Sebastian Lehmann
WILLKOMMEN IN BERLIN Ich habe mal wieder so gut wie gar nicht geschlafen. Die ganze Nacht wummerten die Technobässe in der Wohnung über mir. Seit Kurzem wird sie nämlich nur noch als Ferienwohnung genutzt, die man über das Internetportal Airbnb buchen kann. Die Touris kommen nicht mehr wegen DDR, Hitler oder KaDeWe nach Berlin, sondern wegen Party. Jeden Tag um Mitternacht ist mal für zwei Stunden Ruhe über mir, weil die Touris dann in der Schlange am Berghain stehen. Wenn sie dann wieder nicht reingekommen sind, feiern sie einfach in der Wohnung weiter. Ich stehe auf, schlurfe zu meinem Laptop und rufe die AirbnbSeite auf, um herauszuinden, wer die Wohnung vermietet, und sie bei der Wohnungsgesellschaft zu denunzieren. Ich werde den kleinen Spießer in mir nicht länger verleugnen. Ich inde das Angebot sofort: Als »Nice Party Flat in the hip Berlin-Kiez Tiergarten« wird die Wohnung beworben. Fast tun mir die Touris leid. Ich klicke durch die anderen Anzeigen. Ausnahmslos jede Ferienwohnung in Berlin wird damit beworben, in einem hippen Partystadtteil zu liegen, sogar die Wilmersdorfer schrecken nicht davor zurück. Aber wenn alle lange genug lügen, stimmt es ja irgendwann. Ich inde sogar eine Wohnung in Spandau, die damit wirbt, »just around the corner of the famous Simon-Dach-Straße« zu sein. Es gibt noch ein zweites Airbnb-Angebot unter der Adresse unseres Hauses. Ich klicke drauf und sehe mir die Bilder an. Die Wohnung sieht genauso aus wie unsere Wohnung. Es ist unsere Wohnung. Auf einem Foto erkenne ich sogar unsere fette Katze, die schlecht gelaunt in die Kamera schaut. Es klingelt und ich öfne die Tür. Im Treppenhaus stehen zwei gut aussehende Zwanzigjährige in kurzen Hosen und Sonnenbrillen. Sie blicken mich irritiert an. Mir fällt ein, dass ich nur eine alte Boxershort trage und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Abi 2002. Too drunk to learn«. 34
»What do you want?«, frage ich. »hat’s the typical Berlin unpoliteness«, sagt der eine Junge begeistert zu seinem Freund und lächelt mich dann an. »Hello, I’m Mario«, sagt er. »And this is my friend Luigi.« Sie strecken mir ihre Hände entgegen. »You must be Sebastiano.« Ich nicke überrascht. »We rented this wonderful lat for two weeks«, sagt Mario und hält mir eine Booking Conirmation von Airbnb unter die Nase. »Live together with a real Berlin artist« steht darauf. Die fette Katze kommt in den Flur und beschnuppert Luigis weiße Sneaker. »Oh, is this your cat?«, ruft er verzückt aus und beugt sich zu ihr herunter. Die Katze versetzt ihm mit ihrer Pfote einen Schlag ins Gesicht. Ich zeige den beiden die kleine Abstellkammer neben der Küche. »hat’s your room«, informiere ich sie. »And of course, you can help yourself, I share all my things with my guests.« Ich deute auf die abgelaufenen Bohnenkonserven, die noch von unserem Vormieter in der Kammer stehen. »hank you. But how can we sleep in there?