Leseprobe Edo Popovic, Igor Hofbauer -Tattoogeschichten

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Er war nicht konzentriert genug gewesen, das war es. Er war einfach nicht konzentriert genug gewesen. Er hatte sein Gehirn einfach nicht angeschaltet. Nach dem Motto: Atme tief durch, zähl bis zehn, und denk über die Situation nach. Nein. Die Hand war ihm ausgerutscht, scheiß Hand, und deshalb sitzt er jetzt im Flur der Polizeiwache in der Bauerova. Statt zu Hause zu sein oder sonst wo, sitzt er hier bei den Bullen mit einem blutigen Verband um den Kopf und wartet darauf, dass er an die Reihe kommt. Er macht sich Sorgen, natürlich macht er sich Sorgen, es gibt nur selten Situationen, in denen einem der Gedanke an die Bullen gefällt. Mila ist 8

schon im Büro und macht ihre Aussage. Die Damen haben den Vortritt, nicht wahr. Was sie nur diesem Bullen da drin erzählt? Sagt sie zu ihm: Ich habe diesen Schrei gehört und bin hingerannt und hab den Pudel auf dem Boden liegen sehen, und dann ist das ganze Durcheinander entstanden … Das reicht nicht, denkt Rudi, und blickt dabei auf die Tür des Büros. Der Bulle kann auf verschiedene Gedanken kommen und daraus seine eigenen Schlüsse ziehen, wenn er nur diesen Teil hört. Eine Anzeige fehlt ihm noch. Er wird seinen Job verlieren, ganz sicher wird er ihn verlieren, sie haben ihm doch gesagt, dass das damals die letzte Scheiße war, sie werden ihm nichts mehr durchgehen lassen. Ziemlich beschissen. Um sich ein richtiges Bild machen zu können, muss man die Dinge als Ganzes sehen. In der größtmöglichen Totale. Die Dinge auseinanderdividieren, die Ursachen auf die eine, die Folgen auf die andere Seite. Genau so. Es ist nicht fair, mit dem Pudel auf dem Boden zu beginnen. Einerseits ist das nur ein Detail, andererseits ist dieses kleine Detail auch die Folge, deren Ursache man nicht sieht. Außerdem hat sie ihn nach dem Treffen im Club auf der Straße eingeholt, und sie bestand darauf, dass sie einen trinken gehen. Lass uns einen kippen, sagte sie. Das Wort kippen klingelte in seinen Ohren. Wie meinst du das – kippen? Was kippen? Na ja, einen Saft. Er sagte ihr, dass man nur etwas Konkretes kippen könne. Aber sie sagte, dass Veteranen einen Saft, einen Kaffee oder auch einen Tee kippen könnten. Das hätten sie sich doch wohl verdient.


Zuerst gingen sie in ein Café in der Martic´eva. Er trank Mineralwasser und Mila Apfelsaft. Er trank das Mineralwasser wie einen Kurzen, mit einem schnellen Wurf des Kopfes in den Nacken. Auch sie hatte ihre Alkoholikerbewegungen beibehalten: Während sie ihren Apfelsaft trank, bewegte sich der Ellenbogen der Hand, in der sie das Glas hielt, genau auf Stirnhöhe. Sie hielten sich dort nicht lange auf. Wenn der Mensch nicht trinkt, werden Kneipen zu ziemlich langweiligen Orten. Wie Kirchen. Es gibt keine action, nur Quatschen, nur dummes Quatschen. Sie sprachen über irgendwas, er weiß nicht mehr, worüber. Wahrscheinlich das übliche Standardgesülze. Die schlecht angepasste Wirklichkeit und solche Sachen. Nicht einen Moment lang hatte er sich gefragt, was sie von ihm will. Warum hatte sie ihn eingeladen? Das ist ihm in letzter Zeit nicht oft passiert. Auch früher nicht. Dass eine Frau Interesse an ihm zeigt. Aber das war ihm nicht weiter aufgefallen. Als wäre es das Normalste von der Welt. Mann, war er unvorsichtig gewesen. Und dann lud sie ihn zu sich nach Hause ein. Nicht einmal das kam ihm verdächtig vor. Überhaupt nicht. Wenn solch ein scharfer Zahn einen Typen wie ihn nach Hause einlädt, nimmt das meist ein schlimmes Ende. Er hätte es wissen müssen, er hat doch genug Erfahrungen mit solchen Dingen, bittere Erfahrungen. Aber nein, sein Verstand ließ ihn im Stich. Und auch sein Instinkt und alle Warnmechanismen. Er war wie ein Kind auf sie reingefallen, wie ein beschissener Grünschnabel hatte er gehofft, dass endlich auch in seiner Sphäre Wunder geschehen und dass es normal sei … Und Mila ging sofort zur Sache. In medias res, oh Mann. Da war keine Zeit für große Worte, sofort action. Da war dieses Riesenbett, und es lag eine merkwürdige Atmosphäre in der Luft, eine elektrische Ladung entlud sich zwischen ihren Körpern … Nur dieser Pudel. Rudi hat nie behauptet, dass ihm Hunde sympathisch sind. Warum sollten sie ihm auch besonders sympathisch sein? Er ignorierte sie, so gut er konnte, er beachtete sie einfach nicht. Aber dieser Pudel war zu präsent.

