Leseprobe Andreas "Spider" Krenzke - Die letze WG von Prenzlauer Berg

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Meine Vorfahren

Neulich in der Kneipe beim Bier machte mich mein Kumpel darauf aufmerksam, dass das Universum erst ungefähr 13,75 Milliarden Jahre alt ist. Bekanntlich dehnt es sich aus. Das kann man im Alltag leicht nachprüfen. Zwar dehnen sich Lineale und Maßbänder mit dem Universum zusammen aus, aber man fühlt doch recht eindeutig, dass der Weg zur Arbeit einem jeden Morgen etwas weiter vorkommt und schwerer zu bewältigen. Oder jeden Abend der Heimweg von der Kneipe. Auch dass Fahrkarten, sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr sowie Flugtickets jedes Jahr teurer werden, ist ein eindeutiges Indiz dafür. Dehnt sich das Universum mit Lichtgeschwindigkeit aus, dürfte es also höchstens einen Radius von 13,75 Milliarden Lichtjahren haben. Wenn es sich langsamer ausdehnt, dann ist es natürlich kleiner. Wie groß das Universum tatsächlich ist, weiß angeblich wieder mal keiner so genau, aber es sind mindestens 78 Milliarden Lichtjahre im Radius. Mehr als fünfmal so viel, wie eigentlich sein dürfte. Als ich das hörte, musste ich gehörig schlucken, denn der Kellner brachte schon wieder ein neues Bier. Entweder war das Licht früher schneller oder die Zeit lief langsamer, sodass die Welt rechtzeitig ihre heutige Größe erreichen konnte. Wahrscheinlich sind es raumzeitliche Effekte, die sich erst ab einer gewissen Größenordnung beobachten lassen. Wahrscheinlich dieselben Effekte, wegen denen jetzt der Großflughafen Berlin-Brandenburg nicht fertig wird. Ich habe dann am nächsten Morgen beim Frühstück versucht, den Kindern diese Problematik zu erklären, damit sie auch in den Ferien was lernen. Klar, der Große ist erst in der zweite Klasse, da muss er das Ganze eigentlich noch nicht verstehen, aber der Kleine ist Autist, von dem erwarte ich natürlich schon eine gewisse 10


naturwissenschaftlich-mathematische Inselbegabung. Von mir aus nicht Universum und vierdimensionale Raumzeit und so, aber wenigstens die Lottozahlen sollte er irgendwann einmal voraussagen können, finde ich. Meine Frau wollte mir das Ganze mal wieder nicht glauben. »Du willst mir doch nicht weismachen, ihr redet in der Kneipe über das Universum!« Sie glaubt tatsächlich, wir reden über Fußball, Autos und Computer. Mir ist dann aufgefallen, dass wir die Eltern unserer Kinder sind. Und zwar hat jedes unserer Kinder eine Mama und einen Papa, also zwei Eltern, aber insgesamt sind es für alle Kinder zusammen auch bloß zwei. Gut, das ist trivial – aber jetzt kommt’s: Ich selber habe ja auch zwei Eltern. Eine Mama und einen Papa. Jeder Mensch hat die. Auch meine Eltern. Demzufolge habe ich vier Großeltern, zwei Opas und zwei Omas. Acht Urgroßeltern. 16 Ururgroßeltern. Mit jeder Generation verdoppelt sich die Anzahl meiner Ahnen. Ein exponentielles Wachstum meines Stammbaumes in die Vergangenheit hinein. Vor zehn Generationen hatte ich 1 024 Vorfahren. Nimmt man einen Generationenabstand von 30 Jahren an, was realistisch ist, denn der Generationenabstand schwankt seit Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen 25 und 35 Jahren, dann hatte ich diese 1 024 Vorfahren vor 350 Jahren. Vor 380 Jahren waren es doppelt so viele. Vor 410 Jahren viermal. Vor 33 Generationen, also vor 990 Jahren, hatte ich über sieben Milliarden Urahnen. So viele wie die gesamte heutige Weltbevölkerung. Mehr Menschen gibt es nicht. Noch mehr Ahnen kann kein Mensch haben. Sehen wir also den Konsequenzen dieser Berechnung ins Antlitz! Die gesamte Menschheit kann unmöglich älter als 1 000 Jahre sein! Das Christentum ist seiner Grundlage beraubt, denn vor über 2 000 Jahren, als Jesus Christus geboren worden sein soll, gab es noch keine Menschheit. Die gesamte Antike ist ein ausgemachter Humbug. Die ersten Menschen lebten ungefähr ab 1023, also im frühen Hochmittelalter. Meine Frau war natürlich sofort wieder skeptisch. Bloß weil diese wissenschaftliche Erkenntnis von mir kommt. Genau widerlegen kann sie meine glasklare Beweisführung zwar nicht, aber sie 11


