LSD - Liebe statt Drogen

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Tube

Ivo & Sascha

Interviews

Ich hatte grade ein Ei verzehrt, als plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, für mich also völlig unvermittelt und überraschend, das Telefon klingelte. Wobei – klingelte kann ich eigentlich nicht sagen. Eher: düdelte. Denn klingeln im klassischen Sinne, wo ein Klöppel gegen eine Glocke haut, tun die mikroprozessorgesteuerten Fernsprechendgeräte unseres digitalen Zeitalters ja nicht mehr. Sie düdeln eben, und das ISDN düdelte bei mir noch mal. Eines der angenehmsten Merkmale des ISDN ist, dass, bevor man den Hörer abnimmt, auf dem Display die Nummer von dem erscheint, der das Düdeln durch Eingabe meiner Telefonnummer provoziert hat. Ich schaute nach: 040, gefolgt von diversen anderen Ziffern, die ich hier aus Gründen der Diskretion mal unerwähnt lasse. Hamburg also. Ich ging im Geiste all meine Bekannten in dieser Stadt durch und war sofort fertig. Null. Ein Überraschungs-ISDN. Bestimmt verwählt, dachte ich und nahm ab. »Hallo?« Eine Frau war dran und fragte, ob ich eine Firma sei. Ich verneinte und glaubte, damit sei die Sache abgehakt. Verwählt, ich bin nicht die Firma, doch die Frau sagte: Na, prima. Ich wäre genau der Richtige für sie. Ob ich nicht Lust hätte, an einer kurzen Umfrage für so ein Statistikinstitut teilzunehmen. Meine Telefonnummer sei sozusagen ausgewürfelt, durch Vorgabe einer Rumpfnummer mit randomisierter Permutation der Endziffern völlig kontextfrei erwählt worden, das Interview sei anonym und würde nur ein geringes Quantum der Gegenwart konsumieren. 14

Ich glaube, die Dame hat sich etwas umständlicher ausgedrückt, als ich es hier im Prinzip gerade wiedergegeben habe, aber ungefähr das hat sie gesagt, und ich willigte ein, bei diesem Interview mitzumachen, weil ich mir so dachte: Ja, da sitzt die arme Frau jetzt in Hamburg rum, kriegt ein paar läppische Euro für jedes erfolgreiche Telefonat, da werde ich ihr doch mal zu ein paar läppischen Euro verhelfen. Und sie stellte Fragen nach Alter, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Verdienst und Beruf. Dabei kam heraus, dass ich ein 18-jähriger, schwuler Dunkler bin, der von Beruf Telefoninterviewer ist und damit etwas über 25.000 Euro pro Monat verdient. Ohne Neid im Tenor ging sie zur nächsten Frage über. Wie viele Stunden pro Tag höre ich Radio? Achtung! Vorsicht Falle! Verdeckte Ermittler der GEZ könnten hinter solchen Umfragen stecken! Und, um neben Warmduscher und Turnbeutelvergesser nicht auch noch als GEZ-Zahler beschimpft zu werden, war die korrekte Antwort natürlich: Nein, ich habe kein Radio. Nein, auch keinen Fernseher. Einen Videorekorder? Ja, hab ich. Nein, ich hab wirklich keinen Fernseher. Doch, zum Videogucken nehme ich den Rekorder immer zu Freunden mit … Ob ich trotzdem manchmal Radio höre? Ja, bei Freunden. Mein Lieblingsradiosender? »Tja, Radio 86,5«, fiel mir spontan ein. Das war jedenfalls die Frequenz, worauf der Westberliner Polizeifunk zu hören war, wenn man sein Radio geöffnet und ein kleines Schräubchen so verdreht hatte, dass es auf dieser Wellenlänge empfangen konnte. Zumindest hat das zu DDR-Zeiten so funktioniert, und ich saß manchmal stundenlang vor meinem modifizierten Empfangsgerät und lauschte den spannenden Verbrechen, die die da drüben zu bekämpfen hatten. Die Hamburgerin am Telefon zeigte sich verblüfft und fragte, was das denn für ein Sender sei, Radio 86,5, den kenne sie nicht, der stehe gar nicht auf ihrer Liste. 15


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Ich hatte grade ein Ei verzehrt, als plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, für mich also völlig unvermittelt und überraschend, das Telefon klingelte. Wobei – klingelte kann ich eigentlich nicht sagen. Eher: düdelte. Denn klingeln im klassischen Sinne, wo ein Klöppel gegen eine Glocke haut, tun die mikroprozessorgesteuerten Fernsprechendgeräte unseres digitalen Zeitalters ja nicht mehr. Sie düdeln eben, und das ISDN düdelte bei mir noch mal. Eines der angenehmsten Merkmale des ISDN ist, dass, bevor man den Hörer abnimmt, auf dem Display die Nummer von dem erscheint, der das Düdeln durch Eingabe meiner Telefonnummer provoziert hat. Ich schaute nach: 040, gefolgt von diversen anderen Ziffern, die ich hier aus Gründen der Diskretion mal unerwähnt lasse. Hamburg also. Ich ging im Geiste all meine Bekannten in dieser Stadt durch und war sofort fertig. Null. Ein Überraschungs-ISDN. Bestimmt verwählt, dachte ich und nahm ab. »Hallo?« Eine Frau war dran und fragte, ob ich eine Firma sei. Ich verneinte und glaubte, damit sei die Sache abgehakt. Verwählt, ich bin nicht die Firma, doch die Frau sagte: Na, prima. Ich wäre genau der Richtige für sie. Ob ich nicht Lust hätte, an einer kurzen Umfrage für so ein Statistikinstitut teilzunehmen. Meine Telefonnummer sei sozusagen ausgewürfelt, durch Vorgabe einer Rumpfnummer mit randomisierter Permutation der Endziffern völlig kontextfrei erwählt worden, das Interview sei anonym und würde nur ein geringes Quantum der Gegenwart konsumieren. 14

