Gruppe B Bernadette La Hengst – Deutschland Anne Hahn – Kroatien Jochen Schmidt – Österreich Daniela Böhle – Polen Gruppe C Uli Hannemann – Niederlande Annett und Friedrich Gröschner – Italien Friederike von Koenigswald – Frankreich Ina Bösecke – Rumänien Gruppe D Norbert Kron – Griechenland Florian Werner – Russland Marion Pfaus – Spanien Torsten Schulz – Schweden
Gesamtspielzeit: 60 min
Mit Texten von: Ahne, Daniela Böhle, Ina Bösecke, Jan Böttcher, Gabriele Damtew, Annett und Friedrich Gröschner, Anne Hahn, Uli Hannemann, Bernadette La Hengst, Friederike von Koenigswald, Norbert Kron, Marion Pfaus, Jochen Schmidt, Torsten Schulz, Florian Werner, Frank Willmann
Au f C D
Jan Böttcher – Schweiz Ahne – Tschechien Bernadette La Hengst – Deutschland Jochen Schmidt – Österreich Uli Hannemann – Niederlande Marion Pfaus – Spanien u.a.
www.vo land-quist.de
€ 14,80 (D) ISBN 978-3-938424-30-8
Der lange Weg nach Wien
Gruppe A Gabriele Damtew – Portugal Frank Willmann – Türkei Jan Böttcher – Schweiz Ahne – Tschechien
Die literarische Nachlese zur Fußballeuropameisterschaft 2008! Jedem Autor wurde eine Fußballnation zugelost, damit er ihr zum Durchbruch verhilft – künstlerisch, und fußballerisch sowieso. Alle Autoren gaben alles, um Europameister zu werden. Daheim vor dem Fernseher und im echten Leben – nach dem Motto von Joachim Streich: „Ich wusste, du musst da sein, wo der Ball ist“.
C. Meueler, T. Schulz, F. Willmann (Hg.)
Die EM-Landeskunde zum Hören
Christof Meueler, Torsten Schulz, Frank Willmann (Hg.)
Der lange Weg nach Wien Das definitive und endgültige Autorenfußballeuropameisterschaftsbuch 2008
Griechenland
Hauptsache Katharsis Wenn ich zuhause auf dem Olymp mit der Fernbedienung auf der Couch sitze – Hera stellt mir die Olivenflips hin und Hebe bringt mir den Retsina –, kann ich mich immer nur über diesen neoreligiösen Kult amüsieren, den die neumodischen Sekten vor den Massen ihrer Gläubigen vollziehen. Wenn ihre Athleten bei einem Fußballspiel ein Tor geschossen haben, rennen sie wie die Irren auf die Stadiontribünen zu, reißen sich ihr Trikot über den Kopf und schlagen sich mit den Fäusten in ritueller Ekstase gegen das T-Shirt, das sie darunter tragen und auf dem geschrieben steht: »Jésus mi amor«. Oder: »Thank you Jesus!« Oder: »Jesus loves you«. Man stelle sich das vor, ich hätte Gekas, Kyrgiakos oder Charisteas dazu gebracht, dass sie nach jedem Tor auf unsere Fankurve zustürmen und sich mit den Fäusten auf ein T-Shirt mit dem Aufdruck trommeln: »Zeus ti praxi«. »Zeus loves you!« »Efcharisto poli Zeus!« Jaja: Das Stadion als religiöser Raum, die Sakralisierung des Sportes, die mediale Kathedrale, die durch die virtuelle Glaubensgemeinschaft aller weltweit Zuschauenden gestiftet wird, mit den Kommentatoren als Predigern und Spielern als Propheten blabla ... Das ist mir als Vertreter der attischen Schule zutiefst fremd und verhasst. Und so belustigt mich der Gedanke, dass diese selbsternannte portugiesische Elf der christlichen Seefahrt nun schon dreimal gegen uns kein Land gesehen hat, allen voran ihr narzisstischer Bootsmaat mit dem Servierkellner-Gesicht, CHRISTiano Ronaldo, der in den letzten 90 Minuten kein einziges Mal sein Trikot über den Kopf zu ziehen vermochte (obwohl ihm das eigentlich besser zu Gesicht steht als sein dümmliches Straßencafé-Grinsen). Und wem haben wir das zu verdanken – außer mir, meine ich? Meinem Heldensohn natürlich, den ich einst, als Amphitryon verkleidet, mit Alkmene zeugte und dem ich nach einer kleinen Klüngelei mit dem hellenischen Fußballgötterverband den Trainerposten zuschanzte, Otto Rehakles. Niemand hat größere Weisheit in den Fußball getragen als er: »Die Wahrheit liegt auf dem Platz« (Apologie 311a), »Leichte Bälle zu halten ist einfach. Schwierige Bälle zu halten ist immer schwierig« (Stadium 96f), »Wenn ich heute Kapitän bin und das Schiff sinkt und alle müssen helfen, dann kann doch der Koch
16
Griechenland nicht kommen und sagen: ›Ich kann nur die Bratpfanne halten‹« (Das Gastmahl, 876d). Es ist die sokratische Weltbetrachtung, die ihn zum Halbgott macht, und jenes Rehakleische Spielsystem, das keineswegs rückwärtsgewandt und konservativ ist, wie viele es sagen, sondern – antik. Es war schließlich mit demselben 4:3:3-System, mit dem die Griechen unter meinen Augen vor 3.000 Jahren die Festung am Dardanellenberg einnahmen und den FC Troja in die Knie zwangen. Riss Libero Achill sich die Rüstung über den Kopf, als er Hektor besiegte und um die Stadt schleifte? Unsinn, denn es ging nicht um sakralen Bockmist, es ging um Eifersucht, Ehre, Verrat, Begehren, sprich um das zutiefst Menschlich-Allzumenschliche, genau wie in den Dramen, die meine Hofschreiber Sophokles und Euripides zu Papyrus brachten. Und auch der taktische Winkelzug in der Nachspielzeit, mit der Odysseus schließlich das Bollwerk der trojanischen Abwehr überwand, jene Schwalbe, die damals noch Pferd genannt wurde, macht noch keineswegs einen Sommer mit Weltkirchentag, der als den Zweck heiligendes Mittel anzusehen wäre, sondern ist und bleibt schlichtweg machthungrig und hinterhältig: »Modern spielt, wer gewinnt.