KAPITEL I Deine Welt bestand immer nur aus dir und dir und dir. Ich habe zu lange nur f체r dich gesungen. Ich war immer der Zwerg an deinem Knie. Und gleichzeitig ist mir klar: Wer so denkt wie ich und es dann auch noch glaubt, ist auch ein bisschen selber schuld an allem. Im M채rchen kennt der Held seine Aufgaben. Dies hier ist kein M채rchen! Einen Helden gibt es trotzdem. Mich. Bela Schmitz.
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Ich packe und gehe Das ist mein erstes Tagebuch. Ich habe das vorher noch nie gemacht, Sachen so aufgeschrieben in dieser Form. Es ist gar nicht so einfach. Manchmal kommt es wie geschossen, und manchmal dauert es ziemlich lange, bis ich weiß, was ich aufschreiben will. Auf jeden Fall: Mein Rucksack steht fertig gepackt an die Wand gelehnt in der Zimmerecke. Er hat eine schöne Farbe, grasgrün. Eine zweite Tasche ist mit Ersatzkleidern gefüllt. Morgen gehe ich. Ich habe mich nun lange genug nur um mich selber gedreht. Und auch das Selbstmitleid! Das reicht jetzt. Es ist so: Ich war zeitweise einfach ein blöder Mann, und eingebildet war ich auch. Ich will, wenn ich mein Tagebuch später lese, über mich nicht sagen müssen, da sitzt einer immer nur in seiner kleinen runden Kugel oder auf seinem kleinen viereckigen Holzstuhl und merkt nicht, wenn sich zwei Meter neben ihm ein anderer auf einen anderen viereckigen Stuhl setzt. Das will ich nicht. Ich will, dass man sieht, dass auch ich zwischen Glück und Pech unterscheiden kann. Ich höre den Wecker und bin sofort wach. Die Sonne scheint, und ich habe das Gefühl, das heute ein besonders guter Tag wird. Ich putze die Zähne. Das geht wie bei einer Maschine, fast wie ferngesteuert. Ein paarmal stoße ich mit der Zahnbürste heftig ins Zahnfleisch. Ich habe zu lange nur auf deine Gefühle gehört, das hat die Beziehung zu dir nur unnötig verlängert. Nachdem du mich verlassen hast, habe ich mich völlig unnötig und lang nur in meinen Gefühlen gewälzt, das hat dann die Trennung noch unnötiger verlängert. Dann ist zum Glück der Cousin mit den goldenen Ringen gekommen, und ich konnte bei ihm behelfsmäßig im ehemaligen Zimmer seiner Tochter wohnen. Ich habe in diesem Zimmer immer gut geschlafen. Der Schlafsack war warm und weich, das Zimmer war dunkel, und ich hörte, während ich in diesem
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fremden Zimmer lag, die Stimmen der verschiedenen Nachbarn immer gut. Es gibt gute Vorzeichen, die irgendetwas ankündigen, das merkt man eigentlich in einer Zehntelsekunde. Wenn die Sonne so wie heute scheint, ist das ganz klar ein gutes Vorzeichen. Alle Vorzeichen, die es zwischen uns gegeben hat, habe ich ignoriert. Ich habe nichts gemerkt. Nur am Anfang, da habe ich natürlich nur gute Vorzeichen gesehen. Ich weiß auch, wir hatten den Schlüssel zu unseren Herzen, und wir haben alles aufgemacht! Das war keine große Tat. Ich rolle den Schlafsack zusammen, stopfe ihn in den Rucksack und gehe in die Küche. Ich suche leise den letzten Apfel im Kühlschrank. Ich will den Cousin mit den goldenen Ringen nicht wecken. Ich schreibe ihm einen Zettel zum Gruß. Mein Lieber, ich bin ab heute unterwegs, ich hatte eine Idee. Schick mir bitte die Sporttasche, die im Zimmer auf dem Boden steht, später nach. Ich werde dir noch schreiben, wohin. Liebe