[AHNE]
H
FAHRRADVERWEIGERUNG IST KLASSENKAMPF
abe meinem Sohn ein Fahrrad gekauft. So’n silbernes, mit Lenker so’n bisschen gebogen. Was er natürlich gar nicht toll fand, weil er ja ein Mountainbike haben wollte, und für ein Mountainbike gehört es sich nun mal, dass der Lenker da so gerade ist. Kerzengerade. War mir aber egal, da bin ich hartherzig, war billig. Sind wir dann da mit dem Ding zurückgelaufen nach Hause. Ich fahr ja kein Fahrrad, ich find dis viel zu gefährlich, was da alles passieren kann, ich bin ja schon mal Fahrrad gefahren, und da bin ich dann so mitten auf der Straße, dann so umgekippt. Weil ich wollt da nämlich umbiegen, in so eine andere Straße hinein, und aber auf der Straße, wo ich da noch vorher war, ich war ja noch nicht umgebogen vorher, da waren ja so Straßenbahnschienen, da fuhr ja manchmal eine Straßenbahn lang, und da hatte ich natürlich so ’ne Angst in die Straßenbahnschienen hineinzukommen mit meinen dünnen Reifchen, dass ich dann nicht wegen den Straßenbahnschienen, sondern einfach so, einfach umgekippt bin, mitten auf der Straße. Hatte ich vor Schreck vergessen, in die Pedale zu treten und war also bei Geschwindigkeit null angelangt und aber hatte mich gleichzeitig, wie man das von Motorradweltmeisterschaften so her kennt, höllisch in die Kurve gelegt. Sollte ja elegant aussehen, hat es ja vielleicht auch, weiß ich nicht, ich kann mich ja selber schlecht beobachten, bin ja kein Gott oder Leguan, obwohl ich nicht genau weiß, ob Leguane sich selber beobachten können, ich weiß bloß, dass irgendein Tier seine Augen so ziemlich gut so ausfahren und rumrollen kann, dis is dis beste Tier im Guckenkönnen, weiß ich jetzt nicht welches Tier, aber jedenfalls nicht ich. Der Autofahrer hinter mir fuhr zum Glück langsam, der hat wahrscheinlich schon vorher sich gedacht, dass ich bestimmt gleich umfalle, bei dem Fahrstil. Vielleicht konnte der auch gar nicht mehr schnell fahren, vor Lachen. Der stand dann jedenfalls direkt hinter mir und dis war dann ja auch so ein Polizeiauto. Polizei-SA-SS, hab ich in dem Moment nicht gesagt, jedenfalls nich laut. Dis hab ich mir für später, für einen geeigneteren Augenblick aufgehoben, für einen gesellschaftlich relevanteren Augenblick. Ich hatte ohnehin genug mit mir selber zu tun. Die 14
[AHNE]
FAHRRADVERWEIGERUNG IST KLASSENKAMPF
Scheiß-Hose war in der Scheiß-Kette eingeklemmt und der ScheißLenker, der war sehr gebogen, also mehr noch gebogen als der Lenker von dem Silberpfeil von meinem Sohn, der war so extrem gebogen, der stand so parallel zu den Rädern von dem Fahrrad, was ich mir im Übrigen auch nur ausgeborgt hatte von so ’nem Schläger aus unsre Straße. Mit dem war für gewöhnlich nicht gut Kirschen essen und der Polizist, der kam dann auch so zu mir und hat voll verlogen so freundlich getan. Der hat mir gar nicht sein Knie in die Rippen gebohrt und mich auch gar nicht in den Schwitzkasten genommen. Der hat mich noch nich mal nach Drogen durchsucht. Der war voll verlogen nett. Ein ganz gerissener Diener des Schweinesystems. Der hat echt gefragt, ob er mir helfen könne. Und ich konnt’ gar nich nein sagen. Und dann hat der mich so, mit dem Fahrrad an meiner Hose, so rübergeführt, auf den Bürgersteig, wo der dann da so die Hose aus der Kette rausgemacht hat, und dann hat der sogar noch, voll der Gipfel an Verlogenheit, mir den Lenker gerade gebogen. Dis hat der einfach so gemacht, ohne dass ich den daran hindern konnte. Dis war mir dermaßen peinlich, Mann, wenn dis jetzt jemand sehen würde, hab ich mir gedacht, jemand der mich kennt, ein Mitkämpfer gegen das verlogene Schweinesystem, der würde doch glatt denken, dass ich jetzt da auch bei denen mitmache, bei dem Bullenstaat. Dis war mir so dermaßen peinlich, ich hab direkt ..., ich