Leseprobe Erwin Krottenthaler / José F.A. Oliver (Hg.) - literaturmachen III

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LITERATUR UND GESELLSCHAFT Wie poliis h ist das poeis he S hrei e ? Ingo Schulze

»Poetisiert« und/oder »Politisiert« euch? Muss /darf Literatur politisch sein? Leistet Literatur einen Beitrag zum Frieden?

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»Demokratie bedeutet aber vor allem ein Gemeinwesen, das in der Lage ist, seiner Verantwortung gerecht zu werden.« Ingo Schulze

Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, studierte Klassische Philologie und Germanistik in Jena, bevor er als Dramaturg am Landestheater Altenburg tätig wurde. Im Jahr 1990 initiierte er in der ostthüringischen Stadt das Altenburger Wochenblatt und den Anzeiger. In Sankt Petersburg gründete er 1993 das erste kostenlose Anzeigenblatt der Stadt, die Schauplatz seines literarischen Debüts 3 Augenblicke des Glücks (1995) werden sollte. International bekannt wurde sein Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998). Viel beachtet auch seine Dankesrede zur Verleihung des hüringer Literaturpreises 2007, in der er die zunehmende Refeudalisierung des Kulturbetriebs als Teil einer allgemeinen Ökonomisierung der Gesellschaft kritisierte. Schulzes Werk wurde in dreißig Sprachen übersetzt. Der Bertolt-Brecht-Preisträger der Stadt Augsburg (2013) lebt mit seiner Familie in Berlin.

Jüngste Publikationen: Unsere schönen neuen Kleider: Gegen eine marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte, Carl Hanser Verlag, München 2012; Henkerslos: Ein Märchenbrevier, ebd. 2013 (zusammen mit Christine Traber, mit Illustrationen von Sebastian Menschenmoser); Peter Holtz: Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017 9



Drei Versuche über ein Thema

Erster Versuch, ein Dialog A: Noch als Schüler las ich bei Stephan Hermlin den Satz: »Wer schreibt, muss handeln.« Das heißt, die Einsicht, die beim Schreiben entsteht, kann nicht folgenlos für meinen Alltag bleiben. Ich habe das immer abgewandelt: Die Einsicht, die mich beim Lesen trift, kann nicht folgenlos bleiben. Das stimmt doch heute noch genauso. B: Ja, schon, und zugleich klingt dieser Satz wie aus einer fernen, übersichtlicheren Zeit. Ohne Verdrängung lässt sich unser heutiger Alltag weniger denn je bestehen. A: Du meinst, dass es kaum möglich ist, eine Woche lang einkaufen zu gehen, ohne eine Schweinerei zu begehen? Und je weniger Geld jemand hat, umso schwieriger wird das? B: Ja. Das auch. Du kannst nehmen, was du willst. Du musst nachbohren, weil das meiste indirekt wirkt und unsichtbar bleibt in unserem Alltagsleben. Wir sehen nur das Smartphone oder das Hühnerei, das schöne Baumwollhemd oder den guten Kafee. A: Du meinst die Herstellung dieser Dinge? Du meinst, wenn wir wüssten, wie jedes unserer Produkte entsteht, wäre alles fragwürdig? B: Es ist alles fragwürdig. Und kurioserweise wissen das auch alle. Man muss eigentlich niemanden mehr, der bei Verstand ist, davon überzeugen. Aber es ändert sich dennoch nichts. Bestenfalls folgt peinliches Schweigen. A: Denn weder du noch ich und womöglich auch die meisten anderen sind bereit, unser gutes Leben aufzugeben. Jedenfalls nicht grundsätzlich. Und wir möchten trotzdem nicht aufhören, über diese Welt nachzudenken. B: Das ist erst mal ein Widerspruch, oder? Und es bleibt einer, wenn sich dadurch nichts verändert. A: Und die Literatur? Hat die was dazu zu sagen? 11