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Er saß da mit heraushängender Zunge, mitten im Zimmer, hechelte, winselte und zuckte vorwärts, als wolle er jeden Moment durchstarten und in ihr Bett springen. Rudi konnte sich nicht konzentrieren. In letzter Zeit war es um sein Selbstbewusstsein schlecht bestellt gewesen. Er hatte aufgehört, die Tabletten zu nehmen, die ihn runterzogen und sedierten, aber er fühlte sich auch weiterhin leer. Beinahe tot – gerade in dieser Hinsicht. Technisch gesehen war er nicht impotent, das sicher nicht … Blockade – das war es. Eine beschissene mentale Blockade. Einige Gläschen Schnaps würden diese Blockade sofort aufbrechen, sie würden sie ganz sicher aufbrechen, aber …


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Und dann noch dieser Hund. Er hatte sie doch gebeten, den Hund aus dem Zimmer zu bringen und die Tür abzuschließen, aber sie hatte nicht darauf gehört. Sie war ganz in ihrem Film, ganz darin gefangen, und sie versuchte ihn auch hineinzuziehen. Sie bemühte sich, Mann, sie hat sich wirklich bemüht. Sie hatte Verständnis für seinen Zustand, und dass das wohl mit dem Trinken, der Therapie und der Abstinenz zu tun hatte, aber er war wie gelähmt. Er spürte zwar ihre Finger und ihre Zunge unten an seinem Kleinen, er spürte auch ihren Atem, und ihr weiches Haar kitzelte ihn am Bauch, aber diese Informationen kamen nicht an der richtigen Stelle in seinem Hirn an. Sie bogen einfach irgendwo ab, in einen anderen Teil des Hirns. Danach war sie weder wütend noch enttäuscht, keine Spur. Nächstes Mal wird es schon gehen, sagte sie und ging ins Badezimmer um zu duschen. Und er lag dort und starrte an die Decke, und er muss wohl für ein paar Augenblicke eingenickt sein, denn er erinnert sich nicht mehr daran, dass er sie hörte,


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als sie zurückkam. Aber er spürte wieder die Zunge und diesen warmen Atem auf seinem Kleinen, und verdammt noch mal, jetzt erst kam die Information am richtigen Ort an. Der Kleine begann sich zu regen. Und Rudi griff mit der Hand nach Mila, um sie auf sich zu ziehen, und er tastete sich durch dichte Locken – wo kommen die plötzlich her ? – und dann hörte er genau in diesem Moment Milas Stimme aus dem anderen Zimmer und er heulte auf und schoss hoch und der Pudel jaulte und rollte auf den Boden und der Aschenbecher lag schon in Rudis Hand und im nächsten Moment traf er den Kopf des Pudels – und der brach lautlos zusammen. Mila aber stürzte mit einem Handtuch um ihre Brust ins Zimmer und begriff nicht sofort, sie stand da und starrte den Hund an, und dann kniete sie sich hin und versuchte ihn hochzunehmen, aber der Hund war schlaff und tot, definitiv tot, und dann sah sie den Aschenbecher und nahm ihn in die Hand und begann herumzuschreien, zu schreien, als hätte sie den Verstand verloren. Mörder, schrie sie, du ekliger Mörder, und Rudi schrie, er hat an mir geleckt, warum hat er das getan?, und sie begann hysterisch zu lachen, Lord hat dich geleckt, er soll dich geleckt