Grüße Bela (und danke für alles) PS: Ich weiß jetzt wieder, was ich kann und was nicht. Danke, dass ich eine Weile ein Maulwurf sein durfte, der mit kleinen Augen halb blind in der Erde gewühlt, ein System von Gängen angelegt und Hügel aus Dreck aufgeworfen hat. Danke, dass du über meine Dreckhügel gestolpert bist, ohne zu fluchen. Ich lege einen weiteren Zettel auf die Tasche. „Frische Kleider“ schreibe ich drauf und sehe den Cousin mit den goldenen Ringen, wie er zur Post geht, und ihn die Frau hinter dem Schalter fragt, ob er das wirklich alles schicken wolle, was da drin sei, das sei ja alles
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unglaublich schwer. Und ich sehe, wie der Cousin dann Jajaja sagt und dass das alles ganz wichtige Sachen seien und das Gewicht überhaupt keine Rolle spiele. Ich weiß nicht, wohin ein Blatt fliegt, das vom Wind von einem Baum gerissen wird. Niemand weiß das! Ich weiß nur, dass ich Richtung Süden gehen werde. Sobald ich einen Fluss finde, werde ich ihm folgen. Den Grußzettel lege ich zusammengefaltet auf den Küchentisch. Ich stelle eine leere Tasse drauf, der Zettel ist widerspenstig, die Tasse fällt um. Bevor ich gehe, setze ich für den Cousin Kaffee auf, damit er vom feinen Geruch geweckt wird. Ich fotografiere mich zum Abschied mit dem Apfel in der Hand vor der Wohnungstüre. Es ist ein schönes Bild! Du hast mich verlassen! Ich bin hart aufgeschlagen, das ist die einfachste Diagnose! Dann war ich wie gelähmt. Ich kann mir gefährliche Stufen einfach nicht merken. Ich bin blind dafür. Mit größtem Vergnügen und größter Wahrscheinlichkeit werde ich noch ein paarmal in meinem Leben eine Treppe hinunterstürzen. Ich verlasse die Wohnung, trete auf die Straße und kontrolliere mein Portemonnaie. Ich habe sehr schöne goldene Visitenkarten drucken lassen. Bela Schmitz – Pilger Ersten Grades Der Fuß ist kurz, der Weg ist lang. Auf der Rückseite der Visitenkarte steht: „Das Gehen bringt das Gute und das Schlechte in dir an den Tag. Bei großer Anstrengung zeigt jeder früher oder später sein wahres Gesicht.“ Japanische Pilger, die eine bestimmte Reise mehr als fünfzig Mal gemacht haben, werfen in jedem Tempel, den sie besuchen, bei jedem Etappenziel und überall, wo sie länger Rast machen, eine solche goldene Visitenkarte in einen Kasten. Wenn normale Pilger an einem solchen Etappenziel ankommen, wühlen sie als Erstes
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immer sofort in den Kästen und hoffen, dass sie eine goldene Pilgervisitenkarte finden. Ich lege dem Cousin mit den goldenen Ringen zwei Pilgervisitenkarten in den Briefkasten. Er wird die Karten später herausfischen, den Kopf schütteln und einen leisen Fluch fahren lassen. Bela, Bela, Bela, wird er sagen. Und: verdammter Spinner! Ich schaue kurz in den dunklen Schlitz, die Visitenkarten sind gut unten angekommen. Ich klingle, damit der Cousin ganz sicher aufwacht und der Kaffee nicht überkocht oder verbrennt. Dann gehe ich! Ich hätte mir nach und nach alle Haare vom Kopf reißen können, du hättest mir trotzdem nicht zugehört. Du warst nicht neugierig. Ich hätte einen Fön so lange laufen lassen können, bis er glühte und ich in die Hölle hätte übersiedeln können, und ich hätte mir diesen Fön dann auf die Stirne drücken und es hätte nach