vermutet, dass mehrere Menschen in früheren Generationen gemeinsame Vorfahren gehabt haben müssten. Dass sie also dieselben Urgroßeltern, Großeltern oder gar Eltern gehabt haben könnten. Diese Theorie ist sehr populär. Geschwisterehen werden besonders den Regionen Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt immer wieder nachgesagt. »Ich kann mir gut vorstellen«, sagte ich zu meiner Frau, »dass das bei deinen Vorfahren durchaus häufig der Fall war. Für meine eigene Ahnenreihe halte ich das allerdings für ausgeschlossen.« Eigentlich eine Frechheit, ich arbeite seriös wissenschaftlich und sie kommt mit unsachlichen Argumenten. Manchmal denke ich, das Einzige, was uns noch miteinander verbindet und unsere Beziehung zusammenhält, ist die Liebe. Man könnte jetzt einwenden, dass ja möglicherweise vor über 1 000 Jahren die Menschheit weitaus umfangreicher war als jetzt. Viel mehr als sieben Milliarden Menschen. Das ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn aufgrund der Expansion des Universums mit Überlichtgeschwindigkeit war damals für so viele Menschen gar nicht genug Platz. Im Grunde ist das alles egal. Vergangenheit ist Vergangenheit und außerdem schon lange vorbei. Aber wenn bei meinen Kindern demnächst in der Schule der Geschichtsunterricht beginnt, wenn die Lehrerinnen ihnen offensichtlich ausgedachte FantasySchnurren über Urmenschen, Zweistromländer und ein angebliches Altertum erzählen werden, dann kann ich ihnen die nötigen Grundlagen zum eigenen Denken schon mal mit auf den Weg geben. Dann können sie von niemandem mehr verarscht werden. Das bin ich ihnen als Vater schließlich schuldig.

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Mein Brot

Ich brauche nur meine Wohnung zu verlassen und über die Straße zu gehen, um an der nächsten Ecke in einem richtigen Bäckerladen einkaufen zu können. Es sind nur wenige Meter Luftlinie, aber es ist auch eine Zeitreise von mehreren Jahrzehnten. Bis hinaus auf die Straße steht eine Warteschlange. Doppelte, Mohn-, Kümmel- und Splitterbrötchen werden aus Plastekörbchen in die mitgebrachten Stoffbeutel der Kundschaft gekippt. Eine Registrierkasse mit Kurbel rasselt und klingelt. Die Frau mit der Schürze sagt Groschen und Sechser. Ich bin wieder drei Jahre alt. Hier gibt es keine Croissants, keine Laugenbrezeln oder Baguettes. Keine belegten Brötchenhälften und keinen Coffee to go. Montags ist geschlossen. Montags fragen mich manchmal auf der Straße junge Leute auf Hochdeutsch, wo dieser kultige Ostbäcker sei. Zugezogene Studenten wahrscheinlich. Ich kann ihnen helfen, aber wenn ich sage, montags ist zu, dann glauben sie mir das nicht. Darum bildet sich auch montags manchmal eine Schlange vor dem Laden. An den anderen Tagen sowieso. Früher dachte ich, die stehen da alle an, weil das Brot dort so gut ist. Mittlerweile weiß ich, dass die bloß warten, weil die Verkäuferinnen so langsam sind. Sie sind wahnsinnig alt. Behäbig schlurfen sie sich zwischen Ladentheke und Warenregal gegenseitig über die Füße. Geduldig wartet die Bevölkerung. Wie früher. Wie seinerzeit. Man bekommt unweigerlich Lust, sich mit dem Schrippenbeutel in der Hand auf dem Heimweg im Zeitungsladen ein ND zu kaufen. Aber der Zeitungsladen hat zugemacht. Dort gab es auch Zigaretten, Bier und Lotto. An einem Stehtisch davor standen ab morgens um 7 Uhr Männer und tranken Bier. Den ganzen Tag über taten sie das und schienen nie arbeiten zu müssen. Wahrscheinlich, 60