haben!, und er trat an sie heran und versuchte sie zu umarmen, aber sie war völlig außer sich, du Mörder, du hast meinen Lord getötet!, und sie riss sich aus seinen Armen und holte aus und traf ihn direkt mit dem Aschenbecher an der Stirn, und er versuchte nicht einmal sich zu schützen, sie war einfach zu schnell … Und dann – statt anzufangen, bis zehn zu zählen, tief einzuatmen, eins, zwei, drei, um dann über die Situation nachzudenken, nichts dergleichen – holte er weit aus und traf mit seiner Faust ihr Gesicht. Adrenalin wütete in ihm, hundertprozentiges Adrenalin, die reinste Aggression, Tinte in den Augen, und dann schlug er drauflos, was das Zeug hielt, wie damals, als er den Typen verprügelt hatte, man hatte sie kaum voneinander lösen können, so hatte es wenigstens in der Anzeige geheißen, er konnte sich an nichts erinnern, und die Bullen hatten ihn gleich in die Klinik geschleppt, Strafanzeige und Zwangstherapie und so weiter, aber das ist eine alte Geschichte. Jetzt war er nüchtern, tot-nüchtern, aber wieder war überall Blut, und sie rannte schreiend ins Treppenhaus und schrie, Mörder!, Mörder!, und das nächste, woran er sich erinnert, waren die Bullen, Scheiße, schon wieder Bullen, er saß auf dem Bett und hielt sich einen Lappen vor die Stirn, und Mila hörte nicht auf zu hysterisieren, und die Bullen waren mies gelaunt, solche Szenen sahen sie einfach zu oft, neu war vielleicht der tote Hund: Schon in Ordnung, ziehen Sie sich an, wir besprechen alles Weitere auf der Wache. Und jetzt sitzt er hier, und seine fürchterlichen Kopfschmerzen sind das Letzte, was ihm zur Zeit Sorgen macht. Er sitzt und denkt darüber nach, was er den Bullen sagen soll. Was soll er sagen, wenn sie ihn fragen, warum er den Pudel getötet und dann noch dem Frauchen des Pudels die Nase gebrochen hat? Er hat ihr bestimmt die Nase gebrochen. Ein solcher Schlag – mein Gott, gut, dass er sie nicht umgebracht hat. Das mit der Nase, das kann er noch leicht erklären, das werden sie schon verstehen, so etwas passiert in dieser Stadt alle paar Minuten, hat er mal irgendwo gelesen, aber das mit dem Pudel ist ziemlich idiotisch. Wie soll er dem Bullen erklären, warum er diese Schwuchtel von einem Pudel getötet hat? Er wird

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die Wahrheit sagen müssen, sonst werden sie am Ende noch denken, dass er ein Irrer sei, der durch die Gegend latscht und Hunde tötet. Gut, er wird also die Wahrheit sagen. Wissen Sie, ich bin eingenickt, und dieser Hund hat die Situation ausgenutzt und hat angefangen … Ach Scheiße, der wird sich vor Lachen in die Hose machen, der Scheißbulle wird sich vor Lachen in die Hose machen! Und was hat dann dieser Hund wann gemacht? Er wird sich hundertprozentig vor Lachen in die Hose machen, und dann wird er noch die ganze Scheißwache zusammentrommeln, damit sich alle diese Pudelgeschichte anhören können. Und wenn sie dann noch mitkriegen, dass er Mitglied im Club der Ex-Alkoholiker ist und dass man ihn schon mal in die Zwangstherapie gesteckt hat ... das wird die Krönung. Für die ist dann ganz egal, dass er seit Monaten trocken ist. Wirklich keinen Tropfen! Auch ein Ex-Alkoholiker ist nur ein Alkoholiker, werden sie sagen. Und was kann er dann noch antworten, wenn auch die Psychologen in der Abteilung für Alkoholismus das Gleiche sagen. Sie sind ein Ex-Alkoholiker, das sagen sie zu einem. Das, was unsereiner als Lebensstil betrachtet, betrachten die da als Krankheit. Alkoholismus ist eine Krankheit, sagen sie einem dort. Und sie erklären einem auch, warum der Alkoholismus eine Krankheit ist. Man begreift das nicht unbedingt alles, aber man begreift doch, dass es eine üble Krankheit ist. Schlimmer als Tripper oder Tuberkulose, sogar schlimmer als Krebs. Niemand erwartet von Menschen, die wegen dieser Krankheiten behandelt werden, dass sie sich selbst als Ex-Tripperkranke, Ex-Tuberkulosekranke oder Ex-Tumorkranke bezeichnen. Von uns erwartet man das. Unsereiner hat das Recht verwirkt, sich wie ein gesunder Mensch zu fühlen. Ganz egal, ob man schon lange nicht mehr trinkt. Ob man seit Jahren nichts Konkretes hintergekippt hat. Keinen Tropfen. Das ist so ein beschissener Therapierter. Nicht ein Geheilter, nein, ein Therapierter. Das ist ein Dauerzustand. Man kann das nicht mehr abschütteln. Man trägt das ein Leben lang mit sich herum. Wie seine Hautfarbe. Oder seine Nationalität. Oder seine sexuelle Orientierung. Sie zwingen einen, sich ständig daran zu erinnern, diese beschissenen Nazis. Für die Bullen wird es noch weniger bedeuten, dass er regelmäßig zu den Treffen des Clubs der therapierten Alkoholiker (CTA) geht. Denen sind die summits