verbranntem Fleisch riechen können. Es hätte nichts genützt. Ich hätte mir zusätzlich dann noch die verbrannte Nase aus dem Gesicht schneiden müssen, damit du davon Notiz genommen hättest. Am Bahnhof kaufe ich eine große Dose Bier, Bienenhonig und fünf Kilo Birnen, und ich brauche verlässliches Kartenmaterial. Ich sehe eine große Kiste Pfirsiche, die ich mir ebenfalls gerne kaufen würde, ich weiß aber nicht, ob ich auf meiner Wanderung alles innerhalb entsprechender Frist essen kann. Im Bahnhofsbistro sitzen ein paar alte Männer, die ihre Köpfe auf die Tischplatte gelegt haben. Ich möchte noch einen Kaffee trinken, bevor ich in den Zug steige. Ich gehe zu einem dieser schlafenden Männer. Er wacht auf und bestellt bei mir in ohrenbetäubender Lautstärke ein Paar heiße Würstchen. Ich kann dem alten Mann nicht erklären, dass ich selber auch nur Gast bin und deshalb seine Bestellung nicht aufnehmen kann. Er versteht es nicht und wiederholt stur, was er essen will. Ich gehe an die Theke und bestelle beim richtigen Kellner ein Paar heiße Würstchen, Senf und zwei Scheiben Brot für den alten
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Mann. Ich warte mit dem Kaffeetrinken, bis man ihm das Bestellte an den Tisch bringt. Der alte Mann rührt nichts an, steht auf, verlässt das Bahnhofsbistro und kommt erst nach zwanzig Minuten wieder zurück. Er bewegt sich erstaunlich flink, trotz seines großen Bauches. Er setzt sich zurück an den Tisch, als wäre er nie weg gewesen, hält den Finger auf eins der Würstchen und sagt zu mir: „Das ist ja kalt, das ist ja ganz hart, das ist ja schlimmer als beim Militär, ich muss morgen wieder in die Kaserne, wärmen Sie das auf! Ich will, bevor ich morgen wieder zum Militär muss, noch einmal gut und warm essen!“ Ich versuche dem alten Mann noch einmal zu erklären, dass ich nicht der Kellner, sondern selber auch nur Gast sei. Ich lege ihm eine meiner Pilgervisitenkarten neben den Teller und frage ihn nach seinem Namen und seiner Adresse. Klaus Rupprecht, sagt der alte Mann. Seine Adresse brüllt er, so dass das ganze Bahnhofsbistro zu uns schaut. Jetzt lächelt er. Die Würstchen seien doch nicht so kalt, wie er gedacht habe, und natürlich müsse er nicht mehr in die Kaserne. Im Altersheim sei es aber zeitweise schlimmer als in einer Kaserne. Das sei kein Witz! Sie müssten vor jeder Mahlzeit gemeinsam „Freude, schöner Götterfunken“ singen, und die Altersheimleitung verlange sogar noch für normales Leitungswasser Geld. Und weil er einmal rebelliert habe gegen diese Abzockerei, hätten dann alle Altersheimbewohner eine zweistündige Predigt des Altersheimpfarrers über sich ergehen lassen müssen, mit Inhalt: Isaak habe in biblischer Zeit lebenswichtige Brunnen eingeweiht, die zum Zankapfel zwischen den verschiedenen Stämmen wurden. Und es sei doch im 21. Jahrhundert normal, dass man für das blaue Gold, das bis zur Grenze ausgeschöpft werde, eine Gebühr erheben müsse. Ich verspreche dem alten Mann, von unterwegs mindestens zwei Postkarten zu schreiben, und verabschiede mich. Ich setze mich in den ersten Zug Richtung Süden, öffne die Bierdose, trinke, fühle mich bald schwer wie ein Walfisch, der versucht, auf einen Eisberg zu steigen, wie ein Walfisch, der nicht tief im Meer schwimmen kann, sondern nur an der Oberfläche.
