Vorwort Ich hatte geplant, ein halbes Jahr lang jeden Tag zwanzig Seiten Proust zu lesen, ich hatte nicht geplant, ein weiteres halbes Jahr dafür zu opfern, aus meinem Lektüreblog »Schmidt liest Proust« ein Buch zu machen. Die Arbeit war nötig, denn man versteht sein Leben mit zwei Jahren Abstand natürlich viel besser. Man ist ja in der Regel geistig gar nicht auf seinem eigenen Niveau, sondern befangen in der »Stullizität des Unmittelbaren« (Jürgen Kuttner). Zwei Jahre später fällt mir endlich das richtige Wort ein. Außerdem mußte ich nicht mehr so viel Rücksicht nehmen und konnte Zensiertes entschleiern und Verzichtbares kürzen. Am Blog geiel mir das Spielerische, die Selbstverplichtung, erbarmungslos jeden Tag zu veröfentlichen, unabhängig von der eigenen Verfassung. Diszipliniert die eigene Disziplinlosigkeit zu dokumentieren, das Nebensächliche aufzuschreiben ohne geschwätzig zu werden. Es gibt Texte, an denen man bis zu seinem Tod feilen sollte, und es gibt Texte, die das kaputtmachen würde. An alten Fotos ist meistens das interessant, was nur zufällig ins Bild geraten ist. Was auf einem Foto zu sehen ist, ändert sich ja mit der Zeit. Auf dem Haus am Alex stand also »Chemie-Erzeugnisse aus der DDR«? Nie hätte ich das bewußt fotograiert, es war mir ja gar nicht aufgefallen, als es noch dort stand. Aber jetzt ist es für mich die Hauptattraktion des Fotos. Solches Material wollte ich für die Zukunt sammeln, Ruinen von morgen, Details, die die Gewohnheit unsichtbar werden läßt. Die Idee schien mir zu Proust zu passen. Im übrigen ist mein Text immer besser geworden, je schlechter es mir ging. Insofern sagt er eigentlich überhaupt nichts über mich aus. Dazu müßte ich ein Buch darüber schreiben, wie ich ein Buch über Proust geschrieben habe. An zwei Tagen mußten mir sogar Kolleginnen aushelfen, weil eine hetige Liebeserkrankung – an der ich Proust die Schuld gebe – mich aus der Bahn zu werfen drohte. Ich danke Kathrin Passig und Annett Gröschner. Ich habe mir nie angemaßt, etwas Relevantes zu Proust zu sagen zu haben, ich wollte nur meine Begeisterung mitteilen und andere zur Lektüre verführen. Ich habe die »Recherche« bewußt naiv gelesen und mich nicht weitergehend informiert, sie sollte als Buch funktionieren. Im Lauf der Lektüre habe ich ein paar Kategorien eingeführt, um die Materialmasse zu ordnen, sozusagen kleine Stapel, wie es sie in meiner Wohnung gibt. Unter
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»Unklares Inventar« bilde ich beispielsweise den Stand meines Unwissens ab, in dem Wissen, daß ich mich damit lächerlich mache. Ich wüßte nicht, was »Gallé-Gläser« sind, hat sich meine Familie entsetzt, dabei hatten wir eine Gallé-Vase zu Hause! Dafür kennen sie Bruce Lee nicht … Es gibt eben keinen Bildungskanon mehr. Niemand ist verplichtet, etwas zu wissen, aber jeder ist verplichtet, sein Unwissen zu beseitigen. Es ist eine stolze Lebensleistung, die »Recherche« geschat zu haben, nicht weil sie so lang ist, sondern weil man, um sie zu lesen, seine Seele stimmen muß wie ein Instrument. Man könnte sagen, daß man nicht sterben sollte, ohne Proust gelesen zu haben. Aber in Wirklichkeit ist man dann noch gar nicht geboren. Berlin, September 2008