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der therapierten Alkoholiker schnurzegal. Und ob Rudi regelmäßig zu diesen Treffen geht oder nicht. Am Anfang handelte es sich dabei um Erpressung. Ohne einen Ausweis des CTA konnte man in keine Therapie gehen, und in die Therapie musste er, um seine Stelle nicht zu verlieren. Und er musste diese Stelle behalten, denn in dieser Welt gibt es immer weniger Orte, an denen Menschen wie er gebraucht werden. Eine reine, schamlose, beschissene Erpressung. Das gefiel ihm überhaupt nicht, aber so waren eben die Spielregeln. Immer lauern irgendwelche Spielregeln im Hintergrund, immer wird man an den Eiern festgehalten. Vom Leben? Ja, so 16

kann man es auch sagen. Und all das brachte ihn ständig zum Kochen. Der Clubpräsident, der auf diesen Treffen die süßlichen Briefe seiner Tochter verlas, oder die Frau, die begeistert Gedanken bejubelte wie zum Beispiel: „Ich habe begriffen, dass Alkohol mein Leben ruiniert hat.“ Oder: „Alkohol ist die Waffe des Teufels!“ Lauter solche Gedanken. Aber Rudi hatte keine Wahl, er brauchte die Stempel in seinem Ausweis. Schließlich war er ja nicht zum Vergnügen da. Und diese Menschen dort, die waren völlig kaputt. So ein Elend. Und so genossen sie ihr Unglück. Und es war alles so normal für sie. Und er war kurz davor, sich zu besaufen, um derartige Séancen überleben zu können. Es fehlte nur sehr wenig, dass er wieder mit dem Saufen angefangen hätte, aber dann atmete er tief ein, zählte bis zehn und sagte zu sich selbst: OK, da kannst du nichts machen. Pass dich an oder geh drauf. Und er passte sich an. Das ist Intelligenz, nicht wahr. Und dann begannen diese Séancen ihm wirklich zu gefallen. Es schien so, als würde das Ganze therapeutisch sehr gut für ihn sein. Dass er wirklich hörte, was diese Leute da erzählten. Während er den Geschichten über kaputte Familien, kaputte Karrieren und andere Dinge, denen man nachtrauerte, zuhörte, verspürte er Erleichterung. Erleichterung darüber, dass er nicht der einzige kaputte Mensch in dieser kaputten Welt war. Er spürte Zugehörigkeit. Und als dann noch eines Abends Mila auftauchte ... Sie sah überhaupt nicht aus wie eine Alkoholikerin. Sie hielt sich gerade und aufrecht. Ihr Schritt war elastisch. Sie schaute einem direkt in die Augen. Man dachte, dass sie sich in der Tür vertan habe, als sie an jenem Abend in den Club kam. Dass sie eigentlich zum Fitnesstraining im Saal am Ende des Flures wollte. Irgendjemand sagte ihr, dass