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Ich schließe die Augen, mache meinen Mund zu, meine Flosse lasse ich unter Wasser, so sehe ich ungefähr aus wie ein großer Fels. Ein Mann geht langsam am Zug vorbei und lacht, ich winke. Der Mann winkt nicht zurück. Ich drücke während der Zugfahrt auf der leeren Bierdose herum und versuche, daraus eine Skulptur zu machen, die der Freiheitsstatue ähnlich sieht. Ein Mann schräg gegenüber hat mich die ganze Zeit beobachtet. Als ich ihn anschaue, schaut er weg und denkt sicher, ich hätte eine schlechte Erziehung genossen. Ich gebe dem Mann eine Pilgervisitenkarte. Der Mann liest die Karte aufmerksam. Ich erzähle, dass ich schon als Kind solche Skulpturen gemacht habe. „Als Jugendlicher habe ich einmal sogar eine ganze Ausstellung selber organisiert.“ Der Mann nickt. „Ich habe vor der Vernissage zu viel getrunken, aus Freude. Dann wurde mir übel, und mein Vater hat versucht, mich im Auto ein bisschen in der Gegend herumzufahren, damit ich wieder nüchtern werde. Auf der Fahrt habe ich die ganze Rückbank vollgekotzt und musste weinen.“ „Ist es eine gute Ausstellung geworden?“, fragt der Mann und steckt die Pilgervisitenkarte in sein Portemonnaie. Ich nicke und erzähle, dass eine Kollegin aus meiner Schulklasse zur Eröffnung auf der Flöte ein Lied gespielt habe, den „Schlüsseltanz“. Weil ich oft meine Schlüssel verlor und dann einen Tanz aufführte, wenn ich sie wiederfand. Der Mann schüttelt den Kopf. Er muss etwas lachen über meine Geschichte. „Sie müssen eine sehr glückliche Kindheit gehabt haben“, sagt er, schaut mich an und widmet sich dann wieder dem Fenster. Ich warte ein bisschen. Schaue auch aus dem Fenster und bitte den Mann um seine Postanschrift und seinen Namen. „Ich kenne Sie doch kaum, wieso wollen Sie meine Adresse?“ Mir fällt zuerst keine Antwort ein. Der Mann schaut wieder aus dem Fenster.
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„Damit Sie mich besser kennenlernen können. Ich könnte Ihnen von unterwegs schreiben, dazu wäre Ihre Adresse ganz nützlich!“ „Paul Lendel“, sagt der Mann schließlich und gibt mir seine Adresse ohne Widerrede. Ich lasse ihn in Ruhe und schaue auch nicht mehr in seine Richtung. Der Zug fährt weiter aus der Stadt hinaus, die Landschaft beginnt. Ich reiße aus der Verpackung, in welcher das Glas mit dem Honig steckt, zwei Behelfspostkarten. Eine schreibe ich an den Cousin mit den goldenen Ringen, eine an den Mann aus dem Bahnhofsbistro. Mein Lieber, ich habe den einzigen Apfel, den du noch zu Hause hattest, mitgenommen. Entschuldige. Ich werde ihn bald essen und an dich denken. Ich grüße dich herzlich Bela
Lieber Herr Rupprecht, wir haben uns kürzlich im Bahnhofsbistro getroffen. Ich schicke Ihnen ein kurzes Gedicht. Zum Frühstück gönne dir: eine kalte Wurst und eine Flasche Bier. Ich grüße Sie sehr herzlich und hoffe, dass es Ihnen im Altersheim gut geht. Ihr Bela Schmitz
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Der Zettel Bela Schmitz lag im Bett und atmete langsam. Er wollte zur Türe, spürte aber dauernd harte Schläge von innen an die Schädeldecke, verlor das Gleichgewicht, fiel wieder zurück ins Bett. Er versuchte noch einmal aufzustehen, stützte sich an Tisch, Türrahmen und Kleiderständer ab und bewegte sich langsam durch die Wohnung. Bela blieb an die Wand gelehnt stehen, kniff sich in die Wange, schlug sich schließlich die flache Hand ein paarmal ins Gesicht, öffnete die Wohnungstüre und horchte ins Treppenhaus. Nichts. Mit roten Wangen, wie wenn er zu lange in eisiger Kälte herumspaziert wäre, stand er im Zimmer und begann sich die Stirn zu reiben. Zuerst mit der Handfläche, dann mit dem ganzen Arm. Dann sah Bela den Zettel auf dem Tisch. Er hielt sich die Hand auf den Bauch, während er den Zettel mehrmals langsam las. Er begann zu zittern, schob Stühle an den Tisch heran und wieder weg, schlug auf den Kleiderschrank ein, drehte am Wasserhahn, hielt die Hände unter den kalten Strahl und vergaß für einen Moment, wo er war, ging zurück zum Kleiderschrank und trat mit dem Fuß gegen dessen Türe. Bela musste mit beiden Händen das eingebrochene Holz herausbrechen, so verkeilt hatte sich sein Fuß im Kasten. Er schrie laut den Vornamen der Frau in die Wohnung. Er las immer wieder alle Buchstaben, die auf dem Zettel standen, der Reihe nach. Wie ein Kind, das den neu gelernten Zeichen, die es zu Worten zusammensetzen sollte, nicht traute. Verschwinde aus meinem Leben! Ich gebe dir eine Woche Zeit! Ich weiß alles über dich! Mach deine langweiligen Pirouetten in Zukunft allein. Du bist nichts weiter als ein ordinäres Arschloch. Alles an dir ist negativ.