« Ein Satz, der von Homer stammen könnte. Aber er stammt von meinem großen Kuhstallausmister Rehakles. Keine Frage, es kann nur eine Heldenschar geben, die Europameister wird: die meine. Oder eben auch nicht. Von hier oben, aus olympischer Perspektive, blicke ich erneut mit meiner göttlichen Fernbedienung auf das Kampfspektakel und halte mich raus. Sollen sie gewinnen oder untergehen – ob Komödie oder Tragödie, mir doch egal – Hauptsache Drama, Hauptsache Katharsis, Aufwallung von Gefühlen und Reinigung derselben. Das griechische Drama ist unvorhersehbar wie der Fußball, menschlich-unmenschlich, mit seinem ganzen La-OlaChor oder der Abseitsfalle als gelb-roter Peripetie usw. usf. Nur eins ist sicher: Die Portugiesen werden garantiert nicht siegen. Eher holen meine trojanischen Türken den Cup an den Bosporus, als das die narzisstischen Leichtfuß-Matrosen ihren Fußball-Fado überwinden. »Thank you Mohammed!« »Mohammed loves you!« Aber jetzt schnell weg – da drüben kommt schon wieder Hera, um mir ein paar Backpflaumen zu bringen. Und ich will bis zum Anpfiff unbedingt noch ein paar uneheliche Kinder zeugen. Norbert Kron
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Griechenland
Hauptsache Katharsis Wenn ich zuhause auf dem Olymp mit der Fernbedienung auf der Couch sitze – Hera stellt mir die Olivenflips hin und Hebe bringt mir den Retsina –, kann ich mich immer nur über diesen neoreligiösen Kult amüsieren, den die neumodischen Sekten vor den Massen ihrer Gläubigen vollziehen. Wenn ihre Athleten bei einem Fußballspiel ein Tor geschossen haben, rennen sie wie die Irren auf die Stadiontribünen zu, reißen sich ihr Trikot über den Kopf und schlagen sich mit den Fäusten in ritueller Ekstase gegen das T-Shirt, das sie darunter tragen und auf dem geschrieben steht: »Jésus mi amor«. Oder: »Thank you Jesus!« Oder: »Jesus loves you«. Man stelle sich das vor, ich hätte Gekas, Kyrgiakos oder Charisteas dazu gebracht, dass sie nach jedem Tor auf unsere Fankurve zustürmen und sich mit den Fäusten auf ein T-Shirt mit dem Aufdruck trommeln: »Zeus ti praxi«. »Zeus loves you!« »Efcharisto poli Zeus!« Jaja: Das Stadion als religiöser Raum, die Sakralisierung des Sportes, die mediale Kathedrale, die durch die virtuelle Glaubensgemeinschaft aller weltweit Zuschauenden gestiftet wird, mit den Kommentatoren als Predigern und Spielern als Propheten blabla ... Das ist mir als Vertreter der attischen Schule zutiefst fremd und verhasst. Und so belustigt mich der Gedanke, dass diese selbsternannte portugiesische Elf der christlichen Seefahrt nun schon dreimal gegen uns kein Land gesehen hat, allen voran ihr narzisstischer Bootsmaat mit dem Servierkellner-Gesicht, CHRISTiano Ronaldo, der in den letzten 90 Minuten kein einziges Mal sein Trikot über den Kopf zu ziehen vermochte (obwohl ihm das eigentlich besser zu Gesicht steht als sein dümmliches Straßencafé-Grinsen). Und wem haben wir das zu verdanken – außer mir, meine ich? Meinem Heldensohn natürlich, den ich einst, als Amphitryon verkleidet, mit Alkmene zeugte und dem ich nach einer kleinen Klüngelei mit dem hellenischen Fußballgötterverband den Trainerposten zuschanzte, Otto Rehakles. Niemand hat größere Weisheit in den Fußball getragen als er: »Die Wahrheit liegt auf dem Platz« (Apologie 311a), »Leichte Bälle zu halten ist einfach. Schwierige Bälle zu halten ist immer schwierig« (Stadium 96f), »Wenn ich heute Kapitän bin und das Schiff sinkt und alle müssen helfen, dann kann doch der Koch
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Griechenland nicht kommen und sagen: ›Ich kann nur die Bratpfanne halten‹« (Das Gastmahl, 876d). Es ist die sokratische Weltbetrachtung, die ihn zum Halbgott macht, und jenes Rehakleische Spielsystem, das keineswegs rückwärtsgewandt und konservativ ist, wie viele es sagen, sondern – antik. Es war schließlich mit demselben 4:3:3-System, mit dem die Griechen unter meinen Augen vor 3.000 Jahren die Festung am Dardanellenberg einnahmen und den FC Troja in die Knie zwangen. Riss Libero Achill sich die Rüstung über den Kopf, als er Hektor besiegte und um die Stadt schleifte? Unsinn, denn es ging nicht um sakralen Bockmist, es ging um Eifersucht, Ehre, Verrat, Begehren, sprich um das zutiefst Menschlich-Allzumenschliche, genau wie in den Dramen, die meine Hofschreiber Sophokles und Euripides zu Papyrus brachten. Und auch der taktische Winkelzug in der Nachspielzeit, mit der Odysseus schließlich das Bollwerk der trojanischen Abwehr überwand, jene Schwalbe, die damals noch Pferd genannt wurde, macht noch keineswegs einen Sommer mit Weltkirchentag, der als den Zweck heiligendes Mittel anzusehen wäre, sondern ist und bleibt schlichtweg machthungrig und hinterhältig: »Modern spielt, wer gewinnt.