Michael Bittner Julius Fischer Roman Israel Max Rademann Stefan Seyfarth
Max Rademann
Geldzurückgarantie Ich war gerade vom Zahnarzt zurück, als mein Telefon schellte. Ich streifte mir die Jacke vom Leib, ließ sie zu Boden fallen und eilte ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen. »Herr Pachaly, hier ist noch mal die Schwester Angelika, Zahnarztpraxis Schovin. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe jetzt ganz vergessen, Ihnen Ihre zehn Euro zu geben. Sie wissen schon, die fürs laufende Quartal.« »Ach so, ja. Na, da muss ich eben die Tage noch mal bei Ihnen vorbeischauen«, erwiderte ich. »Ja, das wäre ganz lieb, Herr Pachaly, nicht dass wir’s noch vergessen, wäre doch schade!« »Ja, nee, das bekommen wir hin, ich komme einfach morgen oder übermorgen noch mal bei Ihnen vorbei. Kein Problem.« »Ja, das wäre gut, Herr Pachaly. Schön. Hamse nur recht schönen Dank, ne. Und Entschuldigung noch mal.« »Nee, alles gut. Kein Problem. Ich komm vorbei.« Dann hängte ich auf. Schon wieder zehn Euro, so ein Scheiß, ich hatte ja noch knapp 100 Euro einstecken vom letzten Mal Falschparken und Abschleppen. Vorsichtig fühlte ich an meiner neuen Backenzahnfüllung und spürte ein leichtes Magengrummeln. Ich ärgerte mich, dass ich in den frühen Morgenstunden so ganz und gar nicht zur Nahrungsaufnahme neige. Jetzt durfte ich weitere zwei Stunden keine Nahrung zu mir nehmen. Einer mir sehr eigenen Logik folgend wollte ich mir nun anstelle eines Butterhörnchens eine Zigarette gönnen, um meine Eingeweide zu beruhigen – und dazu einen schönen Kaffee. Ich setzte Wasser auf und begab mich zum Schreibtisch, wo ich aber nur ein leeres Päckchen Tabak vorfand. Mist, dachte ich. Aber gleichzeitig musste ich mir eingestehen, dass ich mir weder einen Zacken aus der Krone brechen noch meine körperlichen Kräfte überbeanspruchen würde, wenn ich den Weg in den Asiashop
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anträte, der sich eine Etage unter mir im Haus befindet. (Gesagt, getan.) »Ich nehme ein Päckchen American Spirit, den schwarzen, und einmal OCB blau, bitte.« Die Verkäuferin griff die Ware aus dem Regal und sagte: »Da bekommen Sie von mir 6,30 Euro. Können Sie 3,70 rausgeben? Ich habe nur einen Zehner.« Ich kramte in meiner Hosentasche. »Nee, tut mir leid, ich habe nur zwei Euro einzeln.« »Na gut, dann bekommen Sie eben acht Euro von mir, der Rest ist Trinkgeld.« Ich dankte mit einem Seufzer und ging wieder nach oben. Mensch, das Bündel in meiner Hosentasche wird immer größer und das Kleingeld wiegt fast schon ein Pfund, ich muss mal aussortieren, dachte ich mir, als ich in meine Hosentasche fasste. Dann brühte ich einen Kaffee auf und rollte mir eine Zigarette. Ich setzte mich an meinen Rechner und loggte mich zum Online-Banking ein. Erleichtert stellte ich fest, dass mir mein Vermieter die Miete für diesen Monat noch nicht überwiesen hatte. Mein Kontostand war bereits wieder so dermaßen hoch, dass ich merkte, wie dringend ich mal wieder etwas abheben musste. Immer hat man nur Sorgen mit dem elenden Geld, dachte ich, man weiß einfach nicht, wohin damit. Ich seufzte und saugte einmal kräftig an meiner Zigarette. »Wie macht das Sven nur?«, fragte ich mich. »Der hat ja nie Kohle. Na ja, der hat halt einen ziemlich guten Job. Der zahlt im Monat gut und gerne 3.000 Euro Lohn. Und Miete kriegt der auch nicht so viel. Da geht das. Ich dagegen mach ja nichts, kein Wunder, dass ich im Geld schwimme!« Mir wurde klar, dass ich mir dringend mal wieder einen Job suchen musste, bei dem man pro Stunde wenigstens einen Zehner bezahlt. Sonst würde das nie was. Sonst wäre ich ja niemals pleite. Ich dachte an meinen Freund Malte, der auf diesem Wege Millionär geworden war. Er hatte einfach alles schleifen lassen. Keinen Job, trotzdem eine Wohnung angemietet, für die es im Monat 1.000 Euro gab. Ging ständig in Restaurants, in denen ihm