Ich glaube, die Dame hat sich etwas umständlicher ausgedrückt, als ich es hier im Prinzip gerade wiedergegeben habe, aber ungefähr das hat sie gesagt, und ich willigte ein, bei diesem Interview mitzumachen, weil ich mir so dachte: Ja, da sitzt die arme Frau jetzt in Hamburg rum, kriegt ein paar läppische Euro für jedes erfolgreiche Telefonat, da werde ich ihr doch mal zu ein paar läppischen Euro verhelfen. Und sie stellte Fragen nach Alter, Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Verdienst und Beruf. Dabei kam heraus, dass ich ein 18-jähriger, schwuler Dunkler bin, der von Beruf Telefoninterviewer ist und damit etwas über 25.000 Euro pro Monat verdient. Ohne Neid im Tenor ging sie zur nächsten Frage über. Wie viele Stunden pro Tag höre ich Radio? Achtung! Vorsicht Falle! Verdeckte Ermittler der GEZ könnten hinter solchen Umfragen stecken! Und, um neben Warmduscher und Turnbeutelvergesser nicht auch noch als GEZ-Zahler beschimpft zu werden, war die korrekte Antwort natürlich: Nein, ich habe kein Radio. Nein, auch keinen Fernseher. Einen Videorekorder? Ja, hab ich. Nein, ich hab wirklich keinen Fernseher. Doch, zum Videogucken nehme ich den Rekorder immer zu Freunden mit … Ob ich trotzdem manchmal Radio höre? Ja, bei Freunden. Mein Lieblingsradiosender? »Tja, Radio 86,5«, fiel mir spontan ein. Das war jedenfalls die Frequenz, worauf der Westberliner Polizeifunk zu hören war, wenn man sein Radio geöffnet und ein kleines Schräubchen so verdreht hatte, dass es auf dieser Wellenlänge empfangen konnte. Zumindest hat das zu DDR-Zeiten so funktioniert, und ich saß manchmal stundenlang vor meinem modifizierten Empfangsgerät und lauschte den spannenden Verbrechen, die die da drüben zu bekämpfen hatten. Die Hamburgerin am Telefon zeigte sich verblüfft und fragte, was das denn für ein Sender sei, Radio 86,5, den kenne sie nicht, der stehe gar nicht auf ihrer Liste. 15


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Mein schöner kalter Krieg

Es war alles so klar früher. Ich wusste ganz genau, wie meine Zukunft aussehen würde. Schon im Kindergarten hatte man mir immer wieder genussvoll und detailliert beschrieben, wie ich eines Tages entweder in einem atomaren Feuerball verglühen oder langsam und qualvoll an der Strahlenkrankheit zu Grunde gehen würde. Andererseits hieß es natürlich auch, die Zukunft, die werde uns allen ein glückseliges Leben in einer kommunistischen Welt bescheren, aber die Untergangsprognosen überwogen bei weitem – zumindest beeindruckten sie mich viel stärker. Im Mittelalter hatten die Pfaffen sicher auch mehr Erfolg mit blutrünstigen Höllenschilderungen als mit der Propagierung eines wunderschönen, leider aber auch todsterbenslangweiligen Paradieses. Mein Tod, so war ich überzeugt, war beschlossene Sache. Blieb die Frage, wann die Nato mich umbringen würde. Klar, dass ich möglichst spät sterben wollte. Mit zwölf Jahren war es meine größte Angst, eine Atombombe auf den Kopf zu bekommen, bevor ich wenigstens einmal ein Mädchen, und zwar am besten Kathrin Kaul, geküsst hatte. Deshalb war ich auch begeisterter Anhänger des Nato-Doppelbeschlusses, denn wenn die NATO nachrüstete, würde sie mich nicht umbringen, bevor sie damit fertig wäre. Und das sollte ein paar Jahre dauern. Außerdem, ich gebe es zu, ein bisschen schmeichelte mir der Gedanke, dass mein Tod der NATO noch ein paar Milliarden Dollar mehr wert war. Mit der westdeutschen Friedensbewegung, die das Geld lieber für humanitäre Zwecke, den Umweltschutz und Ähnliches ausgeben wollte, konnte ich damals wenig anfangen. Immer 22