so reimte ich es mir zusammen, waren das Lottomillionäre, die aber ganz natürlich geblieben waren. Diesen erfreulichen Anblick entbehrt unsere Straße nun schon seit fünf Jahren. Auch der olle Gemüseladen hat dichtgemacht, er hieß »Früchte aus aller Welt« und dieser Name kann mit Blick auf DDR-Verhältnisse eigentlich nur satirisch gemeint gewesen sein. Auch andere Geschäfte stehen leer. Und der Friseur ist jetzt ein Nagelstudio. Dort gibt es nie eine Warteschlange. Die Produkte unseres Bäckers zählen offensichtlich zur kleinen und seltenen Familie der Ostschrippen. Lange galten diese als ausgestorben. Ein Irrtum, denn sehr wohl existieren diese lebenden Fossilien noch in abgeschirmten Populationen an der Nordküste von Prenzlauer Berg. Ausgerechnet hier haben sie sich in einer ökonomischen Nische behauptet, obwohl hier mittlerweile auch Bioläden und Backshops heimisch geworden sind. Dort findet man die entfernt mit den Ostschrippen verwandte Familie der Westschrippen. Beide gehören zur Ordnung der Brötchen in der Klasse der Brote im Stamm der Backwaren. Trotzdem trennen sie Welten voneinander. Früher trennte sie sogar eine Mauer. Eine Ostschrippe kostete damals 5 Pfennige. Der Wunsch nach einer Westschrippe konnte einen das Leben kosten oder einem ein paar Jahre Knast wegen Republikflucht einbringen. Ich möchte die DDR nicht verklären, aber als ich zum ersten Mal in eine Westschrippe biss, verstand ich, warum meine Altersgenossen in der BRD dazu übergegangen waren, zum Frühstück Müsli zu essen. Aus purer Verzweiflung. Dabei fand niemand aus dem Osten früher im Osten, als noch Osten war, die Ostschrippe gut, ihrer Westcousine überlegen oder auch nur im Geringsten bemerkenswert. Westbrötchen im Intershop hätten vielleicht eine größere Skepsis gegenüber der Wiedervereinigung bewirken können. Und man wusste ’89 wohl sehr genau, warum man den Ostlern an den geöffneten Grenzen erst mal mit Bananen entgegenkam. Mittlerweile tummelt sich eine fröhliche Menge an Neuzüchtungen im Brot- und Brötchenbereich. Bauernstubs, Fitnessblock und Kronprinz. Die Backwarendesigner denken sich ulkigere 61


Namen für ihre Kreationen aus als die heutigen Eltern kreative Namen für ihre Kinder. Knolli, Wuppi, Batzen, Hausfreund, Weltmeister, Fanblock, Joggingbrötchen, Abwehrriegel, Kraftmeier und Pasewalker Kruste. In Leipzig wurden vom Kollegen Udo Tiffert sogar Roggstar und Brotagonist gesichtet. In einem Brotregal in der Stargarder Straße liegen Sechskornbrot und Sexkornbrot beieinander. Beide voller Samen. Also voller Körner. Man will gar nicht wissen, was in der Fantasie des Bäckermeisters oder gar in seiner Backstube vor sich gegangen sein mag. Bei unserem guten alten Eckbäcker ist so etwas undenkbar. Das Personal ist, wie schon erwähnt, weit jenseits der Menopause. Hier heißen die Dinge noch wie früher. In meinem eigentlichen Lieblingsbäcker hatten die belegten oder beschmierten Schrippen Männer- und Frauennamen. Gern mit einem Tante oder Onkel davor. Man konnte dort sitzen und bei einer Tasse Kaffee Tante Jutta essen oder Onkel Horst. Es war aber nicht deswegen mein Lieblingsbäcker, sondern weil dort immer, ständig und zu jeder Tages- und Jahreszeit, Heavy Metal aus den Boxen dröhnte. Das ist im Stadtbezirk Prenzlauer Berg heute nämlich mittlerweile exotisch. Der Bäckermeister sah sogar auch so aus wie Kerry King, der eine Gitarrist von Slayer. Aber die haben mittlerweile auch zugemacht, wegen Mieterhöhung. Also nicht Slayer, sondern der Bäcker. Aber der war sowieso zu Fuß unendliche zehn Minuten entfernt. Zum guten Altberliner Bäckerladen muss ich bloß einmal über die Straße. Und das auch immer seltener. Meine Frau bäckt neuerdings selber. Das ist ihr neuestes Hobby. Selbstverwirklichung, aber auch Nebeneinkunft. Ich muss für meine Schrippen bei ihr zwar ein bisschen mehr bezahlen als im Laden, aber dafür gibt es keine Schlange. Nur zwei kleine Jungs mit ihrem Taschengeld. Die wohnen auch hier in unserer Wohnung. Aber ich drängele mich einfach vor. Bin nämlich stärker. Die beiden Gören nörgeln dann zwar, aber die könn mir nüscht. Wenn die wat von mir wollen, denn müssense schon ne Stulle mehr essen.

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