Leseprobe Michael Stauffer - Ansichten eines alten Kamels

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1 *Freiheit_Sonnenschein_001.odt* Frau Dr. Gertrude Mayor, die Leiterin des Altersheims Domicil Wasenstraße, trägt einen etwas zu knappen Arztkittel, darunter leichte Sommerkleidung und Stöckelschuhe und erinnert an Dr. Lisa Cuddy, die Chefin von Dr. House. Auch das Parfum, das Frau Dr. Mayor benutzt, ist zu verführerisch für eine Altersheimleiterin, ihre Blicke sind intim und rücken einem sofort auf den Leib. Dass ich zum Schreiben ins Altersheim komme, weiß Frau Dr. Mayor bereits von Sylvie vom WGC. Sie knufft mich während der Begrüßung immer wieder in die Seite und lässt mich wissen, dass mit Sylvie vereinbart worden sei, dass ich beim Schreiben nicht in die Pietätlosigkeit abdriften dürfe und dass ich für alle gut sichtbar im Korridor vor meiner Alterswohnung schreiben müsse. Dort stehen zwei MacBook Pro zur Verfügung. Das Domicil Wasenstraße sei ein Haus für das menschliche Miteinander und das fröhliche Beieinander. Dennoch sei Rücksicht wichtig und es herrsche ein Rauch- und Alkoholverbot, auf dem gesamten Gelände. Frau Dr. Mayor hofft, dass ich durch das öffentliche Schreiben ein paar andere Senioren anzustiften vermag, es mir gleichzutun. Man gibt sich die Hand und ich erhalte meine Schlüssel. Die Küche der Alterswohnung ist sehr zweckmäßig eingerichtet, die Spülmaschine und der Kühlschrank haben moderne Muster. Auf einer Kommode steht eine Vase mit frischen Blumen, es gibt acht Steckdosen, große Fensterscheiben und einen Balkon.

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Am Anfang sticht mir vor allem der Geruch von Putzmittel in die Nase. Der Boden der Alterswohnung ist beachtenswert: Sowohl vor der Küchenkombination als auch im Bad und dem kleinen Wohnzimmer gibt es jeweils in der Mitte des Raumes einen Ablauf, wie man ihn sonst nur in großen Sportduschen findet. Die Fußböden sind zur Mitte hin leicht schräg, sodass man mit Wasser, Seife, einer Fegbürste und einem Eimer Wasser loslegen und am Schluss alles in die Abläufe spülen kann. Der Boden ist angenehm warm und ich entscheide, barfuß oder in Socken in dieser Alterswohnung zu leben. Bald bemerke ich, dass es eigentlich nur zwei Kategorien von Altersheimbewohnern gibt: die alles mitmachen und die nichts mitmachen. Man kann sagen, es kommt ganz auf den Menschen an, ob er mit einer solchen Struktur klarkommt oder nicht. Bei Ausflügen zum Beispiel: Entweder man steigt in einen Kleinbus, dann wieder aus, und kommt so unter Leute, oder man steigt nicht ein und geht dann halt allein in die Natur. Man kommt entweder unter Leute und denkt nicht nur über sich selbst nach und sieht, dass andere auch Schicksale haben, oder man macht sich eben den ganzen Tag allein Gedanken über seine Schmerzen und beschäftigt sich nur noch damit und alles wird immer schlimmer. Die zwei MacBook Pro, die ich zum Schreiben benutzen soll, werden ab und zu auch von den Pflegerinnen Annabelle Horni, Isabelle Ruiz und dem Pfleger Louis Gutierrez gebraucht. Louis schaut darauf gerne Pornoseiten, auch wenn man direkt neben ihm sitzt, Annabelle Horni isst immer, wenn man sie am MacBook Pro sieht. Benutzt man direkt nach ihr die Tastatur, riecht man danach selber nach Zwiebel und Schweiß. Wenn Annabelle nicht isst, pflegt sie am MacBook Pro ihr Facebook-Profil. Isabelle ist die Einzige, die das MacBook Pro für berufliche Tätigkeiten nutzt. Sie erfasst Pflegeleistungen, bestellt Verbrauchsmaterial, und als ich mich neben sie setze, tippt sie gerade eine Notiz an Frau Dr. Mayor ein.