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schon die Vorspeise einen zweistelligen Betrag einhandelte. Oh mein Gott, so wollte ich nicht enden. Am selben Abend schwärmte ich durch die Straßen der Stadt, nur eines im Kopf: meine Geldsorgen! Wie sollte ich diese scheiß Kohle nur loswerden? Und schon beging ich den nächsten Fehler und holte mir in einem der Spätshops ein Bier, das mir wieder 1,20 Euro einbrachte. Das Klimpern der Münzen in meiner Hosentasche ließ mich erschauern. Aber ich weigerte mich trotzdem, mein Geld einfach wegzuwerfen, wie es so viele immer wieder tun. Mein Blick wanderte über den Bordstein. Und tatsächlich: Hier lag ein zerknüllter Zwanziger, da ein paar Münzen. Ein Trauerspiel! Ich bog in eine kleine, dunkle Nebenstraße ein. Aus einem Hauseingang sprang ein Typ und baute sich vor mir auf. Ich zuckte zusammen. »Nimm Handy! Los, nimm Handy und alles, was du in Portemonnaie findest! Nimm es!« Ja, dies war auch eine Art, sein Geld loszuwerden. Man wurde kriminell. Ich erkannte das Messer in seiner rechten Hand, in der anderen den Krempel, den er mir aufzwingen wollte. Zögernd griff ich zu. Im gleichen Moment blitzte es vor meinen Augen auf. »Blöde Arschloch!«, hörte ich es zischen, dann schnelle Schritte, die sich von mir entfernten. Ich wischte Blut von meiner Nase und erkannte, dass diese Mistratte mir glatte 200 Euro angedreht hatte, plus dieses elende Telefon. Es war wie ein Fluch. Nein, dachte ich, diesmal nicht und so gleich gar nicht. Vorsichtig schaute ich mich um. Das würde ich nicht behalten, bei der nächsten Gelegenheit wollte ich es in einem Mülleimer verschwinden lassen. Alles! Das Geld und das Telefon. Als ich mich unbeobachtet fühlte, warf ich die 200 Euro samt des Telefons in einen Papierkorb und eilte schnell weiter. Ich fühlte mich schäbig. Beinahe wie ein Dieb, der bei anderen Leuten ins Haus einsteigt und Geld auf den Nachttisch legt. Ziellos trugen mich meine Beine durch die Straßen. Überall lockten Bars und Kneipen mit Geld. Aber nein, ich würde heute
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nichts trinken, nicht einen Cent verdienen. Ich lief wie im Tran, achtete überhaupt nicht darauf, wohin mich mein Weg führte, bis ich feststellte, dass ich im Rotlichtviertel der Stadt gelandet war. Eine gestiefelte Zweimeterhure baute sich vor mir auf und schrie mir ins Gesicht. »Wenn du mich fickst, kostet mich das nur 80 Euro! Los, nimm das Geld und dann lass es uns treiben!« Sie wedelte mit einem Bündel von Geldscheinen. Ich wich ihr aus und machte eine abwehrende Handbewegung. Nichts wie weg hier, dachte ich. Sie brüllte mir hinterher: »60 Euro! 40!!!« Aber da war ich schon um die nächste Ecke. Verzweifelt hielt ich nach einer Gelegenheit Ausschau, Geld loszuwerden, aber es schien vergebens. An jeder Ecke konnte man nur verdienen. Bloß ein paar stinkreiche Flaschensammler sorgten dafür, dass ich ein bisschen Pfand loswurde. Morgen hebe ich einen riesigen Betrag von meinem Konto ab, nahm ich mir vor, auch wenn die Kohle sich dann bei mir zu Hause stapelt, wenigstens sieht mein Kontostand dann nicht mehr so ekelhaft fett aus. Rote Zahlen! Einmal in den roten Zahlen sein! In meiner Verzweiflung malte ich mir aus, wie ich haushoch im Lotto verlieren würde, aber ich wusste, wie schlecht statistisch gesehen die Chancen dafür standen. Es war aussichtslos, ich würde einfach nicht durch ein Wunder das große Geld loswerden. Ich würde arbeiten gehen müssen, wenn ich auch nur ein bisschen was ausgeben wollte. Mit dieser grausamen