wieder wiesen im Fernsehen unrasierte, vor irgendwelchen NATOBasen im Matsch hockende Kuttenträger darauf hin, dass man keine neuen Raketen bräuchte, weil bereits genug alte Raketen da wären, um mich zehnmal zu töten. Ich fand diese Argumentation knauserig. Wenn schon, dann wollte ich bitteschön mit neuester Technik, mit dem Feinsten vom Feinen in die Luft gejagt werden. Und zwar mindestens zwanzigmal. Denen wäre es wahrscheinlich am liebsten gewesen, man hätte mich mit einem Holzknüppel erschlagen und das gesparte Geld für Kindertagesstätten und Öko-Bauernhöfe ausgegeben. »Du spinnst ja«, sagte Steffen Schmiedke, als wir einmal in der großen Pause von der Club-Gaststätte, in der wir täglich unsere Schulspeisung erhielten und (bis auf die Joghurtbecher) sofort wieder wegschütteten, zurück zur Schule gingen. »Die machen die Nachrüstung doch nicht, um ausgerechnet dich umzubringen!« »Ach nee? Warum denn dann, hä? Nur zum Spaß oder was?« »Quatsch … uns alle wollnse umbring!« »Ja klar, ihr geht mit hops, wenn sie mich am Arsch kriegen.« Steffen beharrte auf seinem Standpunkt: »Die wolln dich doch gar nicht am Arsch kriegen … dein Arsch interessiert die doch gar nicht.« »Und warum dann die Atomraketen? Geh ich vielleicht nicht drauf, wenn die explodieren?« »Jaja schon. Ich weiß bloß nicht, wie du darauf kommst, dass die extra für dich da sind … guck mal, da könnt ich genauso gut behaupten, die ganze NATO will bloß mich umbringen!« »Klar kannste das behaupten. Aber haste Beweise?« In diesem Moment platschte es laut und Joghurt spritzte an unsere Beine. »Atom-Alarm!« brüllte Enrico Köhler 20 Meter hinter uns und holte schon Schwung, um den nächsten Joghurtbecher zu schmeißen. Verdammt, Steffen und ich hatten mit unserem Vorrat schon die Mädchen beworfen und konnten Enricos Erstschlag nichts entgegensetzen. Die Vergeltung traf ihn 15 Minuten später im Bioraum, wo Stef23


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Mein schöner kalter Krieg

Es war alles so klar früher. Ich wusste ganz genau, wie meine Zukunft aussehen würde. Schon im Kindergarten hatte man mir immer wieder genussvoll und detailliert beschrieben, wie ich eines Tages entweder in einem atomaren Feuerball verglühen oder langsam und qualvoll an der Strahlenkrankheit zu Grunde gehen würde. Andererseits hieß es natürlich auch, die Zukunft, die werde uns allen ein glückseliges Leben in einer kommunistischen Welt bescheren, aber die Untergangsprognosen überwogen bei weitem – zumindest beeindruckten sie mich viel stärker. Im Mittelalter hatten die Pfaffen sicher auch mehr Erfolg mit blutrünstigen Höllenschilderungen als mit der Propagierung eines wunderschönen, leider aber auch todsterbenslangweiligen Paradieses. Mein Tod, so war ich überzeugt, war beschlossene Sache. Blieb die Frage, wann die Nato mich umbringen würde. Klar, dass ich möglichst spät sterben wollte. Mit zwölf Jahren war es meine größte Angst, eine Atombombe auf den Kopf zu bekommen, bevor ich wenigstens einmal ein Mädchen, und zwar am besten Kathrin Kaul, geküsst hatte. Deshalb war ich auch begeisterter Anhänger des Nato-Doppelbeschlusses, denn wenn die NATO nachrüstete, würde sie mich nicht umbringen, bevor sie damit fertig wäre. Und das sollte ein paar Jahre dauern. Außerdem, ich gebe es zu, ein bisschen schmeichelte mir der Gedanke, dass mein Tod der NATO noch ein paar Milliarden Dollar mehr wert war. Mit der westdeutschen Friedensbewegung, die das Geld lieber für humanitäre Zwecke, den Umweltschutz und Ähnliches ausgeben wollte, konnte ich damals wenig anfangen. Immer 22

wieder wiesen im Fernsehen unrasierte, vor irgendwelchen NATOBasen im Matsch hockende Kuttenträger darauf hin, dass man keine neuen Raketen bräuchte, weil bereits genug alte Raketen da wären, um mich zehnmal zu töten. Ich fand diese Argumentation knauserig. Wenn schon, dann wollte ich bitteschön mit neuester Technik, mit dem Feinsten vom Feinen in die Luft gejagt werden. Und zwar mindestens zwanzigmal. Denen wäre es wahrscheinlich am liebsten gewesen, man hätte mich mit einem Holzknüppel erschlagen und das gesparte Geld für Kindertagesstätten und Öko-Bauernhöfe ausgegeben. »Du spinnst ja«, sagte Steffen Schmiedke, als wir einmal in der großen Pause von der Club-Gaststätte, in der wir täglich unsere Schulspeisung erhielten und (bis auf die Joghurtbecher) sofort wieder wegschütteten, zurück zur Schule gingen. »Die machen die Nachrüstung doch nicht, um ausgerechnet dich umzubringen!« »Ach nee? Warum denn dann, hä? Nur zum Spaß oder was?« »Quatsch … uns alle wollnse umbring!« »Ja klar, ihr geht mit hops, wenn sie mich am Arsch kriegen.« Steffen beharrte auf seinem Standpunkt: »Die wolln dich doch gar nicht am Arsch kriegen … dein Arsch interessiert die doch gar nicht.« »Und warum dann die Atomraketen? Geh ich vielleicht nicht drauf, wenn die explodieren?« »Jaja schon. Ich weiß bloß nicht, wie du darauf kommst, dass die extra für dich da sind … guck mal, da könnt ich genauso gut behaupten, die ganze NATO will bloß mich umbringen!« »Klar kannste das behaupten. Aber haste Beweise?« In diesem Moment platschte es laut und Joghurt spritzte an unsere Beine. »Atom-Alarm!« brüllte Enrico Köhler 20 Meter hinter uns und holte schon Schwung, um den nächsten Joghurtbecher zu schmeißen. Verdammt, Steffen und ich hatten mit unserem Vorrat schon die Mädchen beworfen und konnten Enricos Erstschlag nichts entgegensetzen. Die Vergeltung traf ihn 15 Minuten später im Bioraum, wo Stef23