« Ein Satz, der von Homer stammen könnte. Aber er stammt von meinem großen Kuhstallausmister Rehakles. Keine Frage, es kann nur eine Heldenschar geben, die Europameister wird: die meine. Oder eben auch nicht. Von hier oben, aus olympischer Perspektive, blicke ich erneut mit meiner göttlichen Fernbedienung auf das Kampfspektakel und halte mich raus. Sollen sie gewinnen oder untergehen – ob Komödie oder Tragödie, mir doch egal – Hauptsache Drama, Hauptsache Katharsis, Aufwallung von Gefühlen und Reinigung derselben. Das griechische Drama ist unvorhersehbar wie der Fußball, menschlich-unmenschlich, mit seinem ganzen La-OlaChor oder der Abseitsfalle als gelb-roter Peripetie usw. usf. Nur eins ist sicher: Die Portugiesen werden garantiert nicht siegen. Eher holen meine trojanischen Türken den Cup an den Bosporus, als das die narzisstischen Leichtfuß-Matrosen ihren Fußball-Fado überwinden. »Thank you Mohammed!« »Mohammed loves you!« Aber jetzt schnell weg – da drüben kommt schon wieder Hera, um mir ein paar Backpflaumen zu bringen. Und ich will bis zum Anpfiff unbedingt noch ein paar uneheliche Kinder zeugen. Norbert Kron
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Österreich
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Deutschland
Die Erektion als Lebenswerk
Angst essen Schnitzel auf
Je länger die EM dauert, umso weniger bekomme ich vom Spielgeschehen mit. Ich konzentriere mich auf jede Einzelheit und kapiere überhaupt nicht, was passiert. Langer Ball, Kopfball, Foul, Flügelwechsel, Einwurf, Vorstoß zur Grundlinie, Ecke, dasselbe in die andere Richtung, welche Mannschaft ist jetzt besser? Warum wird ausgerechnet der ausgewechselt? Ich würde wahrscheinlich kaum einen Unterschied bemerken, wenn stattdessen eine Partie Pong gesendet würde. Es geht einerseits alles viel zu schnell und andererseits schleppt es sich dahin. Jeder Spieler dieser EM wäre 1970 ein Weltstar gewesen. Aber die österreichische Mannschaft hat zusammen den Marktwert von Ballack. Umso schwerer, gegen sie zu gewinnen. »Wir werden an unsere Grenzen gehen und darüber hinaus«, hat Jogi Löw gesagt. Aber was erwartet die Deutschen jenseits ihrer Grenzen? Die Schmach von Córdoba, die Schande von Gijón und jetzt das Unding von Wien? Dazu durfte es nicht kommen. Minute 4, Gómez nimmt das Tempo raus, dummerweise genau vor der Torlinie. Er hätte alle Kritiker zum Schweigen bringen können, aber er wollte es noch einmal spannend machen. Was haben sie im Trainingslager mit ihm angestellt? Er wirkt, als würde er jede Nacht mit Seifestücken verprügelt. Eine Viertelstunde später taucht im Gegenzug ein Österreicher frei vor Lehmann auf, aber »Lehmann wirkt bei sich«. Minute 41, Jogi Löw wird wegen seiner unerträglich aggressiven Art vom Schiedsrichter auf die Straftribüne geschickt, wo er neben Rotsünder Schweinsteiger Platz nimmt. Hinter ihnen sitzt seit ein paar Jahren Boris Becker und wartet auf den Tod. In der Halbzeitpause wird fleißig gerechnet, die Deutschen brauchen für den Sieg noch ein Tor. Minute 48, Lahm legt, weil sich keiner anbietet, notgedrungen ein Solo ein und wird gefoult. Ballack schießt den Ball aus knapp 100 Metern schnurgerade ins rechte Toreck. Ein Schuss wie eine Erektion, sein Lebenswerk. Das Spiel ist auf den Kopf gestellt. Minute 60, die Szene des Spiels: Weil ihm ein Einwurf verweigert wird, beißt Pogatetz vor Wut in den Ball. Danach ist die Luft raus. Minute 93, Neuville schießt, allgemeiner Torjubel, obwohl es nur die Bande war, aber was spielt das schon für eine Rolle? Hinterher war mal wieder schon vorher alles klar gewesen. Jochen Schmidt
Auf unserem Weg zurück von Zürich, wo wir nahe der Fanmeile an der schönen Limmat die Depression der ausgeschiedenen Schweizer innerhalb von Minuten in euphorischste Stimmung umrocken konnten, obwohl ich fünf Minuten vor Konzertbeginn die Trompete unseres Gastmusikers Roman von den Aeronauten runtergeschmissen und verbogen hatte, gibt es nur eine Richtung: Immer der Nase nach, auf der Suche nach dem Schnitzelparadies. Im romantischen Ansbach kurz vor Nürnberg können wir unsere ausgelaugten Rock’n’Roll-Mägen dann mit Jäger- und Spargelschnitzel besänftigen. Das berühmte Córdoba-Schnitzel steht hier allerdings nicht auf der Speisekarte, zu bitter der Nachgeschmack der Schmach von Córdoba/Argentinien, wo Deutschland bei der WM 1978 mit 2:3 den Österreichern unterlag und dadurch ausschied. Tagelang stärkten sich die Österreicher mit dieser motivationsreichen Kost und versuchten damit, unsere Elf auszuhungern. Endlich in Berlin angekommen, gibt es gleich in der vierten Minute eine riesige Chance für Gómez, der es nach einer fantastischen Vorlage von Klose nicht schafft, den Ball 20 Zentimeter vor dem Tor reinzumachen. Angst essen Schnitzel auf. In der 48. Minute schießt Ballack nach einem Freistoß das rettende Tor. Wie ein befreiter Löwe brüllen er und der Rest der Mannschaft sich in das Viertelfinale. Mein Freund ähnelt heute in seinem neuen weißen Hemd dem Bundestrainer und ist so emotional, dass ich ihn fast des Bettes verweisen muss. Statt ihm werden Löw und sein österreichischer Trainer-Kollege des Platzes verwiesen und müssen sich den Rest des passiv-defensiven Spiels von der Tribüne ansehen.