konnt dem Uniformierten noch nich mal ins Gesicht spucken, noch nich mal hinterher, als ich dis Fahrrad längst wieder heil inner Hand hielt und er mir noch eine schöne Weiterfahrt wünschte. So peinlich war mir dis. Ich hab dann sogar »Danke« gesagt. Oh Mann ey, wie ein Jungpionier der noch nie Westfernsehen geguckt hat. Bin ich dann da vor lauter Scham gleich in die Kneipe, vor der wir standen und hab dem Bullen ein Bier ausgegeben, was der aber nicht angenommen hat, Vollidiot der, hab ich also dann dem seins noch mit ausgetrunken, und dis Bier war da ja auch sehr billig, so dass es dann letztendlich dazu kam, dass ich sogar noch diverse komische Zettel unterschrieben hab, war aber, glaube ich, nichts wirklich Wichtiges, wir haben ja beide so viel gelacht, der Bulle und ich, dis konnte einfach nichts wirklich 15
[AHNE]
H
FAHRRADVERWEIGERUNG IST KLASSENKAMPF
abe meinem Sohn ein Fahrrad gekauft. So’n silbernes, mit Lenker so’n bisschen gebogen. Was er natürlich gar nicht toll fand, weil er ja ein Mountainbike haben wollte, und für ein Mountainbike gehört es sich nun mal, dass der Lenker da so gerade ist. Kerzengerade. War mir aber egal, da bin ich hartherzig, war billig. Sind wir dann da mit dem Ding zurückgelaufen nach Hause. Ich fahr ja kein Fahrrad, ich find dis viel zu gefährlich, was da alles passieren kann, ich bin ja schon mal Fahrrad gefahren, und da bin ich dann so mitten auf der Straße, dann so umgekippt. Weil ich wollt da nämlich umbiegen, in so eine andere Straße hinein, und aber auf der Straße, wo ich da noch vorher war, ich war ja noch nicht umgebogen vorher, da waren ja so Straßenbahnschienen, da fuhr ja manchmal eine Straßenbahn lang, und da hatte ich natürlich so ’ne Angst in die Straßenbahnschienen hineinzukommen mit meinen dünnen Reifchen, dass ich dann nicht wegen den Straßenbahnschienen, sondern einfach so, einfach umgekippt bin, mitten auf der Straße. Hatte ich vor Schreck vergessen, in die Pedale zu treten und war also bei Geschwindigkeit null angelangt und aber hatte mich gleichzeitig, wie man das von Motorradweltmeisterschaften so her kennt, höllisch in die Kurve gelegt. Sollte ja elegant aussehen, hat es ja vielleicht auch, weiß ich nicht, ich kann mich ja selber schlecht beobachten, bin ja kein Gott oder Leguan, obwohl ich nicht genau weiß, ob Leguane sich selber beobachten können, ich weiß bloß, dass irgendein Tier seine Augen so ziemlich gut so ausfahren und rumrollen kann, dis is dis beste Tier im Guckenkönnen, weiß ich jetzt nicht welches Tier, aber jedenfalls nicht ich. Der Autofahrer hinter mir fuhr zum Glück langsam, der hat wahrscheinlich schon vorher sich gedacht, dass ich bestimmt gleich umfalle, bei dem Fahrstil. Vielleicht konnte der auch gar nicht mehr schnell fahren, vor Lachen. Der stand dann jedenfalls direkt hinter mir und dis war dann ja auch so ein Polizeiauto. Polizei-SA-SS, hab ich in dem Moment nicht gesagt, jedenfalls nich laut. Dis hab ich mir für später, für einen geeigneteren Augenblick aufgehoben, für einen gesellschaftlich relevanteren Augenblick. Ich hatte ohnehin genug mit mir selber zu tun. Die 14
[AHNE]
FAHRRADVERWEIGERUNG IST KLASSENKAMPF
Scheiß-Hose war in der Scheiß-Kette eingeklemmt und der ScheißLenker, der war sehr gebogen, also mehr noch gebogen als der Lenker von dem Silberpfeil von meinem Sohn, der war so extrem gebogen, der stand so parallel zu den Rädern von dem Fahrrad, was ich mir im Übrigen auch nur ausgeborgt hatte von so ’nem Schläger aus unsre Straße. Mit dem war für gewöhnlich nicht gut Kirschen essen und der Polizist, der kam dann auch so zu mir und hat voll verlogen so freundlich getan. Der hat mir gar nicht sein Knie in die Rippen gebohrt und mich auch gar nicht in den Schwitzkasten genommen. Der hat mich