Erkenntnis erreichte ich meine Wohnung, diese scheißteure Suite, die mir monatlich viel zu viel einbrachte, und legte mich mit einer Träne im Auge auf mein Wasserbett. In dieser Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum: Ich war Dagobert Duck und drohte, in meinem Geldspeicher im eigenen Geld zu ertrinken. Als ich am nächsten Morgen schweißgebadet erwachte, eilte ich ganz ohne Frühstück zur Zahnarztpraxis Schovin und holte mir meinen Zehner ab. Ich wollte das nicht auf die lange Bank schieben und mir irgendwelche Mahngebühren aufhalsen. Den Schein betrachtend trat ich zurück
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auf die StraĂ&#x;e und hatte nur noch eines im Kopf: Ich muss Geld ausgeben. Und zwar so viel wie mĂśglich.
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stefan seyfahrt
untere hardt was es war, weiß ich nicht ganz genau. wahrscheinlich eine vorahnung, die sich auf meinen magen legte wie ein schwerer stein. auf jeden fall wachte ich mit grässlichen bauchschmerzen auf, die den ganzen morgen nicht nachließen. zum frühstück bekam ich keinen bissen herunter, auf dem weg zur schule verschlimmerten die schmerzen sich, in der zweiten stunde waren sie nicht mehr zum aushalten und ich erbrach mich in der pause mit tränen in den augen auf dem klo in der zweiten etage. das klo in der zweiten etage war unser klo. niemand durfte in den pausen pinkeln oder scheißen ohne die ausdrückliche genehmigung der wenig-zwillinge oder ohne das gültige passwort, das anfang der woche von den zwillingen in der ersten großen pause aus-, dann durch uns stellvertreter weitergegeben wurde und sich wöchentlich änderte. ich kann mich gut daran erinnern, wie alles durch einen kleinen spaß begonnen hatte und wie sich die dinge veränderten, ernst wurden, wie hoffmann und hagemeister aus der b gnadenlos verprügelt wurden, wie wir sie windelweich schlugen, nachdem beide die toilette auf der zweiten etage ohne die genehmigung der zwillinge benutzt hatten, und wie ich und die zwillinge und görlich und hocke und frotscher zum direktor mussten und sich am ende der woche vor der gesamten schule zum schlussapell entschuldigen mussten und ich senge vom vater bekam und und und. von da an nutzte niemand mehr ungefragt dieses klo, und es war klar, dass ich und görlich und hocke und frotscher die wachen übernahmen und klagen und beschwerden an die zwillinge weitergaben. die wenig-zwillinge waren ruhige jungs, sie sprachen nicht viel, wenn gefragt nur das nötige, aber es waren jungs, die ihren körper stählten, bodybuilding betrieben. wie, wusste keiner, wahrscheinlich mit hanteln und gewichten aus dem westen, vom eifrigen pioniergruß jedenfalls bekam man keine solchen muskeln. die zwillinge waren zwillinge, die
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niemand auseinanderhalten konnte, auch ich und görlich und hocke und frotscher hatten mühe und verwechselten beide ständig. etwas untersetzt sahen sie aus, als hätten sie zu kurze arme und beine. sie watschelten die gänge der schule wie zwei missratene enten entlang, aber außer den lehrern konnte den zwillingen ab der siebten niemand mehr was. und die zehner taten alles, was wir wollten. auf jeden fall war die toilette in der zweiten etage unser hauptquartier. und hier hatten wir vor zwei wochen entschieden, den plan von hocke durchzuführen. plan ist vielleicht etwas übertrieben, gerade in bezug auf hocke. der war noch nicht mal in der lage, plan zu buchstabieren, aber für alles, was geld brachte, hatte der junge einen riecher, und viel geld, da waren wir uns alle einig, brachte nur hocke. außerdem war ein plan so gut wie unnötig, da wir nur in eine alte baracke einsteigen wollten, in der fünf