B: Du meinst, sie ist viel zu harmlos? A: Das wäre zumindest ein begründbarer Anfangsverdacht. B: Literatur wehrt sich per se gegen alle Instrumentalisierung. Du kannst nicht sagen, weil die Situation so unerträglich ist, schreibe ich jetzt ein Buch über Flüchtlinge, über Hunger, über Ungerechtigkeit. Das wäre lächerlich. A: Wieso? B: Weil es dann letztlich Werbung wird in der einen oder anderen Form. Wenn am Anfang feststeht, was am Ende rauskommen soll, brauchst du gar nicht erst anzufangen mit dem Schreiben. A: Oder mit dem Reden. B: Wenn das eine wie das andere keine Unternehmung mit ofenem Ausgang ist, sollten wir es lassen. – Was ist? A: »Unternehmung mit ofenem Ausgang …« B: Ja, was stört dich daran? A: Das klingt, entschuldige, als würden wir uns auf einen gefährlichen Weg begeben, eine Flucht, als müssten wir uns Schleusern überantworten. B: Keine schlechte Metapher! A: Ich meine das ganz und gar nicht metaphorisch! B: Ich habe eine Schwäche für Schleuser. A: Weil du sie metaphorisch nimmst. Schleuser sind Kriminelle, die aus der Not lüchtender Menschen ein Geschäft machen, um es mal milde auszudrücken. B: Ich habe einen Freund, der ist Schleuser. A: Du kennst einen Schleuser? B: Ja, Rick, eher ein Hobbyschleuser. Ich kenne ihn schon lange, dreißig Jahre ungefähr. Damals war er der Chef einer Bar, in der sich Abend für Abend alle trafen, die etwas auf sich hielten und sich vergnügen wollten. Sogar Militärs waren dabei, Oiziere einer im Lande nicht geliebten Armee. A: Und wieso wurde dein Rick zum Schleuser? B: Durch Zufall. Jemand, dem die Polizei im Nacken saß und der Rick vertraute, gab ihm zwei Visa zur Verwahrung. Rick gab diese Visa schließlich an zwei Flüchtlinge weiter, deren Leben bedroht war. Damit sie auch wirklich liehen konnten, 12


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A: B:

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musste Rick sogar zum Mörder werden. Er erschoss einen hohen Oizier. Er hat einen Oizier erschossen? Liebe spielte dabei eine Rolle. Kein Grund für mildernde Umstände. Aber sein Mord an dem Oizier tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. Im Gegenteil. Spinnst du? Hast du ihn nicht angezeigt? Nein. Ich – und nicht nur ich – war der Überzeugung, dass Rick alles richtig gemacht hatte. Das war sogar der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Ach so, jetzt verstehe ich. Geh ich recht in der Annahme, dass Rick auch mein Freund ist? Zu seiner Zeit, 1942 in Casablanca, oder besser gesagt in den Warner Bros. Studios, konnte man sich wohl nicht vorstellen, dass die Menschen eines Tages in Richtung Europa lüchten würden, ausgerechnet auch noch in Richtung Österreich und Deutschland. 1977 lüchtete mein Vater mit meinen beiden Halbbrüdern und seiner zweiten Frau in einem Containerauto von Deutschland Ost nach Deutschland West. Im Osten hießen diese Schleuser Menschenhändler, weil sie dafür Geld verlangten, in diesem Fall wohl sogar eine sechsstellige Summe. Im Westen hießen sie Fluchthelfer, weil sie für eine gute Sache ein hohes persönliches Risiko eingingen. Als Äquivalent für ein paar Jahre DDR-Knast ist das nicht viel Geld. Die Familie meines Vaters wusste nicht, wer die Türen ihres Containers wieder öfnen würde. Sie gingen das Risiko ein, obwohl ihr Leben nicht bedroht war. Sie hatten ein Dach überm Kopf, genug zu essen und zu trinken, medizinische Versorgung, und die Ausbildung für die Kinder war in Ordnung. Trotzdem empfanden sie den Druck als so groß, dass sie die Flucht wagten. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, wäre damals auf die Idee gekommen, diese Schleuser als Kriminelle zu titulieren. 13