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der Fitnessraum am Ende des Flures sei. Es stellte sich aber heraus, dass sie sich nicht in der Tür geirrt hatte. Dass sie hier richtig war. Mehr als das. Alle wurden irgendwie lebhafter, seitdem Mila aufgekreuzt war. Die ganze Verzweiflung, all die verfehlten Leben und all die vertanen Chancen, all das begann auf einmal weichere Umrisse zu bekommen. Einen Sinn. Alle begannen plötzlich daran zu glauben, dass sie die Chance nutzen konnten, die sich ihnen bot. Sie begannen an etwas zu glauben. Zu glauben, Mann! Diese Frau war wirklich heilbringend, ein echter Jesus. Dass ausgerechnet mir so was passiert, denkt Rudi. Und das gerade jetzt, wo sich sonst alles so positiv entwickelt. Mensch, was für ein Pech. Wäre es jemand anderes, dann wäre alles in Ordnung. Ein bisschen Sex, ein Abendessen, danach Fernsehen, vielleicht einen Film aus der Videothek … aber so … der reinste Peckinpah, als hätte Peckinpah die ganze Nacht über Regie geführt. Es sitzt da und wartet, dass die Tür sich öffnet.



Der Kellner stellte zwei Gläser Glühwein auf den Tisch. Das wurde auch Zeit, verdammt noch mal, sagte Luka. Wir warten schon seit Stunden. Und die Nelken?, fragte Jajo. Wo sind die Nelken? Du wirst es überleben, sagte der Kellner. Wir haben keine. Siehst du, Jajo wandte sich an Luka, in was für Zeiten wir leben? Anderswo kannst du Suppe aus den Flossen eines Hais bestellen, der – sagen wir mal – in den Gewässern von San Cristobal gefangen wurde, und du bekommst sie ganz selbst104

verständlich. Aber wenn du hier Nelken erwähnst, greifen sie sofort nach der Motorsäge, und ehe du es dich versiehst, geht’s ums Überleben. Komm mir jetzt bloß nicht schräg, sagte der Kellner. Wer redet hier von Motorsägen? Es ging um Nelken, das hat nichts mit Motorsägen zu tun. Richtig, sagte Luka, aber die haben was mit Glühwein zu tun. Ich will jetzt nicht über die scheußliche Tatsache diskutieren, dass ihr den Wein gar nicht kocht, sondern ihn in der Kaffeemaschine eindampfen lasst, aber auch ein solcher sogenannter Glühwein ist ohne Nelken wie ein Mann ohne Kopf. Es ist dir überlassen, womit du einem Gast, der Nelken erwähnt, den Kopf abschneidest. Aber wenn ich dich so anschaue, würde ich sagen, dass eine Motorsäge am besten zu dir passt. Na so was, sagte der Kellner, kehrte zur Theke zurück und schlug die Zeitung auf. Luka und Jajo wärmten ihre Finger an den Gläsern und blickten aus dem Fenster des Cafés. Der Platz war leer, es schneite, und die Straßenlampen gingen gerade an. Die Szene, die sich ihnen darbot, ähnelte einem schlecht vergrößerten Schwarzweißfoto. Der kann viel erzählen, murmelte Jajo, der weiter an seine Nelken dachte. Diese Kellner. Ich fress’ einen Besen, wenn die nicht alle glauben, dass sie im Leben zu kurz gekommen sind, dass sie eigentlich etwas Besseres verdient haben, zum Beispiel Formel-1-Fahrer zu sein, Filmstar oder schlimmstenfalls Staatspräsident, und dass sie nur deshalb das sind, was sie sind, weil sich die ganze Welt aus reinster Bosheit gegen sie verschworen hat. Pfui. Ich träume von dem Tag, an dem ich dieses Viertel verlassen kann. Warum? Was fehlt diesem Viertel denn? Nelken zum Beispiel.



Ich weiß nicht recht, sagte Luka, aber ich mag dieses Viertel. Es ist nicht das schönste, aber – wie soll ich sagen – es ist irgendwie rund, wie ein Kieselstein. Du kannst nichts dazutun oder wegnehmen, ohne dieses unschöne Rundsein zu zerstören. Wie kommst du jetzt auf Kieselsteine, wenn hier alles völlig quadratisch ist? Es geht nicht um die Form, sondern um die Idee des Kieselsteins, sagte Luka. Wenn es zum Beispiel in diesem Wein zufällig Nelken geben würde, dann wäre er ein mehr oder weniger gut geratener Kieselstein. Ganz zu schweigen vom St. Gal106

