Volker Strübing - Ein Ziegelstein für Dörte

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Café Prägnant

Verdammt, wie hieß dieses Café noch mal, in dem Marianne auf ihn wartete? Er wusste nur noch, dass er sich sicher gewesen war, den Namen nicht aufschreiben zu müssen, weil er so einprägsam war. Halt! War das nicht der Name? Café Einprägsam? »20.00 Uhr im Café Einprägsam«, war es das, was sie gesagt hatte? Nein, nein, Café Einprägsam war es nicht gewesen. Café Markant? Nein. Aber irgendwie so ähnlich hatte es geklungen. Egal, er wusste immerhin noch die Straße und würde sich daran erinnern, wenn er den Namen über der Tür las – na bitte! Dort drüben, das musste es sein: Café Prägnant. Genau. Um acht im Prägnant hatte sie gesagt. Mal sehen, was für ein blöder Laden das war. Von außen sah es jedenfalls nach einem Pupnasencafé aus. Die Fassade war rosa, Fensterrahmen und Tür waren hellblau gestrichen und an der Tür hing ein großes Nichtraucher-Schild. Ach du heiliger Bimbam, murmelte er – ein Fluch den er sich für Situationen aufsparte, in denen es wirklich Grund zu fluchen gab. Situationen, in denen all die auf »Fuck« und »Scheiße« beruhenden Mainstreamschimpfwörter viel zu harmlos waren. Er selbst hatte nie geraucht, doch Nichtraucher-Cafés ließen ihn unwillkürlich an Brettspiele spielende, Pfefferminztee trinkende Ödbratzen in Strickpullovern denken, die das Herstellen von Batikkleidung und Patchworkdecken für kreative Selbstverwirklichung hielten und denen jede menschliche Wahrnehmungsfähigkeit abhanden gekommen sein musste, andernfalls sie weder den Terror ihrer Brut noch ihre eigene Langweiligkeit ertragen hätten. Klar waren das blöde Vorurteile. Er selbst hätte nie etwas anderes behauptet. Er liebte und pflegte seine Vorurteile. Bei der letzten Zählung war er auf 41 gekommen. Er fragte sich, was Marianne hier wollte. Hatte sie mit Rauchen aufge-

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hört und wollte nicht in Versuchung geführt werden? Das Café war gut gefüllt, die Gäste waren vor allem junge Frauen. Aus den Boxen drangen sanfte Streicherklänge. Auch das noch, dachte er. Er entdeckte Marianne an einem Tisch in der Ecke und steuerte auf sie zu, wobei er sich bemühte, die schlechte Laune herunterzuschlucken. »Hallo Marianne.« »Hallo Thomas.« »Bin ein bisschen spät, musste ein bisschen rumrennen, konnte mich nicht an den Namen des Cafés erinnern.« Er blickte sich um. Von innen sah es aus wie eine Million andere Cafés in dieser Gegend. »Hm, besonders prägnant finde ich den Laden ehrlich gesagt nicht.« »Oh, es geht nicht um den Laden, sondern um das Publikum. Der Name spielt auf das englische pregnant an. Das ist ein Laden für Schwangere.« Thomas verzog das Gesicht. »Na toll und was sollen wir hier …«, dann begriff er die Implikation. Er sagte leise: »Ach du heiliger Bimbam …« und kippte auf den Stuhl ihr gegenüber. Eine Kellnerin trat an den Tisch und stellte einen Teller mit einer ulkigen Wurst ab. »Du bist schwanger?« Marianne zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich.« »Ich nehme an, Sie möchten etwas trinken?«, wandte sich die Kellnerin grinsend an Thomas. »Äh ja.« »Wie wär’s mit einem ›Schreck lass nach‹ – ein Cocktail, den wir extra für Anlässe wie diesen erfunden haben. Enthält acht Zentiliter Stroh Rum. Oder das Angebot der Woche: Kräuterlikör mit extrabitterem Espresso. Wir nennen ihn ›Preis der Lust‹.« »Äh, nein, einfach …« »Wir hätten da auch noch ›Mom&Dad‹: Rohes Ei mit einem Schuss Küstennebel.« »Das ist ja widerlich!« Marianne legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ach Thomas, nun hab dich doch nicht so. Ist doch lustig!« »Lustig? Oh Mann, bringen Sie einfach zwei doppelte Wodka.« »Tut mir leid, wir schenken Alkohol ausschließlich an werdende Väter aus, ich darf ihrer Freundin keinen Schnaps bringen.« »Die sind beide für mich.«

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Berlin–Amsterdam. Ein Roadmovie