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9. Mi, 26.7., Berlin Der Tag war heiß. Im Sportzeug zum Kindergarten und dann direkt ins Stadion. 50-Runden-Lauf nach der Hälte abgebrochen. Bei H&M Schlüpfer und Hemden, ein neues Leben in bunt. Eine echte Levi’s. Beim Friseur lasse ich die ältere Dame machen, und nach fast fünfundzwanzig Jahren fällt mir auf, daß mir etwas längere Haare besser stehen als Façon. Am Nachmittag auf dem Spielplatz. M. kommt uns besuchen, mit Motorrad. Sie hat mit allen Afairen Schluß gemacht, weil sie sechs Scheine machen muß. Curtius schreibt in seinem Proust-Essay: »Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung der Energie von der Praxis in die Poiesis. […] Es ist nicht etwa nur so, daß das Schaffen ihm keine Energie mehr für das Handeln übrigließ; es verhält sich vielmehr so, daß das Handeln und überhaupt das Wollen in der praktischen Sphäre jenes reine Schauen getrübt und eingeengt hätte, das die Voraussetzung seiner Kunst ist.« Mein reines Schauen wurde heute davon getrübt und eingeengt, daß ich einem kleinen Mädchen den Hintern abwischen mußte. Übermorgen nach Odessa zum Russischkurs. Vor allem, weil der Name so märchenhat klingt. Nachdem ich geduldig zwanzig Seiten Proust gelesen habe, geht es mir wie Proust: »Mein so lange zur Unbeweglichkeit verurteilter Körper, der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen hatte, empfand das Bedürfnis, wie ein Kreisel, der endlich aufgesetzt wird, nach allen Seiten zu schnurren.« Dann will ich mal zum Reisebüro schnurren.
Weil sich aber auch für einen Proust allein durch Willenskrat keine Frau aus der Landschat hervorzaubern läßt, schlägt er aus Wut auf die Bäume ein. Unklares Inventar: – Camaïeumalereien. Bewußtseinserweiterndes Bild: – »Manchmal zog durch den Nachmittagshimmel schon der noch nebelweiße, heimliche, glanzlose Mond wie eine Schauspielerin, die erst später autritt und vom Zuschauerraum aus in Straßentoilette einen Augenblick ihren Kollegen zuschaut in dem Bestreben, selbst im Hintergrund zu bleiben und nicht beachtet zu werden.«
In Swanns Welt, S. 167–190 Marcel geht allein durch den Wald und erwartet von seinem Schicksal, daß es in jedem Moment ein ländliches Mädchen autauchen und ihn in die Arme schließen läßt, wobei er betont, daß jene hypothetische Vorübergehende »für mich nicht nur ein beliebiges Exemplar des Gattungsbegrifs ›Frau‹ war, sondern ein notwendiges und natürliches Produkt dieses speziellen Bodens«. In Paris würde ihm dieselbe nämlich fade vorkommen, die Frau muß eine lokale Spezialität sein.
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9. Mi, 26.7., Berlin Der Tag war heiß. Im Sportzeug zum Kindergarten und dann direkt ins Stadion. 50-Runden-Lauf nach der Hälte abgebrochen. Bei H&M Schlüpfer und Hemden, ein neues Leben in bunt. Eine echte Levi’s. Beim Friseur lasse ich die ältere Dame machen, und nach fast fünfundzwanzig Jahren fällt mir auf, daß mir etwas längere Haare besser stehen als Façon. Am Nachmittag auf dem Spielplatz. M. kommt uns besuchen, mit Motorrad. Sie hat mit allen Afairen Schluß gemacht, weil sie sechs Scheine machen muß. Curtius schreibt in seinem Proust-Essay: »Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung der Energie von der Praxis in die Poiesis. […] Es ist nicht etwa nur so, daß das Schaffen ihm keine Energie mehr für das Handeln übrigließ; es verhält sich vielmehr so, daß das Handeln und überhaupt das Wollen in der praktischen Sphäre jenes reine Schauen getrübt und eingeengt hätte, das die Voraussetzung seiner Kunst ist.« Mein reines Schauen wurde heute davon getrübt und eingeengt, daß ich einem kleinen Mädchen den Hintern abwischen mußte. Übermorgen nach Odessa zum Russischkurs. Vor allem, weil der Name so märchenhat klingt. Nachdem ich geduldig zwanzig Seiten Proust gelesen habe, geht es mir wie Proust: »Mein so lange zur Unbeweglichkeit verurteilter Körper, der sich mit Unruhe und gestautem Bewegungsdrang aufgeladen hatte, empfand das Bedürfnis, wie ein Kreisel, der endlich aufgesetzt wird, nach allen Seiten zu schnurren.« Dann will ich mal zum Reisebüro schnurren.