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Bela las die Sätze immer und immer wieder. Von links nach rechts, dann von rechts nach links und schließlich von beiden Enden gleichzeitig, ohne den Zettel anzufassen. Dann begann er mit dem Finger Muster auf den Zettel zu malen und verband die Abstände zwischen den Worten. Bela hoffte, dass es irgendwo in der Wohnung noch einen zweiten Zettel gab, auf welchem zu lesen stand, dass die Frau ihn über alles liebte und dass nichts auf der Welt sie je trennen könnte. Es gab keine solche Mitteilung. Die Frau hatte auf jede freie Fläche in der Wohnung eine Vase gestellt und in jede Vase Blumen in diversen Farben gesteckt. Die Blumen und das gespenstische Licht verschlugen Bela den Atem. Es kam ihm vor, als wäre er an seiner eigenen Beerdigung und als wäre er der einzige Anwesende. Bela kannte eine Geschichte von einer anderen Frau, die ihren Mann umgebracht und mit dessen letztem Urin noch einmal alle Pflanzen gegossen hatte. Den Notarzt hatte diese Frau zuerst auf eine Hirnblutung tippen lassen. Die Polizei wurde erst skeptisch, als die Frau den Notarzt darum bat, dem Mann die Augen gut zu verschließen, gut zu verkleben, damit der Mann beim Transport nicht noch einmal seine Augen öffne. Bela suchte den eigenen Puls und sagte laut: Liebe Sonne, mach mir ein lebendiges, warmes Gesicht. Mach, dass das alles nicht stimmt. Schenk mir einen Ofen, der mir Wärme gibt. Dann wurde ihm übel, er griff sich an den Bauch, rannte ins Bad und kotzte heftig. Bela stand lange mit weißem Gesicht vor dem Spiegel, begann sich die Hoden zu massieren und fühlte sich bald wie in einer weichen, warmen Kugel, in der sich alles drehte. Bela wünschte sich, mit der Frau Rücken an Rücken zu stehen, ohne dass er Angst haben musste, dass sie plötzlich in großen Schritten nach Norden, Süden oder Osten von ihm wegrennen würde. Bela senkte den Kopf auf seine Brust, fuhr mit den Händen über seine Rippen und zählte sie sorgfältig. Er wollte ein Loch in den Nebel blasen, der ihn umgab. Er sehnte sich danach, dass
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die Frau ihm den Bauch tätschelte und sagte: Ein schöner Bauch ist das, ein braver Bauch ist das. Schön wie ein Bergwerk ist dein Bauch. Groß wie ein Orchestergraben! Als Bela sicher war, dass er nichts mehr im Magen hatte, nahm er eine Rasierschaumdose in die Hand und ging zurück zum Zettel, der immer noch auf dem Tisch lag. Verschwinde aus meinem Leben! Ich gebe dir eine Woche Zeit! Ich weiß alles über dich! Mach deine langweiligen Pirouetten in Zukunft allein. Du bist nichts weiter als ein ordinäres Arschloch. Alles an dir ist negativ. Die Frau hatte es deutlich geschrieben. Bela war für die Frau zu einer schlimmen Person geworden, mit der sie nichts mehr zu tun haben wollte. Bela dekorierte den Zettel mit Rasierschaum. Er war einmal der persönliche Fellbauch für die Frau gewesen. Er war sogar ein kleiner Mittelpunkt für die Frau gewesen. Dann haben sich einige Körperstellen gedehnt und