LITERATUR UND BRUTALITÄT S hrei e – ei e Verletzu g oder die Retu g da or? Clemens Meyer

Wie funktioniert Literatur, die sich Gewalt zum hema wählt? Ganz akutell: Terror – kann Literatur Antworten geben? Kann / muss / darf Literatur verletzen? 38


»Ich bin absoluter Kulturpessimist. Wir sitzen auf einem sinkenden Boot.« Clemens Meyer

Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle/Saale, ist im Arbeiterviertel Leipzig-Ost aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Leipzig. Von 1998 bis 2003 studierte Meyer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, unterbrochen von einem Aufenthalt in der Jugendarrestanstalt Zeithain. Sein Studium inanzierte er als Wachmann, Möbelpacker, Gabelstaplerfahrer und mit Stipendien. In den Seminaren stellte er nur wenige seiner Texte zur Debatte, sondern lernte mehr durch Diskussionen über die Texte anderer. 2006 erschien sein Debütroman Als wir träumten. Es folgten Die Nacht, die Lichter: Stories (2008) und Gewalten: Ein Tagebuch (2010). Für sein Werk wurde Clemens Meyer mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Preis der Leipziger Buchmesse und das Mainzer Stadtschreiber-Stipendium 2016.

Jüngste Publikationen: Zwei Himmelhunde: Irre Filme, die man besser liest (zusammen mit Claudius Nießen), Voland & Quist, Leipzig/Dresden 2016; Der Untergang der Äkschn GmbH: Frankfurter Poetikvorlesungen, S. Fischer, Frankfurt am Main 2016; Die stillen Trabanten, ebd. 2017. 39



Ge alte

1 Ich verwende den Begrif »Gewalt« statt des Begrifs »Brutalität«. Der Begrif »Brutalität« scheint mir noch undeinierter als der der »Gewalt«. Zumindest im Kontext der Literatur, der Kunst. Ich dachte immer, dass das italienische Wort brutto im Titel des Sergio-LeoneFilms »Il buono, il brutto, il cattivo« für »Der Brutale« steht, aber es bedeutet so viel wie »Der Hässliche«, und lässt man ein »t« weg, also »bruto«, dann hat man das »Tier«. Also auch den Menschen. Gewalt ist eines der Ur-hemen der Literatur. Was nicht verwunderlich ist, da Gewalt einen elementaren Teil der Menschheitsgeschichte darstellt. Einfache Wahrheiten zu Beginn. Shakespeare ist Gewalt, die Bibel ist Gewalt, Parzival ist Gewalt, die Edda ist Gewalt, der Simplicissimus ist Gewalt, Balzac, Krieg und Frieden, Schillers Wallenstein, Der brave Soldat Schwejk, auch der Zauberberg endet mit Donnerschlägen … das lässt sich im Springen durch die Jahrhunderte beliebig fortsetzen. Vor allem in den Epochen des sogenannten Realismus kam Gewalt zwangsläuig in Romane, die sich mit der Gesellschaft beschäftigten, denn Kriege und andere Gewaltausbrüche, auch Duelle, gab es permanent. Man könnte hier Schluss machen, denn mehr gibt es nicht zu sagen.

2 »Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muss aufgefasst werden als ein heftiger Angrif auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen.«3 3 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, erschienen in: Le Figaro. Paris 1909.