Weil sich aber auch für einen Proust allein durch Willenskrat keine Frau aus der Landschat hervorzaubern läßt, schlägt er aus Wut auf die Bäume ein. Unklares Inventar: – Camaïeumalereien. Bewußtseinserweiterndes Bild: – »Manchmal zog durch den Nachmittagshimmel schon der noch nebelweiße, heimliche, glanzlose Mond wie eine Schauspielerin, die erst später autritt und vom Zuschauerraum aus in Straßentoilette einen Augenblick ihren Kollegen zuschaut in dem Bestreben, selbst im Hintergrund zu bleiben und nicht beachtet zu werden.«
In Swanns Welt, S. 167–190 Marcel geht allein durch den Wald und erwartet von seinem Schicksal, daß es in jedem Moment ein ländliches Mädchen autauchen und ihn in die Arme schließen läßt, wobei er betont, daß jene hypothetische Vorübergehende »für mich nicht nur ein beliebiges Exemplar des Gattungsbegrifs ›Frau‹ war, sondern ein notwendiges und natürliches Produkt dieses speziellen Bodens«. In Paris würde ihm dieselbe nämlich fade vorkommen, die Frau muß eine lokale Spezialität sein.
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49. Di, 5.9., Berlin Er ist ein Kollege aus einem kleinen Land in Osteuropa, das mit Erfolg Autoren in den Westen exportiert. Obwohl er erst ein Buch geschrieben hat, ist er in seinem Land weltbekannt. Als Kind mußte er kämpfen, weil das Gebiet, in dem er wohnte, einmal seiner adligen Familie gehört hatte und die Gleichaltrigen ihn deshalb ständig herausforderten. Bei den landesweiten Schulwettbewerben war er immer der Beste, erzählt er ohne falsche Bescheidenheit. Später log er von der Schule, weil er sich bei einer Feier weigerte, ein stalinistisches Gedicht aufzusagen, nicht weil es stalinistisch war, sondern weil es ihm als Gedicht nicht geiel. Egal, was man ihm erzählt, er kontert mit einer besseren Geschichte. Wenn man erwähnt, man sei zufällig am 11. September in New York gewesen, erzählt er, daß er zu dieser Zeit im East Village gelebt habe. Wenn man berichtet, daß man im »Memorialul victimelor comunismului şi al rezistenţei« in Sighet, einer Stadt im Norden Rumäniens gewesen ist, wo man die Zelle des Politikers Julius Maniu sehen kann, dessen Hut dem Museum vom ehemaligen Gefängnisdirektor, der immer noch im Ort wohnt, seit Jahren vergeblich zum Kauf angeboten wird, erzählt er einem, daß er im Süden der USA in einem historischen Museum den Kinderschädel des minderjährigen Napoleon ausgestellt gesehen habe. Vielleicht kann man es in diesem Beruf nur so zu etwas bringen. Er ist ein Jahr älter als ich, und ich hofe, es ist nicht das eine Jahr, das mich noch davon trennt, so zu werden.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 508–529 Von seelischen Problemen bedrückt hätte Marcel keine Angst vor einem gewaltsamen Tod, denn der wäre nichts verglichen mit seinen Sorgen, und er sieht ihm »fast mit einem Gefühl der Erleichterung, ja der Heiterkeit ins Auge«. So geht es mir im Flugzeug, ein eigenartiges Phänomen, daß einen der Tod weniger schreckt als das Ausfüllen der Steuererklärung oder ein Bewerbungsgespräch oder auch nur der Aufwand, einmal die Wohnung zu wischen. Wie sollte man so in einem Stralager überleben? Endlich ist er mit Elstir am Strand, er überlegt sich Vorwände, um ihn dort aufzuhalten, wo er die »kleine Schar« erwartet. Schließlich erscheinen sie tatsächlich, und sie sehen aus »als bemerkten sie mich nicht, obwohl sie sicher gerade über mich ironische Bemerkungen austauschten«. Es ist fast schon