«, fragt Mario. »In Berlin it’s tradition to stand while you sleep«, sage ich. »We are so poor, we can’t aford beds.« Die beiden schauen mich entgeistert an. »So, I leave you now on your own. Have a nice stay.« Ich schubse sie in die Kammer und schließe von außen ab. Dann rufe ich meine Freundin an. »Sag mal, hast du unsere Wohnung bei Airbnb reingestellt?«, frage ich, als sie sich meldet. »Ja klar, ich bin ja auch im Urlaub«, sagt sie. »Ich bin aber noch hier!« Es klingelt schon wieder. Vor der Tür stehen zwei große blonde Frauen in langen Kleidern. »Hello, we are Margot and Linnea from Stockholm.« »Come in!«, rufe ich und zeige ihnen das Zimmer meiner Freundin, sie sind sofort begeistert. »Da sind noch mehr gekommen«, sage ich zu meiner Freundin am Telefon. 35
»Na ja, ich habe jedes Zimmer in unserer Wohnung vermietet«, antwortet sie. Aus der Abstellkammer höre ich plötzlich laute Technobässe wummern. Ich reiße die Tür auf, Mario und Luigi haben zwischen den Konserven noch eine Flasche Korn gefunden und glühen schon ein wenig für die Berghain-Schlange vor. Im Flur treffe ich dann auch Kai und Isabell, die ihre Rollkoffer schüchtern in mein Arbeitszimmer rollen. Zwei bärtige Männer in Unterhemden und Truckermützen poltern gerade die Treppen hoch. »Hey you, we’re Brad and Bruce from Australia«, ruft der eine und klopft mir brutal auf die Schulter. »Cool T-Shirt, man. I also like to drink!« Er öfnet seinen Rollkofer, in dem ausschließlich Ginlaschen aus dem Duty-free-Shop lagern. Ich ziehe mich ins Badezimmer zurück. »Was soll ich denn jetzt machen?«, zische ich ins Telefon. »Ich habe die Zimmer für hundert Euro pro Nacht vermietet«, sagt meine Freundin. »Das heißt, wir bekommen unsere ganze Monatsmiete an einem Tag wieder rein. Ich würde sagen, du nimmst dir ein schönes Hotelzimmer.« Als ich das Badezimmer wieder verlasse, hat sich eine kleine Spontanparty in der Küche gebildet, Mario und Isabell tanzen auf dem Küchentisch, Bruce mischt für alle Gin Tonics, allerdings hat er kein Tonic in meinem Kühlschrank gefunden. »So it’s Gin Tonic without Tonic. Haha!« Er lacht sehr laut. »I call it Gin Berlin.« Ich lüchte schnell ins Schlafzimmer, dort erwische ich Brad und Margot beim Sex. Die fette Katze guckt entsetzt zu. Ich nehme sie untern Arm – also die Katze – und verlasse schnell die Wohnung. Mit dem Taxi fahre ich zum nächsten Hotel. »Ich hätte gern ein Zimmer«, sage ich erschöpft zum Portier. Die Katze auf meinem Arm schnurrt zustimmend. »Das ist unser letztes Zimmer«, sagt der Portier und reicht mir lächelnd einen Schlüssel. »Wir sind ausgebucht! Anfangs sind bei uns wegen Airbnb die Buchungen zwar eingebrochen, aber inzwischen kommen die Berliner.« 36
Er deutet in die Bar neben der Lobby, wo an jedem Tisch Leute sitzen. Ich entdecke sofort meine Nachbarn von oben. Sie winken mir gut gelaunt zu. Die Katze springt in den Hotelgarten zu den anderen Haustieren. ÂťWillkommen in BerlinÂŤ, rufen meine Nachbarn, und ich setze mich zu ihnen.