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Ausflug nach Irgendwo

Schreiben, ja schreiben muss man in Kaffeehäusern. Das war schon so ziemlich alles, was ich darüber wusste. Aber da ich nun mal unwiderruflich beschlossen hatte, Schriftsteller zu werden, klammerte ich mich an diesen Strohhalm und suchte von Zeit zu Zeit eines dieser Etablissements in der näheren Umgebung auf. So auch an jenem denkwürdigen Tage … Ich betrat ein Café in einem der verwinkelten Seitengässchen im Scheunenviertel. Zum Glück war es leer. Das empfinde ich immer als sehr angenehm, wenn ich schreiben will. Nachdem ich mich in die entlegenste Ecke verkrümelt hatte, das übliche Ritual: 1. Das Verschieben der Stillung meines Hungers auf später – ist ja auch zu teuer, immer in Kaffeehäusern und Schankwirtschaften zu speisen. 2. Einordnen der Kellnerin auf einer Skala von 1 bis 10. 3. Bestellung eines Kaffees – und schließlich 4. Autosuggestion mit Hilfe des vor mich hingemurmelten Mantras Zum Rauchen ist es um diese Zeit ja nun wirklich noch zu früh … Der Kaffee war sehr heiß, und in diesem Fall ist in meiner Carpe diem-Liturgie die Bestellung eines alkoholfreien Kaltgetränks vorgesehen. »Einen Apfelsaft, bitte«, hauchte ich, einen auf vergeistigt machend, der sehr hübschen Kellnerin sachte entgegen. Mein Apfelsaft kam in dem Augenblick, da ich mein Notizbüchlein aufklappte. Diese frappierende Koinzidenz machte mir Angst. Was für ein Tag! Ein Tag, der so anfing, barg Äonen latenter Unwägbarkeiten in sich. Ergriffen lehnte ich mich zurück, langte nach meinem Glas und schloss die Augen. Nippend genoss ich vom Safte der Äpfel. Die 40

frisch-kühle Fruchtsüße rinnsalte entlang der Fallrohre und Steigleitungen zwischen Nase und Blase. Oh, welch köstliches Apfelnass! Als ich meine Augen vorsichtig wieder öffnete, war es passiert. An meinen Tisch hatte sich ein Mann gesetzt, ein fremder, aber zweifelsohne ein schöner. Eine Mischung vielleicht aus Armin MuellerStahl und Sean Connery. Ich mochte ihn vom ersten Moment an, obwohl mir augenblicklich klar war, dass ich nun nicht mehr zum Schreiben kommen würde. Er bestellte eine sehr teure, alte Weinsorte, einen 64er Bordeaux Chateau Branaire-Ducro, der mit Sicherheit nicht vorrätig war. Aber anstandslos brachte die Kellnerin den Wein, hielt ihm die Flasche vor die Kennernase und mit einem freundlichen Nicken forderte er sie auf, sie zu öffnen. Als ich das leicht angestaubte Etikett erblickte, durchschauerte es mich. Es war tatsächlich ein echter Branaire-Ducro aus dem Weingut von Saint Julienne. Vorsichtshalber überflog ich heimlich die Weinkarte, aber ich hatte Recht, diese Sorte war nicht verzeichnet. »Für Sie auch ein Gläschen?«, fragte er mich. »Ja, gern«, war alles, was ich sagen konnte. Er winkte der Kellnerin sehr diskret zu, sie entfernte sich – mit einem unmerklichen Augenzwinkern, wie mir schien – und er schenkte uns selbst ein. Dann holte er ein goldenes Etui aus seiner Jackettinnentasche und bot mir von seinen Zigaretten an, auf deren Mundstück ein Wappen und vermutlich seine Initialen gedruckt waren. Ich nahm dankend an und war äußerst verwirrt. »Sie schreiben?«, begann er leise und nahm sein Glas in die Hand. »Bitte, trinken Sie, der Wein ist recht gut!«, fuhr er fort, als er mein Zögern bemerkte. Ich bin wahrlich kein Weinkenner, aber dieser Wein war wirklich gut. »Ja«, sprach ich nun meinerseits, »ab und zu schreibe ich Geschichten, aber manchmal fällt mir einfach nichts ein, und dann versuche ich ein paar Tricks, um die Geschichten aus ihren Verstecken zu locken. Aber leider ist es oft so wie mit diesen Pistazien, 41