noch nich mal nach Drogen durchsucht. Der war voll verlogen nett. Ein ganz gerissener Diener des Schweinesystems. Der hat echt gefragt, ob er mir helfen könne. Und ich konnt’ gar nich nein sagen. Und dann hat der mich so, mit dem Fahrrad an meiner Hose, so rübergeführt, auf den Bürgersteig, wo der dann da so die Hose aus der Kette rausgemacht hat, und dann hat der sogar noch, voll der Gipfel an Verlogenheit, mir den Lenker gerade gebogen. Dis hat der einfach so gemacht, ohne dass ich den daran hindern konnte. Dis war mir dermaßen peinlich, Mann, wenn dis jetzt jemand sehen würde, hab ich mir gedacht, jemand der mich kennt, ein Mitkämpfer gegen das verlogene Schweinesystem, der würde doch glatt denken, dass ich jetzt da auch bei denen mitmache, bei dem Bullenstaat. Dis war mir so dermaßen peinlich, ich hab direkt ..., ich konnt dem Uniformierten noch nich mal ins Gesicht spucken, noch nich mal hinterher, als ich dis Fahrrad längst wieder heil inner Hand hielt und er mir noch eine schöne Weiterfahrt wünschte. So peinlich war mir dis. Ich hab dann sogar »Danke« gesagt. Oh Mann ey, wie ein Jungpionier der noch nie Westfernsehen geguckt hat. Bin ich dann da vor lauter Scham gleich in die Kneipe, vor der wir standen und hab dem Bullen ein Bier ausgegeben, was der aber nicht angenommen hat, Vollidiot der, hab ich also dann dem seins noch mit ausgetrunken, und dis Bier war da ja auch sehr billig, so dass es dann letztendlich dazu kam, dass ich sogar noch diverse komische Zettel unterschrieben hab, war aber, glaube ich, nichts wirklich Wichtiges, wir haben ja beide so viel gelacht, der Bulle und ich, dis konnte einfach nichts wirklich 15
[MICHAEL STEIN]
ALS ICH EIN GENIE WURDE
W
oran merkt man eigentlich, dass man ein Genie ist? Die andern sagen’s einem ja nicht. Ich glaube, das ist das Schicksal von Genies, dass die andern es einem nicht sagen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die andern es gar nicht merken, was man eigentlich für ein Genie ist. Bei mir war das so:
Eines Tages sitze ich allein zu Hause. Ich dichte. (So vor mich hin.) Was soll man auch machen allein zu Hause. Ich kriege schon länger keinen Besuch mehr. Früher war ich oft mit Freunden unterwegs. Aber das hat sich gelegt. Man unterhält sich nicht besonders gern mit mir, weil ich so intelligent bin. Ich weiß, das merkt man nicht auf den ersten Blick, aber wenn ich den Mund aufmache, dauert es keine zehn Minuten und der andere setzt sich weg. Das mache ich oft, fremde Menschen im Café anquatschen, in ein qualifiziertes Gespräch verwickeln, das sie aus ihrem inferioren Gedankenbrei herausreißt. Aber der Mensch will das nicht. Lieber Smalltalk und Gemeinplätze, ist ja auch viel bequemer so. Viele hören mir erst gar nicht zu. Würd’ ich auch machen, wenn mir was zu hoch ist. Sie tun dann so, als wäre ich gar nicht da. Aber ich weiß genau, dass ich da bin und da rede ich dann erst recht. Mit mir kann man so was nicht machen. Neulich hat einer einfach weiter Zeitung gelesen. Dabei habe ich direkt neben ihm gesessen. Ich habe ihm gesagt, dass der SPIEGEL ja nicht gerade ein besonders intelligentes Blatt ist. Er hat überhaupt nicht reagiert. Da habe ich einfach etwas lauter geredet. »BILD am Montag!« habe ich gesagt und ein überlegenes Lächeln zur Schau getragen. Keine Reaktion. »Haben Sie den Witz verstanden? Sie haben den Witz wahrscheinlich nicht verstanden, mein 27
[SPIDER]
TELEFONZELLEN FÜR ALLE
[SPIDER]
TELEFONZELLEN FÜR ALLE
I