lener Rezept für Pigmentwein – acht Teile Rotwein, je ein Teil Wasser und Honig, dazu noch Zimt, Ingwer, Nelken, Safran und Lavendelwurzel, dann alles gut gemahlen und durchgekocht. Das ist ein wahrer Kieselstein. Klar doch, Jajo schlürfte den Glühwein ohne Nelken, die C´evapcˇic´i in der Grillbude an der Brücke sind auch so ein Kieselstein. Luka ignorierte Jajos Ironie. Kennst du diese Zeichnung, fragte er, auf der die Erde wie eine runde, flache Scheibe dargestellt ist und der Himmel wie eine Sphäre, an die man Mond, Sterne und Sonne geklebt hat? Wer kennt diese Zeichnung nicht? Also, da steckt dieser Frater – oder was auch immer das ist – seinen Kopf durch die Sphäre und glotzt in das Weltall, auf irgendwelche spitzen Gipfel, Wolken, Räder … Was hat das alles mit diesem Viertel zu tun?, fragte Jajo. Du kapierst es nicht, sagte Luka. Es geht darum, dass man über das Weltall und über die Dinge, die uns nichts angehen, sehr viel weiß – viel zu viel, würde ich sagen. Die Menschen haben zu lange in die Ferne geglotzt, die Planeten und die Galaxien gezählt, die Entfernungen zwischen ihnen berechnet, auch die Lichtgeschwindigkeit haben sie berechnet, und was weiß ich noch alles, und dabei sind sie blind für das Nahe geworden. Was weiß man über unser Viertel? Beinahe nichts. Weder über unseres noch über irgendeins der anderen Betonviertel auf der Erdkugel. Hier gibt es keine antiken Ruinen, keine Renaissance, kein Barock, nichts von all dem ganzen Scheiß, nur Beton und Menschenfleisch, über das wir auch nichts wissen. Was wissen wir über unsere Nachbarn? Nichts. Wir wissen



nicht mal ihre Namen, und wir können uns kaum ihre Gesichter merken. Was wissen wir über die da?, er zeigte auf das Mädchen, das sich wie eine Seiltänzerin an ihrem Regenschirm festhielt, rutschend die Straße überquerte und im Wirbel der Schneeflocken verschwand. Das ist wirklich ekelhaft, so ohne Nelken, sagte Jajo und ging hinaus. Er kam mit einer Flasche Rotwein und einer Plastiktüte zurück. Hier, er schüttete den Inhalt der Tüte auf die Theke, hier habt ihr Honig, Nelken, Zimt, Safran. Ingwer und Lavendelwurzel hatten sie nicht. Jetzt brau uns bitte 108

einen, wie es sich gehört. Wie ging das noch?, er wandte sich an Luka. Hast du einen Mörser?, fragte Luka den Kellner. Der Kellner schüttelte den Kopf. Macht nichts, die Gewürze kannst du auch auf der Theke zerkleinern, einen Holzhammer wirst du doch wohl haben? Du weißt doch, dass wir keine Küche haben, sagte der Kellner. Na gut, dann zerquetsch sie mit einem Glas. Und eine Kochplatte? Eine Kochplatte habe ich. Einen Topf? Nein. Jajo stürzte aus dem Café und kam mit einem Topf zurück. Brauchst du noch irgendwas?, fragte er. Das Rezept, sagte der Kellner. Zerquetsch von all dem ein bisschen, hau es in den Wein, dann ein wenig Wasser und Honig dazu und aufkochen lassen, sagte Luka. Jajo warf sich zufrieden auf einen Stuhl, holte seinen Tabakbeutel aus der Tasche, drehte eine Zigarette und steckte sie sich an. Ey, nicht da, sagte der Kellner, der Teil da ist für Nichtraucher, geht auf die andere Seite. Du kannst mich mal, sagte Jajo und nahm einen Zug. Die Kids fixen auf deinem Klo, der Boden ist voll von Spritzen und Blut, und du machst hier Terz wegen einer Zigarette. Übrigens, er wandte sich an Luka, sie ist Vegetarierin. Vegetarierin?, fragte Luka. Ja, Vegetarierin.