Ich war mal wieder verliebt. Wir sahen uns fast jeden Tag auf Arbeit, hinterher bei Konzerten, in Kinos und Bars und Parks, es gab tausend Möglichkeiten, ihr meine Liebe endlich zu gestehen, aber ich suchte nach der perfekten Situation. Nach vielen Wochen ergab sie sich endlich. Sandra wollte mit einer Freundin für ein verlängertes Wochenende nach Amsterdam fahren. Am Tag ihrer Abreise saß ich den ganzen Abend zuhause, trank traurig ein Bier nach dem anderen und dann, gegen 22 Uhr und einigermaßen angetütert, fasste ich einen Entschluss: Ich würde auch nach Amsterdam fahren. Sofort. Ich würde trampen. In Amsterdam würde ich sie schon finden, da war ich sicher, und meine abenteuerliche Reise würde sich als Liebesbeweis nicht hinter den größten Heldentaten liebeskranker Trottel aller Zeitalter verstecken müssen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, da mein bester Freund an diesem Wochenende seinen Geburtstag feiern wollte und ich versprochen hatte, bei den Vorbereitungen zu helfen. Aber Liebe ging vor. Ich schaute in meinem großen Europa-Atlas nach, wo Amsterdam eigentlich lag – aha, genau links von Berlin, ich hätte eher so schräg links oben geschätzt – packte ein paar Sachen zusammen und machte mich auf den Weg. Ich war nie zuvor getrampt. Es war abzusehen, dass ich nach einer Viertelstunde vergeblichen Wartens aufgeben und wieder zurückfahren würde. Da ich mich so gut kannte, griff ich zu einer List. Ich nahm den letzten Zug vom Ostbahnhof nach Magdeburg, das, wie ich im Atlas gesehen hatte, genau auf der Linie Berlin–Amsterdam lag. Einmal dort angekommen, konnte ich nicht mehr umkehren. Gegen ein Uhr nachts stand ich schließlich an einer dunklen Autobahnauffahrt in der Nähe des Magdeburger Bahnhofes. Eine halbe Ewigkeit passierte nichts, außer dass es zu regnen begann. Endlich, nach einer dreiviertel Stunde, hielt ein Auto.

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»Ich fahr aber nur nach Kleindingsbumsdorf« – ich weiß nicht mehr wie das Nest genau hieß – »Bis dahin kannste mitkomm’!«, sagte ein vielleicht 18jähriger Typ mit Bomberjacke und Basecap. Ich stieg ein. Mein Fahrer kam, wie sich herausstellte, aus einer Magdeburger Technodisco. Keine Ahnung was er alles geworfen hatte – auf alle Fälle war er völlig paranoid. »Okay … wir müssen bloß aufpassen wegen den Zivilbullen … Scheiße Alter, wenn die mich erwischen … ach du Kacke, haste den gesehen? ’n roter BMW mit ’ner blonden Fahrerin, das stinkt doch förmlich nach Zivilbullen! Hier nimm das!« Er drückte mir ein Tütchen mit Pillen in die Hand. »Wenn die uns anhält, dann schmeißte das aus’m Fenster … scheißescheißescheiße … oder nee, gib her, wenn die uns anhält, dann schluck’ ich die, Alter, wär’ schade drum und außerdem … wer weiß, ob ich dir vertrauen kann! Biste vielleicht selber Zivilbulle, komm Alter, versuch nicht, mich zu verarschen, ich seh’s dir doch an, du Arsch! Und ich Idiot hol mir auch noch selber die Bullen in die Karre – uh! Hinter uns! ’n blauer Golf. Blaue Gölfe sind alle vom BKA, echt jetze, kein Scheiß Alter, hat mir’n Kumpel erzählt!« Wer wie er auf der Flucht vor den Behörden war, hatte keine Verwendung für ein Bremspedal. Ich rutschte immer tiefer in meinem Sitz zusammen. Mehrmals bat ich ihn, anzuhalten und mich aussteigen zu lassen, aber er hatte wieder Vertrauen zu mir gefasst und beschlossen, mich noch ein Stück weiter zu fahren, bis zur Raststätte Helmstedt. Außerdem, wenn er jetzt anhielte, hätten sie ihn am Arsch und das würde mir wohl so passen, was? Ich stecke wohl mit den Bullen unter einer Decke, Alter, verarsch mich nicht, ich sach dir, verarsch mich nicht, Alter … Nach einer dreiviertel Stunde Todesangst ließ er mich endlich gehen. Danach beruhigte sich meine Reise etwas. Ich war erstaunt, wie schnell man mitgenommen wurde, wenn man erst einmal auf der Autobahn war. Wahrscheinlich wären es jetzt zwischen sechs und zwölf Stunden bis Amsterdam gewesen, doch leider war ein Teilstück der A2 gesperrt und jeder Fahrer hatte eine andere Auffassung davon, wie ich weiterzufahren hatte. Ich umrundete Hannover dreimal komplett, was mich alleine fast zwölf Stunden kostete. Seither hasse ich diese Stadt, die ich nie von innen gesehen habe. Über Belgien erreichte ich schließlich die Niederlande, ein Riesenumweg. Ich brauchte über vierzig Stunden nach Amsterdam. Als ich ankam, hatte ich knapp sechzig Stunden nicht geschlafen. Die letzten Stunden der

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Vorwärts zum 55. Jahrestag der DDR!