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Ausflug nach Irgendwo

Schreiben, ja schreiben muss man in Kaffeehäusern. Das war schon so ziemlich alles, was ich darüber wusste. Aber da ich nun mal unwiderruflich beschlossen hatte, Schriftsteller zu werden, klammerte ich mich an diesen Strohhalm und suchte von Zeit zu Zeit eines dieser Etablissements in der näheren Umgebung auf. So auch an jenem denkwürdigen Tage … Ich betrat ein Café in einem der verwinkelten Seitengässchen im Scheunenviertel. Zum Glück war es leer. Das empfinde ich immer als sehr angenehm, wenn ich schreiben will. Nachdem ich mich in die entlegenste Ecke verkrümelt hatte, das übliche Ritual: 1. Das Verschieben der Stillung meines Hungers auf später – ist ja auch zu teuer, immer in Kaffeehäusern und Schankwirtschaften zu speisen. 2. Einordnen der Kellnerin auf einer Skala von 1 bis 10. 3. Bestellung eines Kaffees – und schließlich 4. Autosuggestion mit Hilfe des vor mich hingemurmelten Mantras Zum Rauchen ist es um diese Zeit ja nun wirklich noch zu früh … Der Kaffee war sehr heiß, und in diesem Fall ist in meiner Carpe diem-Liturgie die Bestellung eines alkoholfreien Kaltgetränks vorgesehen. »Einen Apfelsaft, bitte«, hauchte ich, einen auf vergeistigt machend, der sehr hübschen Kellnerin sachte entgegen. Mein Apfelsaft kam in dem Augenblick, da ich mein Notizbüchlein aufklappte. Diese frappierende Koinzidenz machte mir Angst. Was für ein Tag! Ein Tag, der so anfing, barg Äonen latenter Unwägbarkeiten in sich. Ergriffen lehnte ich mich zurück, langte nach meinem Glas und schloss die Augen. Nippend genoss ich vom Safte der Äpfel. Die 40

frisch-kühle Fruchtsüße rinnsalte entlang der Fallrohre und Steigleitungen zwischen Nase und Blase. Oh, welch köstliches Apfelnass! Als ich meine Augen vorsichtig wieder öffnete, war es passiert. An meinen Tisch hatte sich ein Mann gesetzt, ein fremder, aber zweifelsohne ein schöner. Eine Mischung vielleicht aus Armin MuellerStahl und Sean Connery. Ich mochte ihn vom ersten Moment an, obwohl mir augenblicklich klar war, dass ich nun nicht mehr zum Schreiben kommen würde. Er bestellte eine sehr teure, alte Weinsorte, einen 64er Bordeaux Chateau Branaire-Ducro, der mit Sicherheit nicht vorrätig war. Aber anstandslos brachte die Kellnerin den Wein, hielt ihm die Flasche vor die Kennernase und mit einem freundlichen Nicken forderte er sie auf, sie zu öffnen. Als ich das leicht angestaubte Etikett erblickte, durchschauerte es mich. Es war tatsächlich ein echter Branaire-Ducro aus dem Weingut von Saint Julienne. Vorsichtshalber überflog ich heimlich die Weinkarte, aber ich hatte Recht, diese Sorte war nicht verzeichnet. »Für Sie auch ein Gläschen?«, fragte er mich. »Ja, gern«, war alles, was ich sagen konnte. Er winkte der Kellnerin sehr diskret zu, sie entfernte sich – mit einem unmerklichen Augenzwinkern, wie mir schien – und er schenkte uns selbst ein. Dann holte er ein goldenes Etui aus seiner Jackettinnentasche und bot mir von seinen Zigaretten an, auf deren Mundstück ein Wappen und vermutlich seine Initialen gedruckt waren. Ich nahm dankend an und war äußerst verwirrt. »Sie schreiben?«, begann er leise und nahm sein Glas in die Hand. »Bitte, trinken Sie, der Wein ist recht gut!«, fuhr er fort, als er mein Zögern bemerkte. Ich bin wahrlich kein Weinkenner, aber dieser Wein war wirklich gut. »Ja«, sprach ich nun meinerseits, »ab und zu schreibe ich Geschichten, aber manchmal fällt mir einfach nichts ein, und dann versuche ich ein paar Tricks, um die Geschichten aus ihren Verstecken zu locken. Aber leider ist es oft so wie mit diesen Pistazien, 41