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Bernadette La Hengst
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Deutschland
Die Erektion als Lebenswerk
Angst essen Schnitzel auf
Je länger die EM dauert, umso weniger bekomme ich vom Spielgeschehen mit. Ich konzentriere mich auf jede Einzelheit und kapiere überhaupt nicht, was passiert. Langer Ball, Kopfball, Foul, Flügelwechsel, Einwurf, Vorstoß zur Grundlinie, Ecke, dasselbe in die andere Richtung, welche Mannschaft ist jetzt besser? Warum wird ausgerechnet der ausgewechselt? Ich würde wahrscheinlich kaum einen Unterschied bemerken, wenn stattdessen eine Partie Pong gesendet würde. Es geht einerseits alles viel zu schnell und andererseits schleppt es sich dahin. Jeder Spieler dieser EM wäre 1970 ein Weltstar gewesen. Aber die österreichische Mannschaft hat zusammen den Marktwert von Ballack. Umso schwerer, gegen sie zu gewinnen. »Wir werden an unsere Grenzen gehen und darüber hinaus«, hat Jogi Löw gesagt. Aber was erwartet die Deutschen jenseits ihrer Grenzen? Die Schmach von Córdoba, die Schande von Gijón und jetzt das Unding von Wien? Dazu durfte es nicht kommen. Minute 4, Gómez nimmt das Tempo raus, dummerweise genau vor der Torlinie. Er hätte alle Kritiker zum Schweigen bringen können, aber er wollte es noch einmal spannend machen. Was haben sie im Trainingslager mit ihm angestellt? Er wirkt, als würde er jede Nacht mit Seifestücken verprügelt. Eine Viertelstunde später taucht im Gegenzug ein Österreicher frei vor Lehmann auf, aber »Lehmann wirkt bei sich«. Minute 41, Jogi Löw wird wegen seiner unerträglich aggressiven Art vom Schiedsrichter auf die Straftribüne geschickt, wo er neben Rotsünder Schweinsteiger Platz nimmt. Hinter ihnen sitzt seit ein paar Jahren Boris Becker und wartet auf den Tod. In der Halbzeitpause wird fleißig gerechnet, die Deutschen brauchen für den Sieg noch ein Tor. Minute 48, Lahm legt, weil sich keiner anbietet, notgedrungen ein Solo ein und wird gefoult. Ballack schießt den Ball aus knapp 100 Metern schnurgerade ins rechte Toreck. Ein Schuss wie eine Erektion, sein Lebenswerk. Das Spiel ist auf den Kopf gestellt. Minute 60, die Szene des Spiels: Weil ihm ein Einwurf verweigert wird, beißt Pogatetz vor Wut in den Ball. Danach ist die Luft raus. Minute 93, Neuville schießt, allgemeiner Torjubel, obwohl es nur die Bande war, aber was spielt das schon für eine Rolle? Hinterher war mal wieder schon vorher alles klar gewesen. Jochen Schmidt
Auf unserem Weg zurück von Zürich, wo wir nahe der Fanmeile an der schönen Limmat die Depression der ausgeschiedenen Schweizer innerhalb von Minuten in euphorischste Stimmung umrocken konnten, obwohl ich fünf Minuten vor Konzertbeginn die Trompete unseres Gastmusikers Roman von den Aeronauten runtergeschmissen und verbogen hatte, gibt es nur eine Richtung: Immer der Nase nach, auf der Suche nach dem Schnitzelparadies. Im romantischen Ansbach kurz vor Nürnberg können wir unsere ausgelaugten Rock’n’Roll-Mägen dann mit Jäger- und Spargelschnitzel besänftigen. Das berühmte Córdoba-Schnitzel steht hier allerdings nicht auf der Speisekarte, zu bitter der Nachgeschmack der Schmach von Córdoba/Argentinien, wo Deutschland bei der WM 1978 mit 2:3 den Österreichern unterlag und dadurch ausschied. Tagelang stärkten sich die Österreicher mit dieser motivationsreichen Kost und versuchten damit, unsere Elf auszuhungern. Endlich in Berlin angekommen, gibt es gleich in der vierten Minute eine riesige Chance für Gómez, der es nach einer fantastischen Vorlage von Klose nicht schafft, den Ball 20 Zentimeter vor dem Tor reinzumachen. Angst essen Schnitzel auf. In der 48. Minute schießt Ballack nach einem Freistoß das rettende Tor. Wie ein befreiter Löwe brüllen er und der Rest der Mannschaft sich in das Viertelfinale. Mein Freund ähnelt heute in seinem neuen weißen Hemd dem Bundestrainer und ist so emotional, dass ich ihn fast des Bettes verweisen muss. Statt ihm werden Löw und sein österreichischer Trainer-Kollege des Platzes verwiesen und müssen sich den Rest des passiv-defensiven Spiels von der Tribüne ansehen.