stangen zigaretten lagen, west-zigaretten, versicherte hocke, und eingestiegen waren wir schon oft, da brauchten wir im grunde genommen keinen plan mehr, sondern nur das werkzeug von frotscher und unsere schnellen beine und auf beides konnten wir uns verlassen. keiner von uns wusste, woher die kippen kamen. auch hocke, der sie entdeckt hatte, wusste nicht, wem die baracke gehörte. nur durch zufall sei er stehen geblieben und habe durch eine zerbrochene scheibe die stangen unter einer decke hervorragen gesehen. zuerst wollten wir das nicht glauben, aber gleich nachdem uns hocke davon erzählt hatte, fuhren wir hin und sahen tatsächlich die kippen keine fünf meter von uns entfernt liegen. daraufhin stellten wir wachen auf, die alle drei stunden abgelöst wurden. und ob ihr’s nun glaubt oder nicht, in den drei tagen des observierens kam keine menschenseele und wir beschlossen einen tag später im klo auf der zweiten etage, uns diese verdammten stangen zu holen. eine scheißidee. im nachhinein. so brachen wir vorgestern das schloss der alten holztüre auf, was viel zu leicht ging, für unseren geschmack. görlich war so was wie der spezialist im aufbrechen von türen geworden, warum
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auch immer. deshalb blieb görlich auch unserer bande erhalten, keiner konnte auf ihn verzichten, obwohl alle es wollten. was wir von görlich hielten, das ist nicht so einfach zu beschreiben. der kerl war stockhässlich und besaß ungefähr das anziehungspotenzial einer klobürste, aber er konnte türen knacken wie der nussknacker meiner oma die nüsse, nämlich verdammt schnell. aber weiter. wir holten uns die fünf stangen zigaretten, ohne uns diese bruchbude etwas näher zu betrachten, und marschierten hinaus in die nacht mit dem gefühl im bauch: vorsicht zeulenroda, deine mafia wird erwachsen! an die bekloppten aus der westhoff hatte keiner von uns gedacht. uns blieb noch viel zeit, bevor wir zuhause sein mussten. und so beschlossen wir, die stangen in unser versteck im wald der unteren hardt zu schaffen. hocke, frotscher, görlich und die zwillinge steckten sich erst mal eine an, ich nicht, ich war sportler und absoluter nichtraucher, aber ich wusste, dass ich mit diesen kippen ein vermögen bei den zehnern machen konnte. nach einer guten halben stunde kamen wir an. unser versteck war eine einfache baumhütte, die jetzt schon seit einem halben jahr stand. da hatte frotscher einmal gute arbeit geleistet, da hatte frotscher aber auch mal nägel benutzt. frotscher, eigentlich von uns nur ff genannt, fickfrotscher, hatte keinen vater mehr und eine überaus tolerante mutter, die die tittenplakate ffs tolerierte. woher er die bekam, war uns allen ein rätsel. auf jeden fall durfte bei ihm am wochenende immer nur einer unserer bande übernachten und wir strichen die tage mit zitternden händen ab. frotscher war der mann fürs grobe. er erledigte unautorisierte klogänge auf seine art, und er baute nach jedem einsturz unser versteck allein wieder auf. groß war die hütte nicht, sie reichte gerade für uns aus, und ans stehen war gar nicht zu denken. aber in einer der vier ecken, deren pfeiler große weymouthskiefern waren, hatten wir unser versteck im versteck. frotscher hatte da seine ganze handwerkskunst spielen lassen und uns eine grube ausgehoben, die verdeckt war mit einem gitter aus birkenrinde, natürlich unkenntlich gemacht mit nadeln der kiefern, die aber immer wieder hineinfielen, sodass wir bei jeder benutzung sie,