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enttäuschend, sich irgendwann im Leben klarzumachen, daß nicht ständig alle über einen reden, und sei es schlecht. Besonders im Ausland, wenn man die Sprache kaum versteht und der ganze Bus sich über einen lustig zu machen scheint. Aber in Wirklichkeit haben sie einen gar nicht bemerkt. Gleich werden die sportlichen Mädchen Elstir begrüßen und dieser wird Marcel dazurufen und ihnen vorstellen, und da das so unvermeidlich scheint, wendet sich Marcel »wie ein Badender um, der die Welle über sich hinwegluten lassen will«. Denn am Ziel seiner Wünsche verlassen ihn mal wieder seine Wünsche: »Seitdem das Vergnügen, sie kennenzulernen, unvermeidbar war, schrumpte es in sich zusammen.« Wieder kann er nur begehren, was sich ihm entzieht. Das »Fort-da«-Spiel, das Freud am Kleinkind beobachtet, wenn es eine Spule aus dem Ställchen wirt und wieder hereinzieht. Die Spule steht für die Mutter, deren Anwesenheit dem Kind Lust und deren Abwesenheit ihm Unlust bereitet. Da es das Verhalten der Mutter nicht kontrollieren kann, benutzt das Kind die Spule, um sich das Lust-Unlust-Gefühl nach Belieben zu verschafen. Sie immer im Ställchen zu behalten, wäre reizlos, denn Freud schreibt, daß Glück nur als episodisches Phänomen möglich ist: »Jede Fortdauer einer ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen.« Marcel müßte also eine Art seelisches Gummiband konstruieren, an dem er die Mädchen vor und zurückschnipsen lassen könnte, um ihre An- und Abwesenheit zu kontrollieren. Und tatsächlich: »Dementsprechend aber erlangte sie [die Freude] in gleichsam elastischem Zurückschnellen ihren früheren Umfang zurück, sobald der Druck der Gewißheit wich, als ich mich nämlich entschloß, doch einmal den Kopf zu wenden, und Elstir ein paar Schritte von mir entfernt bei den Mädchen stehen, sich aber gerade von ihnen verabschieden sah.« Er hat zu lange gezögert, sie sind wieder weg, aber die Unlust deswegen ist ja nur die Kehrseite der Lust. »Das Gesicht derjenigen, die ihm am nächsten war, hatte in seiner breiten, vom Schimmer der Augen erhellten Form das Aussehen eines lachen Kuchens, durch den man an zwei Stellen ein wenig Himmel sah.« Ich versuche mir ein Mädchengesicht vorzustellen, das wie ein lacher Kuchen mit durchscheinendem Himmel aussieht und in irgendeiner Weise attraktiv ist. Nach rein ästhetischen Gesichtspunkten hätte er ihr die Frauen von Veronese vorziehen müssen. »[I]ch hatte mit dem, was ich als ‚sie‘ bezeichnete, einen langen, inneren Dialog geführt, in dem ich sie fragen, antworten, denken, handeln ließ, und in der unendlichen Serie der vorgestellten Albertinen, die in mir stündlich aufeinanderfolgten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande erblickt, nur am
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49. Di, 5.9., Berlin Er ist ein Kollege aus einem kleinen Land in Osteuropa, das mit Erfolg Autoren in den Westen exportiert. Obwohl er erst ein Buch geschrieben hat, ist er in seinem Land weltbekannt. Als Kind mußte er kämpfen, weil das Gebiet, in dem er wohnte, einmal seiner adligen Familie gehört hatte und die Gleichaltrigen ihn deshalb ständig herausforderten. Bei den landesweiten Schulwettbewerben war er immer der Beste, erzählt er ohne falsche Bescheidenheit. Später log er von der Schule, weil er sich bei einer Feier weigerte, ein stalinistisches Gedicht aufzusagen, nicht weil es stalinistisch war, sondern weil es ihm als Gedicht nicht geiel. Egal, was man ihm erzählt, er kontert mit einer besseren Geschichte. Wenn man