anzuheulen oder ihr Salz aus der Hand zu lecken, das und vieles mehr, woran ich jetzt lieber nicht denke.) Auf jeden Fall dauerte es nicht lange, und wir lebten zusammen, waren Mann und Frau auf jede Art außer nach den Buchstaben des Gesetzes, denn nach den Buchstaben des Gesetzes gehörte sie weiterhin Majakovski, und das fand ich quälend, es war eine Lücke, ein Raum, den ich nicht einnehmen konnte, etwas, das ich einem Geisteskranken neiden musste. Denn ich sage es noch einmal: Zazu Majakovski war verrückt, aber Ana wollte, obwohl sie weder blind noch katholisch war, von einer Scheidung nichts hören. Warum ich es nicht als Geschenk annahm, ist schwer zu sagen: Du hast eine schöne Frau und bist zu nichts verpflichtet, das ist 161




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