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Die Moderne. Sprache als Gewalt. Futurismus, Expressionismus, Dadaismus … »Nie aber / sah ich / ein Land / voll gleicher / Leidenskraft / und getragener Qual. / Wird ein Faustschlag / so leicht / von der Wange gewischt? / ›Steht auf – / für Boden und Freiheit / ein Bollwerk!‹ / so reifte ein Ruf. / Und meuterisch / grif / manch einer / zu Bombe und Revolver.« 4 Futurismus. Das klingt auch gewaltig. Das treibt. Ohne die Eisenbahn keine futuristische Dichtung, sagt man. Badamm, badamm, badamm. Den Dadaismus müssen wir wieder rausnehmen, weil Lautmalerei, Dekonstruktion von Sprache, selbst wenn BUMM BUMM oder RAMM RAMM, mit denen zum Beispiel in Ludwig Renns WK1-Roman Krieg der Sound des Krieges sozusagen hörbar gemacht wird, Jahre nach dem Dadaismus doch irgendwie keine Gewalt in der Sprache darstellt. Der Dadaismus war eher ein Fest der Fragmentierung, das Wort hatte in seiner Sinnhaftigkeit versagt und den Krieg hervorgebracht. Aber Trommeln und Laute und Stammeln sind irgendwie auch eine Art Urgewalt. Den Zuschauer verstörend (damals, lange her), den Zuschauer angreifend. In Leipzig sah ich vor einigen Jahren das heaterstück Mein Faust von Sebastian Hartmann. Da wurde kein Wort gesprochen in dem Stück. Da wurde gegrunzt und gelallt und geweint und wortlos gejammert und gelacht und geblökt und gestorben und geboren … Unser erstes WÄH-WÄH ist Dadaismus. Und wenn mir Gewalt angetan wird, dann brülle ich wortlos in Qualen. Mein Faust sorgte für einige Irritationen. Menschen verließen den Saal. Gewalt, Urgewalt. Die drangen in den Äther und in den Raum des Betrachters. Gewalt, Laute, BUMM BUMM ist alles. Sexus, Krieg, Schlag des Herzens. 4 Majakowski, Wladimir: Wladimir Iljitsch Lenin. Poem (1924). Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert. Berlin, Verlag Volk und Welt 1970. S. 18.

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3 Rambo. Der Vietnamveteran John Rambo ist deutsch-indianischer Abstammung. Das ist eine explosive Mischung. Geronimo und der Führer. Wobei Geronimo natürlich ein großer Guerillakämpfer war. Die Apachen waren grausame Krieger, auch wenn sie natürlich ihr Land und ihre Freiheit verteidigten. Das Leiden und langsame Sterben ihrer Feinde gab ihnen Kraft. So glaubten sie. Ein alter Scout in den Apachen-Kriegen der 1890er Jahre, dargestellt vom alten Burt Lancaster, sagt, dass die Apachen so grausame Krieger sind, weil sie in einer grausamen Natur leben, in lebensfeindlichen kargen Bergen, von der Sonne ausgedörrt, die Existenz permanent bedroht, keiner kann in diesen Bergwüsten leben, nur sie. In meinem Buch Gewalten. Ein Tagebuch sind die Gewalten vielfältig, der Mensch gegen den Mensch, der Mensch als Triebund Gewalt-Tier, aber auch der Mensch unter den Gewalten des Zufalls, der Natur, der Krankheiten, des Siechtums … Krebstod als Gewalt. Verschlingende Ströme als Gewalt. Natur und genetische Geometrie kennen keine Moral. Kennt Rambo Moral? Im ersten Teil der Rambo-Saga will er nicht kämpfen. Nicht mehr. Er ist das Geschöpf Frankensteins, in diesem Fall Colonel Trautmans, der ihn zur Kampfmaschine ausgebildet hat. Rambo tötete hinter den feindlichen Linien. »Übel dran / ist der einsame Mann. / Wehe dem Einzelnen / jenseits der Reihen, – / da jeder Starke / ihn knechten kann, / ja, sogar Schwache / schafens zu zweien. / Zur Partei vereint / sind die Kleinen – / Bezwinger! / Streck die Wafen, / Feind, / vor der größern Gewalt!«5 Sagte Freud einmal, dass in jeder Gruppe der Keim des Faschismus lauere, oder so ähnlich? 5 Majakowski, Wladimir: Wladimir Iljitsch Lenin. Poem. Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert. Berlin, Verlag Volk und Welt 1970. S. 22.

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