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Bernadette La Hengst
77
Portugal
2
3
Deutschland
Sekt umgestoßen
Draußen fallen die Bomben
Lieber Nuno, exklusiv für Dich mein Geburtstag als Liveticker! 9.40 Uhr. Die Lage hat sich extrem verschärft, nein, meine nicht das Älterwerden. Habe einen Pickel und Paparazzi überall. Werde neben Zico als Nachfolgerin von Scolari gehandelt. 9.42 Uhr. Bekomme plötzlich Hunger. Muss Brot holen, aber wie? Schleiche mich verschleiert aus dem Haus und brülle sicherheitshalber noch »Türkiye!« 9.59 Uhr. Habe das Brot. Kann vor Aufregung aber nicht essen. 10.00 Uhr. Es klingelt zweimal, der Postmann! Öffne die Tür einen winzigen Spalt. (Leute, Ihr macht es mir nicht leicht, ein Kärtchen im Namen der Mannschaft hätte auch gereicht. Was für Laufwege, muss den Keller für die vielen Weinkisten ausräumen und werde dabei laufend von Fotografen abgeschossen.) 11.12 Uhr. Quittiere schnell den Empfang Deiner Diamantsendung. (Der Typ will einen Tipp von mir, sieht nach BND aus. Kriegt aber nichts aus mir raus, nur meinen Namen.) 11.13 Uhr. Muss mich langmachen, die letzten Tage waren hart, träume davon, nie mehr arbeiten zu müssen. 18.45 Uhr. Wieder wach, esse das Brot und ein klein wenig Wildlachs. 20.45 Uhr, Anpfiff. Immer noch 20.45 Uhr. Bin ganz bei Euch. 21.07 Uhr. Die Deutschen sind ganz bei sich, 0:1. Wo ist Eure Abwehr? 21.11 Uhr. 0:2, ich wiederhole meine Frage. 21.25 Uhr. Goool! Küsse Dein Abbild, gönne mir ein Stück Torte, stoße auf mich, Euch, uns an. 21.35 Uhr. Bringe in der Halbzeit Schuld, Zweikampfverhalten, Arbeitstier und Schweini auf einen Nenner. Weiß, soweit kann kein Fußballer denken. Sende die Nachricht in die Kabine, aber kein Netz, wittere Verrat! 21.45 Uhr. Verbindung steht wieder, verlange von Scolari schnelle Wechsel. Er simst »sim«. 22.01 Uhr. Stürmerfoul Ballack, 1:3. Ach du Schande, Schiriii!! Stoße zu allem Übel auch noch den Sekt um. 22.07 Uhr. Scolari begreift halbwegs, Nani kommt. 22.13 Uhr. Scolari kapiert endlich, Hélder kommt. 22.27 Uhr. Hélder verkürzt auf 2:3, zu spät! 22.36 Uhr. Muss weinen. 00.00 Uhr. Stelle mich dem Blitzlichtgewitter. 00.15 Uhr. Lege mein Amt nieder. Werde Dich aber ewig lieben, Deine Gatinha P.S. Deco go home! Gabriele Damtew
Es ist wieder soweit. Der schwarz-rot-geile Partyotismus hat alle gepackt. Draußen vor meinem Fenster krachen die Böller nach jedem Tor wie zu Silvester, und insgeheim stellt sich jeder vor, das wäre schon das Endspiel. Die deutschen Tugenden verbreiten in der Welt Angst und Schrecken, sagt Günni Netzer, nachdem sich Schweini ein paar Minuten vorher im Interview als Vertreter dieser besagten Eigenschaften geoutet hat. Selbst Oscar und Ella sind vom Fußballfieber ergriffen. Mit drei Jahren ist Doitschland eben ein Land, das so klingt wie ein Ferienort, in dem es nur Zitroneneis und Pizza gibt, und wenn man dann noch gewinnt, ist ja sowieso klar, dass es das beste Land der Welt ist. Fußball ist schon eine sehr populistische Sache. Kurz vor dem Spiel wurden noch alle verteufelt, Löw das Ende prognostiziert, über Schweinsteiger gewitzelt, neben Ronaldo sähe er aus wie ein Provinzpunk, aber sobald die Tore fallen, haben es alle schon immer gewusst. Und die Tore fielen: In der 22. Minute stößt uns Schweini mutig frei zum 1:0. Yogi Löw springt hinter seiner Glasscheibe auf und ab wie ein gefangenes Tier, und Angela Merkel, die beim EU-Gipfel neben Portugals Premierminister sitzt, bekommt eine SMS. Danach bleibt die Stimmung gespannt, und die Spielenergie ist auf beiden Seiten spürbar. Ronaldo kommt nicht zum Zuge, er wird mit einer Doppel-6er-Strategie (was immer das auch sein soll) von der deutschen Abwehr blockiert. In der 26. Minute fällt das zweite Tor, ein Kopfball von Klose. Draußen fallen die Bomben. In der 40. Minute endlich das erste Gegentor der Portugiesen. Nuno Gomes’ erster Schuss wird von Lehmann abgewehrt, der zweite von Metzelder ins Tor gelenkt. Atemlosigkeit. Kurz vor der Halbzeit doch noch die Wende? In der 61. Minute dann das entscheidende Tor von Ballack, der während seines Kopfballs noch schnell einen Portugiesen wegschubst, aber das hat mal wieder keiner gesehen. Dann für die Spannung noch ein Gegentor von Postiga in der 87. Minute, Löw raucht hektisch eine Zigarette hinter Glas, sein blondes Double Hansi Flick tauscht noch ein paar Spieler aus, aber zum Ende wird alles gut, Schweini und Poldi feiern sich ausgiebig in der Fankurve, und wir sind im verdienten Halbfinale. Bernadette La Hengst