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Ein Bewohner mit Husten hat plötzlich Fieber bekommen und der im Altersheim stationierte Hausarzt wollte den Bewohner nicht im Zimmer besuchen, sondern hatte Isabelle per Telefon mitgeteilt, sie solle Paracetamol geben und abwarten, ob das Fieber sinke. »Das ist doch ein Witz, so ein Arzt«, sage ich. Isabelle nickt. »Genau deswegen dokumentiere ich das alles. Am Ende hat der Bewohner eine Lungenentzündung und ich habe dann Probleme mit den Verwandten.« Isabelle verlässt das MacBook Pro immer schön aufgeräumt, und ich habe gesehen, dass sie mit einem Erfrischungstuch über die Tastatur fährt, bevor sie geht. Sie hat mir schon am ersten Tag gesagt, ich sei viel zu jung für eine Alterswohnung, viel zu hager und aktiv. Und ein großer Unterschied sei auch, dass ich noch nicht stinke. Viele der Alten wollten ab einem bestimmten Moment nur noch vor sich hin stinken und der Welt ihr Vorhandensein nur noch durch dieses deutliche, absolut gewaltige Stinken zeigen. Zwei Dicke laden mich in ihr großes Altersapartment ein, weil ich neu hier bin und sie mich noch nie gesehen haben. Ich kann mich kaum setzen, da geht auch schon ein richtiges Bewirtungsballett los. Sie sind ganz aus dem Häuschen, während sie mich bedienen und sich steif durch ihre vier Wände bewegen wie große Holzpfähle. Die erste Datei speichere ich auf dem Schreibtisch des MacBook Pro unter: *Freiheit_Sonnenschein_001.odt*.

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11 *Freiheit_Sonnenschein_011.odt* Der Nebel liegt tagelang über der Stadt und es riecht nach Zuckerrüben und Schnee. Auf dem Flur werde ich regelmäßig von unbekannten Bewohnern gefragt, wie es meinem Vater Paul gehe. Oder es wird gesagt, dass es wirklich toll sei, dass ein Kind einen Elternteil mal länger besuche. Michelle ist erneut mit der Ernährungsberaterin zusammengestoßen und fühlt sich wie in einem Trichter, aus dem sie selber nicht mehr rauskommt. Ich mag Michelles resolute Art und rate ihr, mit Frau Dr. Mayor zu reden. Das ist überhaupt nicht, was Michelle hören will. »Du sitzt hier herum, obwohl du nicht müsstest, und du bist immer gut gelaunt! Du kannst doch nicht einfach zuschauen, wie wir hier behandelt werden wie dumme Schafe, mit Flöten- und Luftballonspiel! Schau mal hier!« Michelle hält mir die Kursausschreibung von Louis hin. Guten Tag, ich heiße Louis Gutierrez und Sie kennen mich alle. Lachen ist die beste Medizin. Auch dann oder gerade dann, wenn man gegen das Vergessen kämpft. In meinem Sketch­Kurs müssen Sie nicht viel machen. Sie dürfen in meinem Kurs so sein, wie Sie sind: alt, langsam, schwerhörig, vergesslich. Lustig geht es dabei trotzdem zu. In einem Sketch kann ein desorientierter Menschen mit Demenz genauso gut mitspielen, wie einer, der noch alle Fähigkeiten hat. Ich arbeite auch mit Seifenblasen, Klangschalen und Tanz für die Bewohner mit Spracheinschränkungen. Kommen Sie doch in meinen Sketch­Kurs.