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die grube, neu ausheben mussten. dort jedenfalls sollten die kippen aufbewahrt werden. nachdem sich jeder drei schachteln in die taschen gesteckt hatte, legten wir den rest in die grube und freuten uns wie wild auf den nächsten tag, weil wir schon die gierigen fressen der zehnten vor uns und unsere taschen sich füllen sahen. keiner von uns wusste da, dass sich keine drei bäume weiter die bekloppten der westhoff ihre mäuler hielten, um sie sich nicht zu zerreißen … am nächsten morgen, gestern also, trafen wir uns vor der schule, die zwillinge hatten schon alles klargemacht. und in der pause zur dritten rannten sie uns die bude ein, sprich: das klo war so hoffnungslos überfüllt wie unsere taschen oder das pissoir am fenster. und görlich grinste in einem fort und frotscher hielt schon die rechte hand an seiner hose, damit sie ihm nicht runterrutschte, und hocke legte sogar ab und zu eine kippe kostenlos dazu, so war das. alles in allem war gestern also der beste tag unseres kurzen gangsterlebens gewesen, wir waren die könige der schule, wir waren die könige der straße, scheiße mann: zeulenroda war doch erst der anfang. bei dem es dann auch blieb. wie gesagt, der tag heute begann irgendwie komisch und endete im scheißdesaster. mitten in der fünften stunde, die fette müllern quatschte uns schon wieder mit ihrem schwulen schiller voll, klopfte es an die tür und frau schwuler-schiller-müller verließ kurz den raum und ich sah zu frotscher und görlich sah zu mir und hocke sah zu mir und mir nichts, dir nichts war die müllern zurück und rief unsere namen auf und sagte, dass draußen vor dem zimmer ein herr kriminalwasweißichkommissar warten würde und wir doch eben bitte diesem herrn folgen sollten. dass wir am arsch waren, wussten wir, erwischt hatten sie uns ja nicht zum ersten mal. aber irgendetwas stimmte hier nicht. jetzt jedenfalls sitze ich mit frotscher, görlich und hocke auf dem revier, die zwillinge haben es mal wieder geschafft (gequatscht wird bei uns nicht) und vor uns dieser kriminalfuzzi und neben diesem heini sitzt steve johannis, der kloppi aus der westhoff, der bekloppte rotschopf, der den mädchen die schuhe küsst
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und, scheiße mann, ihnen, den mädchen, tatsächlich und das müsst ihr euch mal auf der zunge zergehen lassen, die taschen noch in die schule trägt, in der hoffnung, seine drecksfinger bekämen mal eine sanfte wölbung zu fassen. dieser verpickelte steve johannis zeigt also alle paar minuten mit dem finger auf einen von uns. was wir in einem lager der volkspolizei zeulenroda zu tun gehabt hätten? und ob uns das hinweisschild nicht aufgefallen sei? das alles und noch mehr fragt uns immer wieder dieser kriminalfuzzi und berät sich dann jedes Mal kurz mit steve johannis, der so gut wie tot ist und der ein grinsen im gesicht trägt, dieses unglaublich befriedigte grinsen, das man ihm herausschlagen möchte aus seiner bescheuerten fresse.
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Roman Israel
Reise nach Loitoktok »Ziehen Sie aus?«, fragte mich die Nachbarin auf der Treppe und machte ein Gesicht, als würde gleich die Welt untergehen. »Ich bin schon. Die Wohnung ist leer.« »Aber warum denn?«, ihre Stimme hatte einen weinerlichen Klang. »Tja. Warum wohl? Irgendwann ist es eben mal soweit.« »Ich wohne seit 23 Jahren hier und ich wollte nie, dass es soweit ist.« »Ich komme ja wieder.« »Und dann ziehen Sie wieder hier ein?« »Die Wohnung wird kaum so lange leer bleiben können.« »Wie lange sind Sie denn weg?« »Ist noch nicht raus. Mehrere Jahre.« »Und Ihre Freundin?« »Ich habe keine.« »Aber ich habe doch bei Ihnen immer etwas stöhnen gehört!« »Da müssen Sie sich verhört haben. Ich lebe allein.« »Ich auch.« »Na dann, alles Gute!« Wir gaben uns die Hände, ihre Wohnungstür krachte zu. Ich riss das Namensschild ab und drehte den Schlüssel rum, einmal, zweimal, bis es nicht weiterging. Und wieder eine halbe Drehung zurück, wie bei einem Safe. Es war wie im Film, ich hasste mich dafür. Ich hatte in der Stadt noch einige Erledigungen zu machen. Ich musste das Sparbuch kündigen, denn ich brauchte es nicht mehr. Dazu wollte ich mir ein paar Bücher kaufen und mich ein letztes Mal vergewissern, wo gebaut wurde und was alles nicht mehr stehen würde, wenn ich wiederkäme. In dieser Beziehung unterschied ich mich nicht von den tausenden