Wer ist Vegetarierin? Der da bestimmt nicht, Jaro zeigte auf den Kellner. Das Mädchen von vorhin. Wie kommst du jetzt auf sie? Du hast doch davon gesprochen, dass wir nichts von den Menschen in diesem Viertel wissen. Und woher weißt du, dass sie Vegetarierin ist? Einfach so, ich weiß es eben. Du hast im Laden gefragt, und sie haben es dir gesagt? 110

Nein, ich war mit ihr zusammen, sagte Jajo. Im vergangenen Herbst ist sie in unser Viertel gezogen, sie arbeitet in einem Verlag, als Sekretärin … Und sie ist Vegetarierin. Genauer gesagt, Ultra-Vegetarierin, eine Fundamentalistin, sagte Jajo. Eine Fundamentalistin? Du kennst das doch, kein Fisch, kein Huhn, überhaupt kein Fleisch, gar nichts. Na und?, sagte Luka. Nichts. Es ging mich nichts an, was und wie sie gegessen hat, sagte Jajo, aber es ging mich sehr wohl an, wie sie gevögelt hat. Richtig so, sagte Luka. Natürlich ist das richtig so, sagte Jajo, aber die war so versessen, dass sie nicht mal normal vögeln wollte. Nichts, kein Dödel, keine Finger, keine Zunge, verstehst du, er nahm einen letzten Zug, hustete und drückte die Zigarettenkippe im Aschenbecher aus. Du erzählst Stuss, sagte Luka, solche Vegetarier gibt’s doch gar nicht. Das hab ich auch gedacht, sagte Jajo. Du meinst also, ihr habt überhaupt nicht gevögelt? Genauso ist es. Sie betrachtet die Penetration als Fleischkonsum, verstehst du? Was für’n Scheiß, sagte Luka. Wie lange muss das kochen?, fragte der Kellner. Das reicht, sagte Luka, bring den Topf her. Sie gossen sich Wein ein und tranken eine Zeit lang, ohne etwas zu sagen. Der Schnee fiel immer dichter. Nicht schlecht, sagte endlich Jajo, wo hast du das Rezept her?


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Hab ich irgendwo gelesen … Aber sag mal, wie sah dann euer Sex aus, ganz ohne ... äh ... wie soll ich sagen – jeglichen Kontakt? Wie stellst du es dir denn vor, wie es aussah?, Jajo winkte ab. Nach gar nichts. Sie hatte immer irgendwelche Ersatzscheiße in der Hinterhand, eine Gurke, eine


Zucchini, eine Aubergine und was nicht alles. Ich habe einen ganzen beschissenen Gemüsegarten in sie reingeschoben, nur nicht meinen Pimmel. Und was war mit Dildos, wäre es nicht einfacher mit einem Dildo gewesen als mit einer Zucchini?, fragte Luka. Ich weiß nicht, ob es mit einem Dildo einfacher gewesen wäre, aber sicher normaler. Nur hasste sie künstliche Materialien, sie wollte ausschließlich Früchte der Natur. Also hast du nur schuften müssen, konstatierte Luka. 112

Ich habe nur geschuftet, sagte Jajo. Und wie seid ihr auseinandergegangen? Jajo seufzte tief auf. Einmal habe ich die Aubergine ausgehöhlt, weißt du, damit sie dem Original näherkam. Sie war dadurch elastischer, und ich konnte leichter damit hantieren. Und dann habe ich sie reingeschoben und gedreht und gedreht, ich habe gearbeitet wie eine Ferrari-Nockenwelle … Und sie ist heiß geworden wie verrückt, sie ist völlig abgehoben. Was die alles von sich gegeben hat, was sie für Geräusche gemacht hat … und dann bin ich verdammt noch mal auch abgehoben und habe meinem Pimmel in die Aubergine geschoben. Das heißt, so weit wie er reingepasst hat. Der reinste Reinfall, wie sich herausstellte. Sie bekam einen Nervenzusammenbruch und hat mich rausgeschmissen. So war das … Wirklich eine traurige Geschichte, sagte Luka. Wie man’s nimmt, sagte Jajo. Man kann ihr zumindest nicht vorwerfen, dass sie inkonsequent war. Das kann man wirklich nicht. Dann schwiegen sie wieder eine Zeit lang und tranken Wein. Es ist mir doch lieber, dass sie mich rausgeschmissen hat, sagte Jajo. Luka sah ihn fragend an. Na ja, sagte Jajo, stell dir mal ein Wesen von einem entfernten Stern vor, das seinen Kopf durch die Sphäre schiebt, von der anderen Seite, und uns beobachtet. Kannst du dir ausmalen, was so ein Wesen sich denken würde, wenn es mich dabei gesehen hätte, wie ich die Aubergine in die Frau schiebe und dann meinen Pimmel in die Aubergine?


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