erwähnt, man sei zufällig am 11. September in New York gewesen, erzählt er, daß er zu dieser Zeit im East Village gelebt habe. Wenn man berichtet, daß man im »Memorialul victimelor comunismului şi al rezistenţei« in Sighet, einer Stadt im Norden Rumäniens gewesen ist, wo man die Zelle des Politikers Julius Maniu sehen kann, dessen Hut dem Museum vom ehemaligen Gefängnisdirektor, der immer noch im Ort wohnt, seit Jahren vergeblich zum Kauf angeboten wird, erzählt er einem, daß er im Süden der USA in einem historischen Museum den Kinderschädel des minderjährigen Napoleon ausgestellt gesehen habe. Vielleicht kann man es in diesem Beruf nur so zu etwas bringen. Er ist ein Jahr älter als ich, und ich hofe, es ist nicht das eine Jahr, das mich noch davon trennt, so zu werden.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 508–529 Von seelischen Problemen bedrückt hätte Marcel keine Angst vor einem gewaltsamen Tod, denn der wäre nichts verglichen mit seinen Sorgen, und er sieht ihm »fast mit einem Gefühl der Erleichterung, ja der Heiterkeit ins Auge«. So geht es mir im Flugzeug, ein eigenartiges Phänomen, daß einen der Tod weniger schreckt als das Ausfüllen der Steuererklärung oder ein Bewerbungsgespräch oder auch nur der Aufwand, einmal die Wohnung zu wischen. Wie sollte man so in einem Stralager überleben? Endlich ist er mit Elstir am Strand, er überlegt sich Vorwände, um ihn dort aufzuhalten, wo er die »kleine Schar« erwartet. Schließlich erscheinen sie tatsächlich, und sie sehen aus »als bemerkten sie mich nicht, obwohl sie sicher gerade über mich ironische Bemerkungen austauschten«. Es ist fast schon
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enttäuschend, sich irgendwann im Leben klarzumachen, daß nicht ständig alle über einen reden, und sei es schlecht. Besonders im Ausland, wenn man die Sprache kaum versteht und der ganze Bus sich über einen lustig zu machen scheint. Aber in Wirklichkeit haben sie einen gar nicht bemerkt. Gleich werden die sportlichen Mädchen Elstir begrüßen und dieser wird Marcel dazurufen und ihnen vorstellen, und da das so unvermeidlich scheint, wendet sich Marcel »wie ein Badender um, der die Welle über sich hinwegluten lassen will«. Denn am Ziel seiner Wünsche verlassen ihn mal wieder seine Wünsche: »Seitdem das Vergnügen, sie kennenzulernen, unvermeidbar war, schrumpte es in sich zusammen.« Wieder kann er nur begehren, was sich ihm entzieht. Das »Fort-da«-Spiel, das Freud am Kleinkind beobachtet, wenn es eine Spule aus dem Ställchen wirt und wieder hereinzieht. Die Spule steht für die Mutter, deren Anwesenheit dem Kind Lust und deren Abwesenheit ihm Unlust bereitet. Da es das Verhalten der Mutter nicht kontrollieren kann, benutzt das Kind die Spule, um sich das Lust-Unlust-Gefühl nach Belieben zu verschafen. Sie immer im Ställchen zu behalten, wäre reizlos, denn Freud schreibt, daß Glück nur als episodisches Phänomen möglich ist: »Jede Fortdauer einer ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen.« Marcel müßte also eine Art seelisches Gummiband konstruieren, an dem er die Mädchen vor und zurückschnipsen lassen könnte, um ihre An- und Abwesenheit zu kontrollieren. Und tatsächlich: »Dementsprechend aber erlangte sie [die Freude] in gleichsam elastischem Zurückschnellen ihren früheren Umfang zurück, sobald der Druck der Gewißheit wich, als ich mich nämlich entschloß, doch einmal den Kopf zu wenden, und Elstir ein paar Schritte von mir entfernt bei den Mädchen stehen, sich aber gerade von ihnen verabschieden sah.