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Uli Hannemann

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Deutschstunde

An der Kasse im Bauhaus Hasenheide stehe ich mit nichts als zwei Abdeckplanen in der Schlange. Es dauert ewig, weil vor mir die ganzen handwerklich begabten Idioten mit ihrer Selbst-ist-der-MannScheiße stehen, die natürlich viel zu sperrig ist, um sie mal eben über den Scanner zu ziehen. Mein Blick schweift müßig durch die trockene Baumarktluft und bleibt an einem Schild hängen, das über meiner wie auch jeder anderen Kasse befestigt ist: »Bei Einkäufen über 250 Euro ist die ECKarte nur in Verbindung eines Personalausweises gültig.« Das ist falsch! Falsches Deutsch! Triumphierend blicke ich mich um: sicher habe ich das als Einziger gemerkt – von diesen einseitig veranlagten Bastelaffen kriegt das doch im Leben keiner mit. Aber das Bauhaus hätte es wenigstens mitbekommen müssen. Als ich dran bin, mache ich die Kassiererin auf den Fehler aufmerksam: »Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf ...« Ich darf nicht. Ich wollte mit meiner Schlauheit punkten und habe mich vollkommen verrechnet. Sie zeigt sich geradezu persönlich getroffen – die junge Frau Bauhaus kassiert hier offenbar noch selbst, eine hemdsärmelige und dabei nicht unhübsche Person. In ihren Augen bin ich genau das, wofür sie mich bereits hundert Meter gegen den Wind und schon am Ende der Schlange gehalten hat: Ein Altstudent, ein Klugscheißer, ein rotes Tuch – eine linke Gesinnung, zwei linke Hände und drei linke Bemerkungen, mit denen ich sie nur bestätigt habe: »›Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf‹«, denkt sie gewiss, »huhu und heititei – wichs doch in deine Philosophiebücher«, und mustert mich wie ein besonders ekliges Insekt. 58

»Hauptsache, jeder versteht’s«, presst sie schließlich mühsam beherrscht heraus. »Ich wollte doch nur ...«, stottere ich wider besseres Wissen, denn ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Was bilde ich mir bloß ein? Das ist ein Heimwerkermarkt und kein Germanistenseminar. Ich sollte froh sein, dass jemand wie ich hier überhaupt bedient wird, mit meiner Hornbrille und meinem Nadelstreifenjackett. Hatte ich etwa geglaubt, ich bekäme für meine neunmalkluge Heldentat vom alten Herrn Bauhaus die Hand seiner Tochter und das halbe Bauhaus dazu? »Ich hab das auch nicht geschrieben«, sagt sie kurz und lässt offen, wer das geschrieben hat. Loyal deckt sie ihren armen alten Vater gegen Spott und ungerechte Anfeindungen. Sämtliche Streitigkeiten haben intern zu bleiben. Bestimmt lässt es sich der Alte nicht nehmen, jedes Schild selber zu malen. »Ich schreib das«, beharrt er altersstarrsinnig – »Bitte nicht, Vater«, rufen Mutter und Tochter im Chor, wohl wissend, dass er einfach andere Qualitäten hat, doch wie immer setzt er sich durch. Eines Tages wird hoffentlich ein Mann kommen für seine Tochter, kein halbschwuler Bücherwurm, sondern ein kraftvoller Schwiegersohn, der die Deckendübel mit den Zähnen zieht und eine Schwungschlitzschnarre von einer Seitspannsirre unterscheiden kann. Dem wird er dann beruhigt alles überlassen– naja, fast alles, die Schilder wird er vielleicht noch weiter schreiben. »Mein Vater ist ein einfacher Mann«, kann sie sich am Ende nicht mehr beherrschen – allzu tief habe ich sie in ihrer Familienehre verletzt. »Er kann kaum lesen und schreiben.« »Das sehe ich«, verkneife ich mir im letzten Moment zu sagen, und sie fährt fort: »Aber er ist ein guter, ein fleißiger, ein tatkräftiger Mensch. Nach dem Krieg hat er Tag und Nacht Schrauben gesammelt, später dann Dübel. Er hat die Farbe von alten Trümmerhäusern gekratzt und in aus Stahlhelmen geschmolzene Eimer gefüllt. Er hat all das hier aufgebaut, mit seinen eigenen Händen, und 59


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Deutschstunde

An der Kasse im Bauhaus Hasenheide stehe ich mit nichts als zwei Abdeckplanen in der Schlange. Es dauert ewig, weil vor mir die ganzen handwerklich begabten Idioten mit ihrer Selbst-ist-der-MannScheiße stehen, die natürlich viel zu sperrig ist, um sie mal eben über den Scanner zu ziehen. Mein Blick schweift müßig durch die trockene Baumarktluft und bleibt an einem Schild hängen, das über meiner wie auch jeder anderen Kasse befestigt ist: »Bei Einkäufen über 250 Euro ist die ECKarte nur in Verbindung eines Personalausweises gültig.« Das ist falsch! Falsches Deutsch! Triumphierend blicke ich mich um: sicher habe ich das als Einziger gemerkt – von diesen einseitig veranlagten Bastelaffen kriegt das doch im Leben keiner mit. Aber das Bauhaus hätte es wenigstens mitbekommen müssen. Als ich dran bin, mache ich die Kassiererin auf den Fehler aufmerksam: »Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf ...« Ich darf nicht. Ich wollte mit meiner Schlauheit punkten und habe mich vollkommen verrechnet. Sie zeigt sich geradezu persönlich getroffen – die junge Frau Bauhaus kassiert hier offenbar noch selbst, eine hemdsärmelige und dabei nicht unhübsche Person. In ihren Augen bin ich genau das, wofür sie mich bereits hundert Meter gegen den Wind und schon am Ende der Schlange gehalten hat: Ein Altstudent, ein Klugscheißer, ein rotes Tuch – eine linke Gesinnung, zwei linke Hände und drei linke Bemerkungen, mit denen ich sie nur bestätigt habe: »›Wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf‹«, denkt sie gewiss, »huhu und heititei – wichs doch in deine Philosophiebücher«, und mustert mich wie ein besonders ekliges Insekt. 58