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von Rentnern der Stadt, ich war ein alter Mann und absoluter Durchschnitt. An den Brücken stank es nach Kanalisation. Ein Mann in Orange leerte Papierkörbe. Die Gehwege waren dreckig und klebrig. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Überall lagen Scherben. An manche Mauer war gekotzt oder gepisst worden. Wer das nicht mochte, musste unbedingt drübersteigen. Es war eine Art Hindernisparcours. Aber nicht heute. Beim Abschied hat man so viele Erinnerungen, und es kommen einem immer die Tränen, egal wie widerlich die Erfahrung war. Es sei denn … Aber darüber möchte ich jetzt lieber nicht sprechen. Auf der Bank ging alles schnell und flüssig. Die letzten Euro ließ ich mir auszahlen. Man kassierte mein Büchlein ein und zeigte sich tief betroffen. Aber das war nur für etwa zwei Sekunden so. So etwas ist eiskalt einstudiert, jeder wusste es, jeder kannte es. Nur die Naiven bildeten sich auf die Anteilnahme Fremder noch etwas ein. Ob das Konto gekündigt wird oder die Wohnung oder Krebs und tot; und hui, die Mutter jetzt auch, schade, nicht. Aber wen kümmert das noch? Ein Standardsatz fiel vom Mann am Schalter, noch ein paar übers Wetter. Lachfratzen bei mir und ihm – zwei Kasper, zwei dicke Busenfreunde, die sich nie wieder über den Weg laufen würden. Und dann: »Gute Reise!« Am Markt setzte ich mich in ein Café, in dem ich in den vielen Jahren des hier Wohnens noch kein einziges Mal gewesen war. Ich bin nicht der Mensch, der sich allein in Cafés setzt, um dort etwas zu trinken oder die Zeitung zu lesen, dafür fehlen mir einfach die Moneten. Vielleicht bin ich auch zu knauserig mit mir, aber okay, ich war immer irgendwie ein Geizhals gewesen, nur Frauen hätten es ändern können. Leider hatte ich immer nur solche, die selbst geizig waren. Der Kellner bringt einen Cappuccino und ich hole mir die Zeitung vom Ständer. Der Rahmen, in den sie eingespannt ist, stört beim Umblättern und Lesen. In den Nachrichten ist wieder das Übliche, die übliche Propaganda. Wachstum verringert, noch nie gab es so wenig Wachstum, aber im Weltvergleich,
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da sind wir immer noch Spitze. Und wenn man die Seite umblättert, da ist dann wieder das ganze Gegenteil, es geht bergauf und wie, aber die Japaner haben uns trotzdem überholt. Ein ewiger Kampf in allen nur erdenklichen Disziplinen. Wofür kämpfen wir gleich noch mal? Der Cappuccino ist viel zu süß. Gut, dass ich hier nie hingegangen bin. Als der Kellner kommt und fragt, ob ich zufrieden sei, fällt mir nichts Besseres ein als: »Hey, supergut, alles prima.« Keine Lust auf irgendwelche Unannehmlichkeiten. Woanders werde ich erzählen, dass ich ihm das Gebräu am liebsten in die Schissritze gegossen hätte, und eigentlich war ich ja schon kurz davor gewesen, aber dann musste ich leider so schnell los, und da habe ich es eben bleiben lassen … ja, ja. Aber beim nächsten Mal, da würde ich meine Stimme erheben, ich würde mich aufschwingen und mich rächen. Blutrache! Einfach nicht zu fassen, was für ein Arschloch aus mir geworden war. Ich lobte und grinste und alles nur Fassade. Besser war’s nur bei den Kommunisten. Aber in China, da ist jetzt auch alles scheiße. Am Markt