« Er hat zu lange gezögert, sie sind wieder weg, aber die Unlust deswegen ist ja nur die Kehrseite der Lust. »Das Gesicht derjenigen, die ihm am nächsten war, hatte in seiner breiten, vom Schimmer der Augen erhellten Form das Aussehen eines lachen Kuchens, durch den man an zwei Stellen ein wenig Himmel sah.« Ich versuche mir ein Mädchengesicht vorzustellen, das wie ein lacher Kuchen mit durchscheinendem Himmel aussieht und in irgendeiner Weise attraktiv ist. Nach rein ästhetischen Gesichtspunkten hätte er ihr die Frauen von Veronese vorziehen müssen. »[I]ch hatte mit dem, was ich als ‚sie‘ bezeichnete, einen langen, inneren Dialog geführt, in dem ich sie fragen, antworten, denken, handeln ließ, und in der unendlichen Serie der vorgestellten Albertinen, die in mir stündlich aufeinanderfolgten, kam die wirkliche Albertine, die ich am Strande erblickt, nur am
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Anfang vor, so wie die Schauspielerin, die eine Rolle kreiert hat, der ›Star‹, im Verlaufe einer langen Reihe von Auführungen nur in den ersten autritt.« In der Liebe weiß man nicht, was man in der Phantasie des anderen schon verbrochen hat. Aber irgendwie wird man dann trotzdem dafür verantwortlich gemacht. Und wer war die Frau auf dem Porträt, das vor Madame Elstir versteckt werden mußte? Keine andere als die junge Odette! Natürlich sieht sie auf dem Bild noch nicht so aus, wie sie sich später selbst stilisiert hat. Denn wie arbeiten Maler? »Die ganze künstlerische Harmonie, die eine Frau ihren Zügen gleichsam aufzwingt und deren Weiterbestehen sie im Spiegel überwacht, wobei sie der Neigung des Hutes, der Anordnung des Haars, der Munterkeit des Blicks die Aufgabe zuweist, immer wieder den gleichen Efekt zu erzielen, löst der Blick des Malers sekundenschnell in ihre Bestandteile auf; sein Auge nimmt an ihrer Stelle in den Besonderheiten des Modells eine Umgruppierung vor, so daß es eher einem weiblichen oder künstlerischen Ideal entspricht, das er in sich trägt.« Das gilt natürlich auch für geschriebene Porträts, und es ist riskant, die von einer Frau ihren Zügen aufgezwungene künstlerische Harmonie nach dem eigenen Ideal aufzulösen und umzugruppieren. Aber während die Frau sich am liebsten in einem Kleid photographieren läßt, in dem ihre Figur so vorteilhat zur Geltung kommt, daß sie wie »die Tochter ihrer Tochter aussieht«, wird der Maler »im Gegenteil alle nachteiligen Züge hervorheben, die sie selbst sorgfältig zu verstecken sucht, die aber, wie beispielsweise ein gelblicher oder sogar grünlicher Teint, ihn erst recht zur Wiedergabe reizen, weil sie ›charakterisieren‹«. Saint-Loup muß zurück in die Garnison und schreibt Marcel von dort einen Brief: »Am liebsten hätte ich die Erinnerung an die mit Ihnen verbrachte Zeit an diesem ersten Tage ganz für mich genossen, ohne Ihnen zu schreiben. Aber dann fürchtete ich, Ihr erlesener Geist und Ihr übersensibles Herz könnten befremdet sein, wenn Sie keinen Brief bekämen, wofern sie überhaupt geruhen, Ihre Gedanken bis zu dem rauhen Reitersmann schweifen zu lassen, der Ihnen noch manches aufgeben wird, bis er weniger ungehobelt, kultivierter und Ihrer würdiger ist.« Solche Briefe müßte man bekommen! Aber man kann sich seine Freunde nicht hobeln. Verlorene Praxis: – Seinen schönsten Spazierstock bei sich führen. – Aus jeder einen selbst oder andere betrefenden Begebenheit »zur Belehrung der jüngeren Menschen den Teil an Wahrheit herausstellen, den sie enthält«.