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Lieber Nuno, exklusiv für Dich mein Geburtstag als Liveticker! 9.40 Uhr. Die Lage hat sich extrem verschärft, nein, meine nicht das Älterwerden. Habe einen Pickel und Paparazzi überall. Werde neben Zico als Nachfolgerin von Scolari gehandelt. 9.42 Uhr. Bekomme plötzlich Hunger. Muss Brot holen, aber wie? Schleiche mich verschleiert aus dem Haus und brülle sicherheitshalber noch »Türkiye!« 9.59 Uhr. Habe das Brot. Kann vor Aufregung aber nicht essen. 10.00 Uhr. Es klingelt zweimal, der Postmann! Öffne die Tür einen winzigen Spalt. (Leute, Ihr macht es mir nicht leicht, ein Kärtchen im Namen der Mannschaft hätte auch gereicht. Was für Laufwege, muss den Keller für die vielen Weinkisten ausräumen und werde dabei laufend von Fotografen abgeschossen.) 11.12 Uhr. Quittiere schnell den Empfang Deiner Diamantsendung. (Der Typ will einen Tipp von mir, sieht nach BND aus. Kriegt aber nichts aus mir raus, nur meinen Namen.) 11.13 Uhr. Muss mich langmachen, die letzten Tage waren hart, träume davon, nie mehr arbeiten zu müssen. 18.45 Uhr. Wieder wach, esse das Brot und ein klein wenig Wildlachs. 20.45 Uhr, Anpfiff. Immer noch 20.45 Uhr. Bin ganz bei Euch. 21.07 Uhr. Die Deutschen sind ganz bei sich, 0:1. Wo ist Eure Abwehr? 21.11 Uhr. 0:2, ich wiederhole meine Frage. 21.25 Uhr. Goool! Küsse Dein Abbild, gönne mir ein Stück Torte, stoße auf mich, Euch, uns an. 21.35 Uhr. Bringe in der Halbzeit Schuld, Zweikampfverhalten, Arbeitstier und Schweini auf einen Nenner. Weiß, soweit kann kein Fußballer denken. Sende die Nachricht in die Kabine, aber kein Netz, wittere Verrat! 21.45 Uhr. Verbindung steht wieder, verlange von Scolari schnelle Wechsel. Er simst »sim«. 22.01 Uhr. Stürmerfoul Ballack, 1:3. Ach du Schande, Schiriii!! Stoße zu allem Übel auch noch den Sekt um. 22.07 Uhr. Scolari begreift halbwegs, Nani kommt. 22.13 Uhr. Scolari kapiert endlich, Hélder kommt. 22.27 Uhr. Hélder verkürzt auf 2:3, zu spät! 22.36 Uhr. Muss weinen. 00.00 Uhr. Stelle mich dem Blitzlichtgewitter. 00.15 Uhr. Lege mein Amt nieder. Werde Dich aber ewig lieben, Deine Gatinha P.S. Deco go home! Gabriele Damtew
Es ist wieder soweit. Der schwarz-rot-geile Partyotismus hat alle gepackt. Draußen vor meinem Fenster krachen die Böller nach jedem Tor wie zu Silvester, und insgeheim stellt sich jeder vor, das wäre schon das Endspiel. Die deutschen Tugenden verbreiten in der Welt Angst und Schrecken, sagt Günni Netzer, nachdem sich Schweini ein paar Minuten vorher im Interview als Vertreter dieser besagten Eigenschaften geoutet hat. Selbst Oscar und Ella sind vom Fußballfieber ergriffen. Mit drei Jahren ist Doitschland eben ein Land, das so klingt wie ein Ferienort, in dem es nur Zitroneneis und Pizza gibt, und wenn man dann noch gewinnt, ist ja sowieso klar, dass es das beste Land der Welt ist. Fußball ist schon eine sehr populistische Sache. Kurz vor dem Spiel wurden noch alle verteufelt, Löw das Ende prognostiziert, über Schweinsteiger gewitzelt, neben Ronaldo sähe er aus wie ein Provinzpunk, aber sobald die Tore fallen, haben es alle schon immer gewusst. Und die Tore fielen: In der 22. Minute stößt uns Schweini mutig frei zum 1:0. Yogi Löw springt hinter seiner Glasscheibe auf und ab wie ein gefangenes Tier, und Angela Merkel, die beim EU-Gipfel neben Portugals Premierminister sitzt, bekommt eine SMS. Danach bleibt die Stimmung gespannt, und die Spielenergie ist auf beiden Seiten spürbar. Ronaldo kommt nicht zum Zuge, er wird mit einer Doppel-6er-Strategie (was immer das auch sein soll) von der deutschen Abwehr blockiert. In der 26. Minute fällt das zweite Tor, ein Kopfball von Klose. Draußen fallen die Bomben. In der 40. Minute endlich das erste Gegentor der Portugiesen. Nuno Gomes’ erster Schuss wird von Lehmann abgewehrt, der zweite von Metzelder ins Tor gelenkt. Atemlosigkeit. Kurz vor der Halbzeit doch noch die Wende? In der 61. Minute dann das entscheidende Tor von Ballack, der während seines Kopfballs noch schnell einen Portugiesen wegschubst, aber das hat mal wieder keiner gesehen. Dann für die Spannung noch ein Gegentor von Postiga in der 87. Minute, Löw raucht hektisch eine Zigarette hinter Glas, sein blondes Double Hansi Flick tauscht noch ein paar Spieler aus, aber zum Ende wird alles gut, Schweini und Poldi feiern sich ausgiebig in der Fankurve, und wir sind im verdienten Halbfinale. Bernadette La Hengst
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Niederlande 1 n.V.
3 n.V.