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Marc-Uwe Kling
VERGLEICHEN & OPTIMIEREN Ich reibe mir die Augen und nehme einen großen Schluck Kafee. Das Radio läuft. »Eine internationale Vergleichsstudie der Bertelsmann Stiftung«, sagt der Nachrichtensprecher, »brachte erstaunliche Ergebnisse. Im Vatikanstaat werde nämlich, im Gegensatz zu Deutschland, kein Kindergeld bezahlt und die Arbeitslosenquote läge im kaum messbaren Bereich. Der Schluss liege nahe, so die Stiftung, dass eine Streichung des Kindergeldes in Deutschland auch hierzulande zu einer signiikanten Senkung der Arbeitslosenzahlen führen müsste.« Ich seufze und mache das Radio aus. Das Känguru kommt lasziv in die Küche geschlendert. »Hier sehen Sie das Känguru«, sagt es, »in seiner neuesten Kreation.« Es deutet auf sein T-Shirt voller Nullen und Einsen und sagt: »Ein Nerd-Shirt.« »Was soll das?«, frage ich. »Geschäftsidee.« »Was steht da auf deinem T-Shirt?« »Auf meinem Nerd-Shirt«, verbessert mich das Känguru. »Ja. Auf deinem Nerd-Shirt. Was steht da?« »Das siehst du doch.« »010001100111010101100011011010110010000001111001011 0111101110101«, lese ich vor. Das Känguru nickt. »›Fuck you‹ im Binärcode.« »Ich hätte lieber eins, wo draufsteht ›Whatever‹«, sage ich. Das Känguru setzt sich zu mir an den Küchentisch. »Hatte noch eine Geschäftsidee«, sagt es. »Bist ja richtig produktiv heute.« »Ist dir eigentlich auch schon mal aufgefallen«, fragt das Känguru, »dass die Spülmaschine unerfreulich oft das Geschirr nicht sauber kriegt?« »Ja«, sage ich, nehme einen Schluck Kafee und kratze dann ein angetrocknetes Salatblatt von der Tasse. 38
»Im krassen Gegensatz zur Waschmaschine«, sagt das Känguru, »die die Wäsche eigentlich immer sauber kriegt.« »Worauf willst du hinaus?« »Vergleichen und optimieren.« »Wie bitte?« »Ich denke, ich habe herausgefunden, was die Waschmaschine hat, das der Spülmaschine fehlt. Gleich morgen werde ich drum zum Patentamt gehen und die erste Spülmaschine mit Schleudergang anmelden!« Ich blinzle. »Haste Lust zu investieren?«, fragt das Känguru. »Wie willst du dein Spülmaschinenmodell denn nennen? Polterabend?« Das Känguru blinzelt. »Ich sehe, worauf du hinauswillst.« Es nickt. »Vielleicht ist das mit dem Vergleichen und Optimieren gar nicht so einfach, wie die Bertelsmann Stiftung immer behauptet.« »Ja, vielleicht.« »Zum Glück hatte ich noch ne andere Geschäftsidee«, sagt das Känguru. »Kann mich vor Spannung kaum mehr halten«, sage ich. Das Känguru zieht eine Karte aus seinem Beutel und reicht sie mir. Vorne auf die Karte hat es in Schnörkelschrift geschrieben: »Herzlichen Glückwunsch.« »Glückwunschkarten?«, frage ich. »Was ist daran neu?« »Klapp mal auf.« Ich tue, wie mir geheißen, und aus der Karte tönt es: »Ich war fast überall und ich kenne auch fast alle doch noch nie traf ich einen der auch nur fast so DUMM WAR WIE DU DU DU DUMM WAR WIE DU DU DU DUMM WAR WIE DU DU DU bist der dümmste Mensch auf der Welt. Herzlichen Glückwunsch.« 39
»Glückwunschkarten für Feinde!«, ruft das Känguru. »Schöne Marktlücke«, sage ich. »Das ist keine Marktlücke!«, ruft das Känguru. »Das ist der Markt zur Lücke! Ich hab nämlich mal ein bisschen Marktforschung betrieben, und es hat sich herausgestellt, dass die meisten Menschen weit mehr Leute kennen, die sie nicht leiden können, als Leute, die sie leiden können.« »Aha. Und wen hast du da so ausgeforscht?« »Na dich zum Beispiel. Weißt du nicht mehr, als ich dich vor ein paar Tagen mal gefragt habe, wen du alles nicht leiden kannst, und du hast den ganzen Abend den Mund nicht mehr zubekommen?« »Aha. Und wen hast du sonst noch befragt?« »Na … äh … mich.« »Jo. So sagt man ja: Zwei Meinungen sind schon ne Statistik.« »Sagt man so?« »Nee«, sage ich. »Höchstens bei der Bertelsmann Stiftung.« »Wolltest mich nur veralbern?«, fragt das Känguru. »Mhm.« »Hier. Ich schenk dir die erste Karte.« »Na danke.«
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