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50. Mi, 6.9., Berlin Manche vernichten nach einer Enttäuschung (wo doch jeder Auslug in die Wirklichkeit in gewissem Maß enttäuschend ist) alle Bilder und Briefe des Betrefenden. Kann man Erfahrungen als »Fehler« bezeichnen? Als könne man im Leben zwischen Richtig und Falsch unterscheiden, wo doch das eine immer ins andere übergeht. Ich glaube, ich habe noch Zettel, die mir vor zwanzig Jahren an die Tür gehängt wurden. Aber ich sehe mir mein Museum nur noch ungern an. Man muß die Konfrontation mit der Vergangenheit behutsam dosieren, man geht ja auch nicht am selben Tag in zwei Wagner-Opern. Es ist schon ein Schock, jemanden, mit dem man mal zusammen war, nach zehn Jahren wiederzutrefen. Vielleicht meidet man deshalb zunehmend die Menschen. Das anstrengende Nachjustieren der Selbstwahrnehmung. Schon das serielle Kunstwerk der Paßbildsammlung, die jeder von sich besitzt, enthält das ganze Grauen. Welcher Zusammenhang läßt sich zwischen den Jochen Schmidts herstellen, an die ich mich erinnere, wenn ich an mein Leben zurückdenke? »Der Mann, den sie ich nannten«, wollte ich meine Auobiographie immer nennen. Es gibt eine Szene in »Frasier«, wo dem Psychologen Frasier in einem Holzhäuschen in den Bergen alle Ex-Frauen erscheinen, inklusive der Mutter, und über ihn ein Strafgericht halten. So etwas kann mir täglich passieren, ich muß nur einmal versäumt haben, vor Beendigung einer Arbeit eine neue Arbeit zu beginnen. Denn wenn der Abgrund zwischen zwei Arbeiten, den manche als »Freizeit« bezeichnen, zu groß ist, geht das heater los. Mit zunehmendem Alter hat man ein Arsenal von dramatischen Szenen im Gedächtnis, verwirrenden Gefühlen, verpassten Gelegenheiten, schmerzhaten Erfahrungen, für die das Bewußtsein zu klein ist.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 529–549 Er möchte »die momentane Frische und Eleganz, die beim Verlassen des Hotels an mir festzustellen war (dank einer ausgedehnteren Ruhe und der besonderen, meiner Toilette gewidmeten Aufmerksamkeit)« eigentlich lieber »für die Eroberung einer anderen, interessanteren Person aufsparen«, statt Albertines Bekanntschat zu machen. Die Schlüpfer-Hierarchie, welche Frau ist welche Qualität wert? Oder muß man sogar neue kaufen? Bei
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Anfang vor, so wie die Schauspielerin, die eine Rolle kreiert hat, der ›Star‹, im Verlaufe einer langen Reihe von Auführungen nur in den ersten autritt.« In der Liebe weiß man nicht, was man in der Phantasie des anderen schon verbrochen hat. Aber irgendwie wird man dann trotzdem dafür verantwortlich gemacht. Und wer war die Frau auf dem Porträt, das vor Madame Elstir versteckt werden mußte? Keine andere als die junge Odette! Natürlich sieht sie auf dem Bild noch nicht so aus, wie sie sich später selbst stilisiert hat. Denn wie arbeiten Maler? »Die ganze künstlerische Harmonie, die eine Frau ihren Zügen gleichsam aufzwingt und deren Weiterbestehen sie im Spiegel überwacht, wobei sie der Neigung des Hutes, der Anordnung des Haars, der Munterkeit des Blicks die Aufgabe zuweist, immer wieder den gleichen Efekt zu erzielen, löst der Blick des Malers sekundenschnell in ihre Bestandteile auf; sein Auge nimmt an ihrer Stelle in den Besonderheiten des Modells eine Umgruppierung vor, so daß es eher einem weiblichen oder künstlerischen Ideal entspricht, das er in sich trägt.