schritt ich die Schaufenster ab. Hier waren die Wege die saubersten der Stadt. An einem Spielwarenladen blieb ich stehen. Hinter der Scheibe war ein Puzzle ausgestellt, ein Ostseebild mit Möwen, die auf Buhnen saßen, raue See, jede Menge Wellen. Ich lachte, die werden sich hier nicht lange halten können. Welches Kind will denn schon so einen Mist haben? Damit habe ja nicht mal ich gespielt, damals, als das noch was ganz Tolles, Neues war, das mit dem Puzzeln. Plötzlich läuft ein Film in mir ab. So ein schwarz-weißer. Ich sitze am Bett eines dunkelhäutigen Kindes, und es fragt mich in uraltem Deutsch: »Welche Tiere hast du gesehen, Onkel Vati?« »Na, Schafe.« »Und?« »Raben.« »Am Wasser?« »Nein, da gab’s kein Wasser. Auf dem Feld.« »Und was sonst noch?«
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»Hm. Nichts.« »Spatzen?« »Nein. Die gab’s da nicht.« »Warum nicht, Onkel Vati?« »Es kann doch nicht überall welche geben.« »Und Möwen?«, fängt sie wieder an, die Kleine. Ja, es ist jetzt eine Kleine. Es war nie ein Junge gewesen. Ihre braunen Augen strahlen. »Nein«, sage ich. »Warum keine Möwen? Man sieht doch immer welche.« »Aber diesmal nicht.« »Wirklich keine einzige Möwe?« »Ich wüsste jetzt nicht, wo.« »Na, am Wasser.« »Nein, am Wasser war niemand, kein Mensch und keine Möwe.« »Das ist aber sehr ungewöhnlich.« »Das ist ganz normal.« »Findest du?« »Mach endlich die verdammten Gucklöcher zu!« Ein Film. Ja, es muss irgendein Film gewesen sein. Ich glaube, ich spinne. Ich will diese Filme jetzt nicht sehen, ich will überhaupt keine Filme sehen. Als ich die Menschenmassen in der Fußgängerzone sah, hatte ich plötzlich keine Lust mehr, noch ein Buch zu kaufen. Ich würde mir auf dem Flughafen eins holen. Was Bücher anbelangt, war ich relativ anspruchslos. Ich las so ziemlich alles, meistens interessierte es mich sowieso nicht, und ich dachte beim Lesen immer an etwas anderes. Und ob ich nun ein Fachbuch las, während ich an etwas anderes dachte, oder einen Kitschroman, das machte absolut keinen Unterschied. Ich stieg in die Bahn. Wenn du wiederkommst, wird hier alles platt sein, dachte ich. Es ist dann eine andere Stadt. Und es sind andere Leute und nicht mehr die, die du kanntest. Du wirst dir alles neu erarbeiten müssen. Das ist immer so nach einer langen Reise. Ich starrte auf die Nachbargleise.
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Sie verschwammen, und mir, mir wurde plĂśtzlich ganz fĂźrchterbar ums schwache Herz.
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Anmoderation Julius Fischer und Stefan Seyfarth Michael Bittner – Sibylle oder Die verlorene Kunst des Kuschelns Stefan Seyfarth – Drei Texte Dresden-Neustadt Julius Fischer – Zu kompliziert Michael Bittner – Prokrastination Roman Israel – Ein Herz im Herbst Max Rademann – Wie zwei Monchhichis Julius Fischer – Ich hasse Menschen. Heute: Karl-Heinz Rummenigge Max Rademann – Hero Taxi Driver Julius Fischer – Lied mit überraschendem Gitarrenmove am Ende Abmoderation Michael Bittner und Stefan Seyfarth
www.saxroyal.de
www.voland-quist.de
Michael Bittner Julius Fischer Roman Israel Max Rademann Stefan Seyfarth
Eine Lesebühne rechnet ab
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Das Besondere der Lesebühne Sax Royal ist ihre Vielfalt: Geschichten und Gedichte, Tiefsinn und Hochkomik, humoristischer Ausbruch und politischer Anspruch schließen sich nicht aus, sondern finden zueinander wie die Faust und das Auge.
Sax Royal (v.l.n.r.): Max Rademann, Stefan Seyfarth, Roman Israel, Michael Bittner, Julius Fischer.
Sax Royal
(LIVE in der Scheune, Dresden)
Gesamtspielzeit: 72 min
[ otto: [F o C Chr hrristi hris t an ti ne Mi Mich ch hel e]
13,90 Euro (D)
ISBN 978-3-938424-49-0