Russland
Onkel Horst
Herr Antje
Diesmal habe ich durchaus mit dem Gedanken gedaddelt, das Spiel im Fernsehen zu verfolgen. Nicht um zu sehen, wie sich die hackfressigen Holunder zum Horst machen, oh nein! Sondern natürlich wegen der Russen, die ich für ihre Künstler und ihr zauberhaftes Spiel bewundere: Arschawin, Dostojewski, Tolstoi, Jelzin, Abrafax … um nur die am wenigsten Unwichtigen hier zu nennen. Mein uralter Dampffernseher der Marke »Wigwanst« köchelt bereits auf Stufe zwei – es ist nur noch die Frage einer halben Stunde, bis die ehrwürdige Bildröhre ihr mächtiges Schwarzweißpanorama zu voller Pracht entfaltet, da klingelt schaurigschrill das Telefon: Mutter! Sie darf nicht hören, dass ich noch so spät am Abend fernsehe, drum gehe ich ins Schlafgemach. Von nebenan ertönt die niederländische Hymne, die »Horstensie«: »Oh Land von klobig Unverstand / Du Meer von Tulpen, Tulpen mehr / Oh klobig Horst von Käsetand / Wie lieb ich deine Berge sehr.« »Was ist denn das«, fragt Mutter scharf, »du siehst doch nicht etwa jetzt noch fern?« »Aber nein, Mutter«, versichere ich, »es ist nur meine Nachbarin, die singt.« Sofort wird ihre Stimme sanfter. Eine Nachbarin. Die singt. Sehr interessant. Schon lange wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass ich endlich eine Frau fände und heiratete und kinderte. »Klingt aber so, als würden da Zehntausende mitsingen«, argwöhnt die alte Füchsin. Sie übe eben zusammen mit ihrer Band, lüge ich ins Blaue. Im Nebenzimmer beginnt die Partie. Immerhin ist Mutter jetzt beruhigt. Während des gesamten Spiels erzählt sie mir von Onkel Horst aus Holland, der für seine Familie im Keller eine richtige Wohnung gebaut hat. Also für Tante Horst, Oma Horst, Onkel Horst junior, für alle eben. »Und weißt du, was die Polizei gesagt hat?« fragt Mutter. Nein, ich weiß es nicht. Er sei nun erstmal für ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen, lacht sie durch den Hörer, »wie übrigens auch die Holländer!« Offenbar sieht sie gerade fern. Uli Hannemann
Um ehrlich zu sein: Wir hatten vor dem Viertelfinale ein bisschen Angst. Nicht wegen des Gegners, nein, dass wir den vernaschen würden wie ein Eckchen Leerdammer wussten wir schon vorher. Wegen unseres Trainers, Herrn Antje. Wie der Name schon sagt, kommt er aus Holland. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir nicht zunehmend Zweifel an seiner Loyalität gehabt hätten. Spätestens, als er uns überreden wollte, gegen die Holländer in Holzpantinen anzutreten, wurde uns klar, dass wir uns nicht hundertprozentig auf ihn verlassen konnten. Und wir hatten noch ein zweites Problem: Wir wussten nicht, was wir mit dem Herzen des russischen Doppeladlers machen sollten, das Mütterchen Russland uns wie versprochen nach dem Sieg über Schweden ausgehändigt hatte. Schon seit Tagen lag es bei uns in der Umkleidekabine herum und begann allmählich zu stinken. Einmal haben Semak und Pawljutschenko ein paar Pässe damit geschlagen, darunter auch einen, der Semaks Vorlage zum 0:1 verblüffend ähnlich sah, doch dass es so nicht weitergehen konnte, war offensichtlich. Da hatten wir eine Idee. Beim letzten Training schoss unser geschätzter Kollege Denis Kolodin einen seiner gefürchteten Fernschüsse in Richtung Trainerbank. Er erwischte Herrn Antje zielgenau am Kopf. Unser Mannschaftsarzt nahm dann die eigentliche Transplantation vor, die ganze Sauerei dauerte nur etwa zehn Minuten. Als Herr Antje wieder erwachte, wirkte er zunächst benommen, doch dann fing er sich rasch. Haben Sie gesehen, wie er nach dem Spiel über den Platz getanzt ist? Als die Stadionbeleuchtung abgeschaltet wurde und er sich unbeobachtet wähnte, breitete er die Arme aus, drehte ein paar Runden über dem Stadion und ließ sich schließlich auf dem Ostturm des Basler Münsters nieder. Für den Winter plant er angeblich, nach Süden zu ziehen, aber daraus wird nichts: Wir arbeiten schon an einer goldenen Voliere in St. Petersburg für ihn. Sogar ein paar Tulpen werden wir pflanzen. Nur für den Fall, dass er Heimweh bekommt.
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Florian Werner
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Niederlande 1 n.V.