« Das gilt natürlich auch für geschriebene Porträts, und es ist riskant, die von einer Frau ihren Zügen aufgezwungene künstlerische Harmonie nach dem eigenen Ideal aufzulösen und umzugruppieren. Aber während die Frau sich am liebsten in einem Kleid photographieren läßt, in dem ihre Figur so vorteilhat zur Geltung kommt, daß sie wie »die Tochter ihrer Tochter aussieht«, wird der Maler »im Gegenteil alle nachteiligen Züge hervorheben, die sie selbst sorgfältig zu verstecken sucht, die aber, wie beispielsweise ein gelblicher oder sogar grünlicher Teint, ihn erst recht zur Wiedergabe reizen, weil sie ›charakterisieren‹«. Saint-Loup muß zurück in die Garnison und schreibt Marcel von dort einen Brief: »Am liebsten hätte ich die Erinnerung an die mit Ihnen verbrachte Zeit an diesem ersten Tage ganz für mich genossen, ohne Ihnen zu schreiben. Aber dann fürchtete ich, Ihr erlesener Geist und Ihr übersensibles Herz könnten befremdet sein, wenn Sie keinen Brief bekämen, wofern sie überhaupt geruhen, Ihre Gedanken bis zu dem rauhen Reitersmann schweifen zu lassen, der Ihnen noch manches aufgeben wird, bis er weniger ungehobelt, kultivierter und Ihrer würdiger ist.« Solche Briefe müßte man bekommen! Aber man kann sich seine Freunde nicht hobeln. Verlorene Praxis: – Seinen schönsten Spazierstock bei sich führen. – Aus jeder einen selbst oder andere betrefenden Begebenheit »zur Belehrung der jüngeren Menschen den Teil an Wahrheit herausstellen, den sie enthält«.
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50. Mi, 6.9., Berlin Manche vernichten nach einer Enttäuschung (wo doch jeder Auslug in die Wirklichkeit in gewissem Maß enttäuschend ist) alle Bilder und Briefe des Betrefenden. Kann man Erfahrungen als »Fehler« bezeichnen? Als könne man im Leben zwischen Richtig und Falsch unterscheiden, wo doch das eine immer ins andere übergeht. Ich glaube, ich habe noch Zettel, die mir vor zwanzig Jahren an die Tür gehängt wurden. Aber ich sehe mir mein Museum nur noch ungern an. Man muß die Konfrontation mit der Vergangenheit behutsam dosieren, man geht ja auch nicht am selben Tag in zwei Wagner-Opern. Es ist schon ein Schock, jemanden, mit dem man mal zusammen war, nach zehn Jahren wiederzutrefen. Vielleicht meidet man deshalb zunehmend die Menschen. Das anstrengende Nachjustieren der Selbstwahrnehmung. Schon das serielle Kunstwerk der Paßbildsammlung, die jeder von sich besitzt, enthält das ganze Grauen. Welcher Zusammenhang läßt sich zwischen den Jochen Schmidts herstellen, an die ich mich erinnere, wenn ich an mein Leben zurückdenke? »Der Mann, den sie ich nannten«, wollte ich meine Auobiographie immer nennen. Es gibt eine Szene in »Frasier«, wo dem Psychologen Frasier in einem Holzhäuschen in den Bergen alle Ex-Frauen erscheinen, inklusive der Mutter, und über ihn ein Strafgericht halten. So etwas kann mir täglich passieren, ich muß nur einmal versäumt haben, vor Beendigung einer Arbeit eine neue Arbeit zu beginnen. Denn wenn der Abgrund zwischen zwei Arbeiten, den manche als »Freizeit« bezeichnen, zu groß ist, geht das heater los. Mit zunehmendem Alter hat man ein Arsenal von dramatischen Szenen im Gedächtnis, verwirrenden Gefühlen, verpassten Gelegenheiten, schmerzhaten Erfahrungen, für die das Bewußtsein zu klein ist.
Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 529–549 Er möchte »die momentane Frische und Eleganz, die beim Verlassen des Hotels an mir festzustellen war (dank einer ausgedehnteren Ruhe und der besonderen, meiner Toilette gewidmeten Aufmerksamkeit)« eigentlich lieber »für die Eroberung einer anderen, interessanteren Person aufsparen«, statt Albertines Bekanntschat zu machen. Die Schlüpfer-Hierarchie, welche Frau ist welche Qualität wert? Oder muß man sogar neue kaufen? Bei
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