»Hauptsache, jeder versteht’s«, presst sie schließlich mühsam beherrscht heraus. »Ich wollte doch nur ...«, stottere ich wider besseres Wissen, denn ich weiß nicht mehr, was ich eigentlich wollte. Was bilde ich mir bloß ein? Das ist ein Heimwerkermarkt und kein Germanistenseminar. Ich sollte froh sein, dass jemand wie ich hier überhaupt bedient wird, mit meiner Hornbrille und meinem Nadelstreifenjackett. Hatte ich etwa geglaubt, ich bekäme für meine neunmalkluge Heldentat vom alten Herrn Bauhaus die Hand seiner Tochter und das halbe Bauhaus dazu? »Ich hab das auch nicht geschrieben«, sagt sie kurz und lässt offen, wer das geschrieben hat. Loyal deckt sie ihren armen alten Vater gegen Spott und ungerechte Anfeindungen. Sämtliche Streitigkeiten haben intern zu bleiben. Bestimmt lässt es sich der Alte nicht nehmen, jedes Schild selber zu malen. »Ich schreib das«, beharrt er altersstarrsinnig – »Bitte nicht, Vater«, rufen Mutter und Tochter im Chor, wohl wissend, dass er einfach andere Qualitäten hat, doch wie immer setzt er sich durch. Eines Tages wird hoffentlich ein Mann kommen für seine Tochter, kein halbschwuler Bücherwurm, sondern ein kraftvoller Schwiegersohn, der die Deckendübel mit den Zähnen zieht und eine Schwungschlitzschnarre von einer Seitspannsirre unterscheiden kann. Dem wird er dann beruhigt alles überlassen– naja, fast alles, die Schilder wird er vielleicht noch weiter schreiben. »Mein Vater ist ein einfacher Mann«, kann sie sich am Ende nicht mehr beherrschen – allzu tief habe ich sie in ihrer Familienehre verletzt. »Er kann kaum lesen und schreiben.« »Das sehe ich«, verkneife ich mir im letzten Moment zu sagen, und sie fährt fort: »Aber er ist ein guter, ein fleißiger, ein tatkräftiger Mensch. Nach dem Krieg hat er Tag und Nacht Schrauben gesammelt, später dann Dübel. Er hat die Farbe von alten Trümmerhäusern gekratzt und in aus Stahlhelmen geschmolzene Eimer gefüllt. Er hat all das hier aufgebaut, mit seinen eigenen Händen, und 59


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Morgen werde ich mich dafür hassen, ich Schlampe

»Habt ihr Kondome benutzt?« »Ja.« »Scheiße.« »Du sagst es.« »Torsten, du bist ein Idiot.« Torsten ist ein Idiot. Um ihm das zu erzählen, haben wir uns extra getroffen. In der Kneipe. »Können wir uns heute Abend treffen«, hatte er mich am Telefon gefragt, da war es ungefähr Mittagszeit gewesen, »ich muss dir was erzählen. Ich habe eine riesige Dummheit gemacht.« Also trafen wir uns am Abend in der Kneipe. »Ich habe doch vorgestern diese Frau kennengelernt, in Leipzig auf der Messe«, sagt Torsten, und dann folgt eine Aufzählung dessen, was er mit der Frau sonst noch getan hatte: ausgehen, trinken, tanzen. Schließlich landeten sie in seinem Hotelzimmer, wo sie miteinander schliefen. All das erzählt mir Torsten, er sagt: »Also wir sind dann am Abend gemeinsam ausgegangen, haben getanzt und getrunken, und na ja, sind dann bei mir im Hotelzimmer gelandet. Tja, und dann haben wir miteinander geschlafen.« »War es schön?«, frage ich ihn, ob es schön gewesen sei. »Ja schon, aber … also … ich habe eine Dummheit gemacht.« »Habt ihr Kondome benutzt?« »Ja.« »Scheiße.« »Du sagst es.« 120