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Russland
Onkel Horst
Herr Antje
Diesmal habe ich durchaus mit dem Gedanken gedaddelt, das Spiel im Fernsehen zu verfolgen. Nicht um zu sehen, wie sich die hackfressigen Holunder zum Horst machen, oh nein! Sondern natürlich wegen der Russen, die ich für ihre Künstler und ihr zauberhaftes Spiel bewundere: Arschawin, Dostojewski, Tolstoi, Jelzin, Abrafax … um nur die am wenigsten Unwichtigen hier zu nennen. Mein uralter Dampffernseher der Marke »Wigwanst« köchelt bereits auf Stufe zwei – es ist nur noch die Frage einer halben Stunde, bis die ehrwürdige Bildröhre ihr mächtiges Schwarzweißpanorama zu voller Pracht entfaltet, da klingelt schaurigschrill das Telefon: Mutter! Sie darf nicht hören, dass ich noch so spät am Abend fernsehe, drum gehe ich ins Schlafgemach. Von nebenan ertönt die niederländische Hymne, die »Horstensie«: »Oh Land von klobig Unverstand / Du Meer von Tulpen, Tulpen mehr / Oh klobig Horst von Käsetand / Wie lieb ich deine Berge sehr.« »Was ist denn das«, fragt Mutter scharf, »du siehst doch nicht etwa jetzt noch fern?« »Aber nein, Mutter«, versichere ich, »es ist nur meine Nachbarin, die singt.« Sofort wird ihre Stimme sanfter. Eine Nachbarin. Die singt. Sehr interessant. Schon lange wünscht sie sich nichts sehnlicher, als dass ich endlich eine Frau fände und heiratete und kinderte. »Klingt aber so, als würden da Zehntausende mitsingen«, argwöhnt die alte Füchsin. Sie übe eben zusammen mit ihrer Band, lüge ich ins Blaue. Im Nebenzimmer beginnt die Partie. Immerhin ist Mutter jetzt beruhigt. Während des gesamten Spiels erzählt sie mir von Onkel Horst aus Holland, der für seine Familie im Keller eine richtige Wohnung gebaut hat. Also für Tante Horst, Oma Horst, Onkel Horst junior, für alle eben. »Und weißt du, was die Polizei gesagt hat?« fragt Mutter. Nein, ich weiß es nicht. Er sei nun erstmal für ein paar Jahre aus dem Verkehr gezogen, lacht sie durch den Hörer, »wie übrigens auch die Holländer!« Offenbar sieht sie gerade fern. Uli Hannemann
Um ehrlich zu sein: Wir hatten vor dem Viertelfinale ein bisschen Angst. Nicht wegen des Gegners, nein, dass wir den vernaschen würden wie ein Eckchen Leerdammer wussten wir schon vorher. Wegen unseres Trainers, Herrn Antje. Wie der Name schon sagt, kommt er aus Holland. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn wir nicht zunehmend Zweifel an seiner Loyalität gehabt hätten. Spätestens, als er uns überreden wollte, gegen die Holländer in Holzpantinen anzutreten, wurde uns klar, dass wir uns nicht hundertprozentig auf ihn verlassen konnten. Und wir hatten noch ein zweites Problem: Wir wussten nicht, was wir mit dem Herzen des russischen Doppeladlers machen sollten, das Mütterchen Russland uns wie versprochen nach dem Sieg über Schweden ausgehändigt hatte. Schon seit Tagen lag es bei uns in der Umkleidekabine herum und begann allmählich zu stinken. Einmal haben Semak und Pawljutschenko ein paar Pässe damit geschlagen, darunter auch einen, der Semaks Vorlage zum 0:1 verblüffend ähnlich sah, doch dass es so nicht weitergehen konnte, war offensichtlich. Da hatten wir eine Idee. Beim letzten Training schoss unser geschätzter Kollege Denis Kolodin einen seiner gefürchteten Fernschüsse in Richtung Trainerbank. Er erwischte Herrn Antje zielgenau am Kopf. Unser Mannschaftsarzt nahm dann die eigentliche Transplantation vor, die ganze Sauerei dauerte nur etwa zehn Minuten. Als Herr Antje wieder erwachte, wirkte er zunächst benommen, doch dann fing er sich rasch. Haben Sie gesehen, wie er nach dem Spiel über den Platz getanzt ist? Als die Stadionbeleuchtung abgeschaltet wurde und er sich unbeobachtet wähnte, breitete er die Arme aus, drehte ein paar Runden über dem Stadion und ließ sich schließlich auf dem Ostturm des Basler Münsters nieder. Für den Winter plant er angeblich, nach Süden zu ziehen, aber daraus wird nichts: Wir arbeiten schon an einer goldenen Voliere in St. Petersburg für ihn. Sogar ein paar Tulpen werden wir pflanzen. Nur für den Fall, dass er Heimweh bekommt.
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Florian Werner
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Gruppe B Bernadette La Hengst – Deutschland Anne Hahn – Kroatien Jochen Schmidt – Österreich Daniela Böhle – Polen Gruppe C Uli Hannemann – Niederlande Annett und Friedrich Gröschner – Italien Friederike von Koenigswald – Frankreich Ina Bösecke – Rumänien Gruppe D Norbert Kron – Griechenland Florian Werner – Russland Marion Pfaus – Spanien Torsten Schulz – Schweden
Gesamtspielzeit: 60 min
Mit Texten von: Ahne, Daniela Böhle, Ina Bösecke, Jan Böttcher, Gabriele Damtew, Annett und Friedrich Gröschner, Anne Hahn, Uli Hannemann, Bernadette La Hengst, Friederike von Koenigswald, Norbert Kron, Marion Pfaus, Jochen Schmidt, Torsten Schulz, Florian Werner, Frank Willmann
Au f C D
Jan Böttcher – Schweiz Ahne – Tschechien Bernadette La Hengst – Deutschland Jochen Schmidt – Österreich Uli Hannemann – Niederlande Marion Pfaus – Spanien u.a.
www.vo land-quist.de
€ 14,80 (D) ISBN 978-3-938424-30-8
Der lange Weg nach Wien
Gruppe A Gabriele Damtew – Portugal Frank Willmann – Türkei Jan Böttcher – Schweiz Ahne – Tschechien
Die literarische Nachlese zur Fußballeuropameisterschaft 2008! Jedem Autor wurde eine Fußballnation zugelost, damit er ihr zum Durchbruch verhilft – künstlerisch, und fußballerisch sowieso. Alle Autoren gaben alles, um Europameister zu werden. Daheim vor dem Fernseher und im echten Leben – nach dem Motto von Joachim Streich: „Ich wusste, du musst da sein, wo der Ball ist“.
C. Meueler, T. Schulz, F. Willmann (Hg.)
Die EM-Landeskunde zum Hören
Christof Meueler, Torsten Schulz, Frank Willmann (Hg.)
Der lange Weg nach Wien Das definitive und endgültige Autorenfußballeuropameisterschaftsbuch 2008