Bela sind Hörner gewachsen, dann Hufe, und jetzt war er eine üble Person, mit der niemand mehr etwas zu haben wollte. Sein Mund war nur noch zum Essen gut, nicht mehr zum Küssen. Bela ließ die Rasierschaumdose kraftlos aus der Hand sinken, ging zum Fenster und schaute in den Garten. Er sah die vielen Apfelbäume – die vielen Eichhörnchen, die er sonst immer sehen konnte, sah er nicht. Auf der Fensterbank stand ein Wetterhaus, das Bela einmal von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Im Wetterhaus gab es eine Drehscheibe, auf welcher eine Frau und ein Mann stehen. Bei schönem Wetter kommt die Frau aus der Türe heraus, wenn die Luft feucht ist, erscheint der Mann mit Regenschirm und die Frau verschwindet vorsichtig unter das schützende Dach. Wenn das Wetter noch schlechter wird, spannt der Mann den Regenschirm auf und die Frau stellt sich zu ihm. Bela öffnete das Fenster und nahm das Wetterhaus sorgfältig in die Hand.
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Zur Frau des Wetterhauses sagte er, wie schön ihr Sommerkleid sei. Der Mann des Wetterhauses hatte blasse Lippen, einen hellblonden Bart und ziemlich dichtes, hellblondes Haar. Seine Augen waren blau, sein Blick leicht und beweglich. Der Mann des Wetterhauses konnte mit seinen Augen große Unwetter und Stürme besänftigen, seine Augen wirkten wie Schutzschilde. Bela hätte gerne mit dem Mann auf der Drehscheibe des Wetterhauses den Platz getauscht. Die Drehscheibe im Wetterhaus begann sich plötzlich schnell zu drehen, Bela erschrak. Als die Scheibe wieder still stand, hielt er sich das Wetterhaus ganz nahe vor die Nase und versuchte dem Mann auf der Drehscheibe in die Augen zu schauen. Dann stellte Bela das Wetterhaus zurück auf die Fensterbank, schloss das Fenster, atmete kurz aus, wischte sich die Hände an den Hosen ab, öffnete das Fenster noch mal und drückte das Dach des Wetterhauses mit Gewalt ein. Die Blumen in den Vasen begannen zu welken. In der Ecke hing ein alter Kalender mit Urlaubsfotos von Bela und der Frau vor einem Mietauto, in welchem sie ihm mehrmals und völlig desinteressiert ihren Körper angeboten hatte, worauf Bela sich auf die Frau gesetzt, ihr das T-Shirt aus der Unterhose gerissen, ihr schnell das Höschen zur Seite geschoben und sie gefickt hatte. Bela begann, diverse Gegenstände in Richtung Kalender zu werfen. Alles wurde zu einer Angelegenheit zwischen ihm und dem Kalender. Bela sprang auf, riss den Kalender von der Wand, schlug ihn über die Stuhllehne und schrie wild dazu, ging in Socken zur Wohnungstüre, warf den Kalender über das Geländer des Treppenhauses, rannte die zwei Stockwerke ohne Schuhe runter, las den Kalender wieder auf und setzte sich auf die kalten Steinstufen, wie ein Schulkind, das vom Lehrer früher nach Hause geschickt wurde, weil es den Unterricht gestört hatte. Bela hatte das Runzeln auf der Stirn der Frau zu oft mit Fauchen quittiert, statt mit vier Küssen und einer aufmerksamen Frage.
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