Als ich eines Tages von einer zweiwöchigen Reise mit meinem Sohn allein nach Hause kam, fand ich einen von meinem Mitbewohner Spider geschriebenen Zettel an unserer gemeinsamen Duschkabine vor, auf dem in großen roten Buchstaben »Auf keinen Fall benutzen« stand. Das Ganze war dreimal unterstrichen und mit fünf Ausrufezeichen versehen. In die Ecken hatte er Totenköpfe gemalt. Ich riss den Zettel ab und schmiss ihn in den Mülleimer. Ich stank wie bei Hempels unter den Achseln − niemand würde mich am Duschen hindern. In der irrigen Annahme, Spider habe den Zettel geschrieben, weil er sich selbst der Körperreinigung hinzugeben gedachte, nahm ich mir vor, nicht länger als fünf Minuten unter der Dusche zu bleiben. So bliebe noch genügend heißes Wasser für ihn im Boiler. Ich zog mich also ordnungsgemäß nackig aus, stieg in die Kabine und schloss die Falttür hinter mir. Dann drehte ich gleichzeitig die Hähne für heißes und kaltes Wasser auf und fand mich im nächsten Augenblick mit einem braunen Trainingsanzug bekleidet an einem Esstisch sitzend wieder, eine Tasse Muckefuck in der Hand, eine filterlose Zigarette im Mund und vor mir ein Neues Deutschland mit der Schlagzeile: »Mit guten Leistungen vorwärts zum 55. Jahrestag der DDR – Alle Kraft der Stärkung des Sozialismus!« *** Man wird verstehen, dass ich ziemlich überrascht war. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt schließlich nicht wissen, dass Spider unsere Dusche in einen Quanten-Dilatations-Coactor umgebaut hatte. Ein Quanten-Dilatations-Coactor ist ein Gerät, mit dessen Hilfe man

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sich innerhalb der omni-circumplectoren Realitätssphäre zwischen den singulären Affektebenen beliebig bewegen kann. Einfacher ausgedrückt: Er erlaubt es, in Paralleluniversen zu reisen und Realitäten kennenzulernen, in denen beispielsweise Hitler den Krieg gewonnen, der Neandertaler den Homo sapiens besiegt oder Gott sich mit der Schöpfung ein bisschen Mühe gegeben hat, statt sie in sechs Tagen zusammenzuschludern. Das Ding war ziemlich einfach zu bedienen: Mit dem Heißwasserhahn löste man den Sprung in eine andere Wirklichkeit aus, mit dem Kaltwasserhahn stellte man die Stärke des Sprungs ein – wie weit sich also die Zielwirklichkeit von der unseren unterscheiden sollte. Von alldem wusste ich natürlich nichts, als ich mit einem Hustenanfall die Zigarette ausspuckte, dabei großzügig heißen Malzkaffee über die Zeitung und meine Handfläche verteilte, daraufhin mit einem Schmerzensschrei die Tasse fallen ließ und aufsprang, um wie ein Derwisch durch das Zimmer zu hüpfen, wobei mir der restliche Malzkaffee auf die Oberschenkel spritzte. »Fuck!«, rief ich. »Das heißt: Scheiß Osten«, sagte eine graugesichtige Frau mit Dauerwelle, die mir gegenüber am Tisch gesessen hatte und mir vage bekannt vorkam. Sie betrachtete mich kopfschüttelnd. Wahrscheinlich hat selten jemand so blöd geguckt wie ich in diesem Moment. Dann erkannte ich, wo ich mich befand: Es war das Wohnzimmer einer Dreiraumwohnung eines Plattenbaus vom Typ WBS 70. Ich hatte meine Kindheit und Jugend in so einer Wohnung zugebracht und mir nach meinem Auszug geschworen, nie wieder in eine Platte zurückzuziehen. An den Wänden klebte eine schauderhafte Blümchentapete, blasenschlagend, das Muster verblasst. Der graubraune Fußbodenbelag korrespondierte auf das Entzückendste mit einem blassorangen Stoffsofa und einer Sperrholzschrankwand. Die Frau drückte meine Zigarette in den Aschenbecher und wischte mit dem Neuen Deutschland den Tisch auf. »Verträgste keine Karo mehr?«, fragte sie. »Nun steh da nich rum wie ’ne Honeckerstatue! Zieh dir ’ne andere Hose an.« In diesem Moment fiel mir ein, woher ich die Frau kannte: Es war Ramona Köhler, wir waren zusammen zur Schule und mit dreizehn sogar einen Monat miteinander gegangen. Meine erste Liebe … Endlich zahlte sich mein exzessiver Konsum utopischer und phantasti-

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