»Torsten, du bist ein Idiot.« Torsten ist wirklich ein Idiot. So würde er es nie zu einer Rente bringen. »So wirst du es nie zu einer Rente bringen«, sage ich. Er hatte die Frau nie wieder gesehen. Die Messe war zu Ende. Sie kam wer weiß wo her, und da war sie jetzt auch wieder. Er war nach Berlin zurückgekehrt. Keine Telefonnummer, keine Adresse, nicht mal den Namen ihrer Firma hatte Torsten sich gemerkt. Selbst ohne Kondome, selbst wenn sie schwanger geworden wäre, wäre es schwer genug geworden, sie ausfindig zu machen. Komisch, da fällt mir ein, früher hätte man sich nach solch einer Gelegenheit alle zehn Finger geleckt. Der perfekte One-NightStand. Und dann auch noch mit Kondom. Das wäre damals perfekt gewesen. Damals, als sie noch nicht angekündigt hatten, Kinderlosen die Rente zu kürzen. Seit klar war, dass Kinderlose bei der Rente alt aussehen würden, war das alles andere als perfekt, es war eine Rieseneselei. Hätte Torsten die unbekannte Frau geschwängert, wäre seine Rente sicher gewesen. Sie musste aber auch ganz schön verpeilt gewesen sein. Kondome, darauf ließ sich doch sonst keine Frau unter fünfzig mehr ein. Es wollte ja keine kinderlos bleiben, wegen der Rente. Kein Produkt verschwand so schnell und vollständig vom Markt wie die Antibabypille. Dafür macht die Pharmaindustrie den Reibach jetzt mit Vaterschaftstests. Und die ach so wilden 60er waren ein jugendfreier Witz gegen das verzweifelte Treiben, mit dem heutzutage jeder versucht, sich eine kümmerliche Rente zusammenzubumsen. Es hatte mit dem Kölner Wirtschaftswissenschaftler Johann Eekhoff begonnen, der 2006 gefordert hatte, die Rentenansprüche für Kinderlose zu kürzen. Auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis schlug das vor. Am Anfang waren alle entrüstet, alle lehnten es ab, aber es war wie mit den Studiengebühren oder den EinEuro-Jobs in der Wirtschaft, so wie mit dem maschinenlesbaren Personalausweis und den Kombilöhnen. Ein paar Jahre später war es bereits eine Tatsache, und die Kürzung war mittlerweile auch total. 121


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Morgen werde ich mich dafür hassen, ich Schlampe

»Habt ihr Kondome benutzt?« »Ja.« »Scheiße.« »Du sagst es.« »Torsten, du bist ein Idiot.« Torsten ist ein Idiot. Um ihm das zu erzählen, haben wir uns extra getroffen. In der Kneipe. »Können wir uns heute Abend treffen«, hatte er mich am Telefon gefragt, da war es ungefähr Mittagszeit gewesen, »ich muss dir was erzählen. Ich habe eine riesige Dummheit gemacht.« Also trafen wir uns am Abend in der Kneipe. »Ich habe doch vorgestern diese Frau kennengelernt, in Leipzig auf der Messe«, sagt Torsten, und dann folgt eine Aufzählung dessen, was er mit der Frau sonst noch getan hatte: ausgehen, trinken, tanzen. Schließlich landeten sie in seinem Hotelzimmer, wo sie miteinander schliefen. All das erzählt mir Torsten, er sagt: »Also wir sind dann am Abend gemeinsam ausgegangen, haben getanzt und getrunken, und na ja, sind dann bei mir im Hotelzimmer gelandet. Tja, und dann haben wir miteinander geschlafen.« »War es schön?«, frage ich ihn, ob es schön gewesen sei. »Ja schon, aber … also … ich habe eine Dummheit gemacht.« »Habt ihr Kondome benutzt?« »Ja.« »Scheiße.« »Du sagst es.« 120

»Torsten, du bist ein Idiot.« Torsten ist wirklich ein Idiot. So würde er es nie zu einer Rente bringen. »So wirst du es nie zu einer Rente bringen«, sage ich. Er hatte die Frau nie wieder gesehen. Die Messe war zu Ende. Sie kam wer weiß wo her, und da war sie jetzt auch wieder. Er war nach Berlin zurückgekehrt. Keine Telefonnummer, keine Adresse, nicht mal den Namen ihrer Firma hatte Torsten sich gemerkt. Selbst ohne Kondome, selbst wenn sie schwanger geworden wäre, wäre es schwer genug geworden, sie ausfindig zu machen. Komisch, da fällt mir ein, früher hätte man sich nach solch einer Gelegenheit alle zehn Finger geleckt. Der perfekte One-NightStand. Und dann auch noch mit Kondom. Das wäre damals perfekt gewesen. Damals, als sie noch nicht angekündigt hatten, Kinderlosen die Rente zu kürzen. Seit klar war, dass Kinderlose bei der Rente alt aussehen würden, war das alles andere als perfekt, es war eine Rieseneselei. Hätte Torsten die unbekannte Frau geschwängert, wäre seine Rente sicher gewesen. Sie musste aber auch ganz schön verpeilt gewesen sein. Kondome, darauf ließ sich doch sonst keine Frau unter fünfzig mehr ein. Es wollte ja keine kinderlos bleiben, wegen der Rente. Kein Produkt verschwand so schnell und vollständig vom Markt wie die Antibabypille. Dafür macht die Pharmaindustrie den Reibach jetzt mit Vaterschaftstests. Und die ach so wilden 60er waren ein jugendfreier Witz gegen das verzweifelte Treiben, mit dem heutzutage jeder versucht, sich eine kümmerliche Rente zusammenzubumsen. Es hatte mit dem Kölner Wirtschaftswissenschaftler Johann Eekhoff begonnen, der 2006 gefordert hatte, die Rentenansprüche für Kinderlose zu kürzen. Auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis schlug das vor. Am Anfang waren alle entrüstet, alle lehnten es ab, aber es war wie mit den Studiengebühren oder den EinEuro-Jobs in der Wirtschaft, so wie mit dem maschinenlesbaren Personalausweis und den Kombilöhnen. Ein paar Jahre später war es bereits eine Tatsache, und die Kürzung war mittlerweile auch total. 121



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