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»Das ist doch schlimm, da muss doch jemand eingreifen«, gewittert Michelle weiter und lässt mich erst in Ruhe, als sie mir das Versprechen abgerungen hat, dass ich mich darum kümmern werde, wie auch immer. Sie überlässt mir den Zettel mit dem Kursprogramm und verschwindet mit dem Hinweis, sie werde dem Louis gleich mal eine erste Kostprobe ihres persönlichen Sketch-Programmes geben. Ich ziehe mich in meine Wohnung zurück und will mich etwas hinlegen, als im Korridor ein unglaublicher Lärm ausbricht. Genauer gesagt kommt der Lärm aus Michelles Zimmer. Als ich ihre Zimmertüre öffne, schaut sie Die Simpsons. Dazu hat Michelle die Decke und das Kopfkissen zusammengewurstet und sitzt obendrauf wie eine große Gans auf ihrem Nest. Sie fuchtelt mit den Armen und schreit: »Diese gelben Menschen wollen mich fressen! Sagt denen, dass das nicht geht! Mich kann man nicht fressen! An mir verhungern die, ich bin ungesund!« Bald füllt sich der Türrahmen mit Zuschauern. Paul taucht auf, auch Louis und Isabelle stellen sich dazu. Als Michelle weiterspricht, merke ich, wie ich fast synchron dazu die Lippen bewege. Michelle klatscht in die Hände: »Das sind die Folgen der Unterernährung. Dieser Diabetikerfraß verursacht bei mir Halluzinationen.« Dann ändert sie den Tonfall, fixiert mich und spricht mich direkt an: »Henri, du musst uns helfen, eine Partisanengruppe zu gründen, um solche Sachen wie Diabetikerfraß und Frühstücksfolter durch Chorsingen zu verhindern. Dieses Singen ist eine Plage. Sie nötigen immer alle. Das ist wie in der Kirche!« Ich fühle mich unwohl und will mich davonschleichen, da legt Michelle nochmal richtig los: »Diese Käse-Kopf-Männchen wollen mich vergewaltigen, die ganze Familienbande von denen, sogar die Frau mit der blauen Haarmasche auf dem gelben Kopf! Sie müssen mir helfen!« Jetzt mischt sich Louis ein. »Sie dachten, wenn Sie mit denen reden, dann sei das unverbindlich?«

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Michelle streckt ihm die Zunge raus und beginnt das Kopfkissen aus dem Haufen herauszuziehen, auf dem sie sitzt. »Und jetzt merken Sie, dass die sich alle Hoffnungen gemacht haben, mit Ihnen im Bett zu landen!« »Ja. Pass nur auf, sonst packen die dich auch noch ins Bett, nackt und ohne Decke und Matratze. Hast du schon mal eine nackte Frau gesehen?« Jetzt ist Louis kurz irritiert und zögert. »Ich spare mir das lieber für die Ehe auf«, sagt er schließlich. Michelle muss kurz lachen, dann schreit sie wieder und wirft das Kopfkissen Richtung Louis. »Unverschämtheit! Raus, alle raus«, schreit sie und wir ziehen ab. Paul packt mich am Ärmel schaut mich schräg von der Seite an, dann sagt er halb im Witz: »Mein lieber Neffe, wir wollen heute anfangen, an unserem Manifest zu schreiben. Wir treffen uns später, kommst du auch?« Ich denke, dass diese Bande, halb aus der Zwischenwelt, eigentlich recht hat, und willige ein, später in den Schuppen zu kommen. Die Alten sitzen schon Marihuana rauchend im Kreis und diskutieren, ob es eine Idee wäre, grüne Flaggen aus allen Zimmern zu hängen, in denen ein Seniorpartisan wohnt. Sie nicken mir eine knappe Begrüßung zu und ich notiere, was ich höre. – Wir wollen essen, was wir wollen, auch wenn das für uns angeblich nicht gesund ist. Gesund ist, was wir gesund finden. Trauriges Essen ist nicht schön. – Wir verabscheuen ernährungswissenschaftlich korrekten Brei. Wir wollen, dass aufwendig gekocht wird. – Wir wollen, dass man akzeptiert, dass wir gute Sonntagskleidung tragen wollen. Und wir wollen jeden Tag gekämmt werden. Und wenn jemand will, kann er auch den ganzen Tag im Bademantel rumlaufen oder im Trainingsanzug. Wir wollen nicht jedes Mal darüber sprechen müssen, warum etwas von der Norm abweicht.

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