kommen die – ich sag mal – die Toiletten. Die ersten Anzeichen dafür habe ich schon entdeckt. Die Ärmsten der Armen, die ohne eigene Toilette, die an Straßenbäume oder Hauswände pullern müssen. Bald werden es viele sein. Die verarmten Massen, sogar Frauen und Kinder, werden mit heruntergelassenen Hosen im Nieselregen hocken, ihre Hintern den kräftigen Kiefern der Kampfhunde schutzlos ausgeliefert, und telefonieren, wobei sie eine Wurst machen. Klägliche, nährstoffarme Häufchen, in die dann dünne, blasse, barfüßige Kinder mit klugen Augen reintreten werden, denn es sind so viele, dass man ihnen nicht ausweichen kann. Schöne Zukunft! So sieht sie also aus. Ob der junge Mann weiß, dass sie so aussieht? Er ist mit dem Telefonieren fertig. Resignierend verstaut er das Taschentelefon in einem Köfferchen. Es gelingt mir, einen Blick auf seine karge Habe zu werfen. Da sind nur: viel Papier, Rechnungen sicherlich, eine Zeitung, wahrscheinlich sein Bett, und ein Apfel, die liebe, vom eigenen Munde abgesparte Gabe seiner buckligen Mutter. Das ist alles, was er jetzt noch hat, denn zu Hause wird seine kleine Schwester schweren Herzens alles verkaufen, was er noch besaß. Sein Lieblingsbuch, sein Fahrrad, seinen Fußball, seinen alten Teddybären. Heulend wird sie sogar den Hund verkaufen, für wissenschaftliche Experimente. Aber das Geld wird nicht lange reichen und wie soll es dann weitergehen? Wird der junge Mann kriminell werden? Oder sich als Freiwilliger zur Armee melden? Oder wird er unter Aufgabe von Würde und Schamgefühl beginnen mit Aktien zu handeln? Ich wünsche ihm von Herzen alles Gute. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, blicke ihm fest in die Augen und sage: »Als sie die Telefone abholten, habe ich geschwiegen – mich ruft ja keiner an. Aber wenn sie die Toiletten holen kommen, dann werde ich aufstehen. Auf mich kannst du dich verlassen! Sag das auch deiner Schwester!« Erschrocken reißt er sein Köfferchen an sich und stürzt aus dem Abteil. Überwältigt von Gefühlen wahrscheinlich. Ach, er ist zu sensibel für diese Welt!
54
55
n der Eisenbahn. Hinter mir auf’m Gang steht ein Mann und telefoniert. Mit einem Taschentelefon. Früher gab’s an den Straßenecken solche Zellen, da sind die Leute rein gegangen, um zu telefonieren. Da waren sogar schon Telefone drin. Musste man gar keins mitbringen. Gute, alte Zeit! Heute müssen die Menschen auf offener Straße telefonieren. Ausgesetzt dem Schneeregen und dem eisigen Atem der Sozialdemokratie. Sogar Frauen und Kinder. Dafür bin ich ‘89 nicht auf die Straße gegangen. Der Mann auf’m Gang ist auch noch sehr jung. Fast noch ein Kind. Der Ärmste! Hineingeboren in eine von Profitgier regierte Welt, die sich seine Eltern dann auch noch bei ihm geborgt haben. Wenigstens kann er in der gut beheizten Eisenbahn telefonieren. Noch! Bald wird er sich auch das nicht mehr leisten können. Er kämpft ums nackte Überleben. Er muss alles, was er hat, verkaufen. »Verkaufen! Verkaufen! Alles Verkaufen!« weist er ein für mich unsichtbares Familienmitglied an, das mit ihm telefoniert, irgendwo auf einem nasskalten Bürgersteig in Deutschland. Seine Mutter vielleicht, mit vor Sorgen ergrautem Haupt und den Rücken gebuckelt vom Toilettenputzen in den Bädern des dekadenten Bürgertums. Oder seine kleine Schwester. Ein blasses, dünnes Kind mit klugen Augen. So eine, die besser zur Schule gehen sollte, statt in den Steinbruch. Aber dann hätte sie nicht mal genug Geld für eigene Schuhe. Sie müsste im Winter barfuß laufen und würde in die giftigen Haufen der Kampfhunde treten, bis ihre Füße zu blutigen Klumpen einer hirnähnlichen Masse geworden wären. Tränen steigen mir in die Augen. Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung, aber auch Tränen des Zorns und Tränen der Wut. Die Tränen tropfen auf meine Brillengläser und ich muss die Brille putzen und dabei verschmiert alles so und man kriegt’s nicht wieder ordentlich, weil das Glas entspiegelt ist, aber das war als Sonderangebot bei Fielmann billiger als richtiges Glas und man hat’s ja auch nicht so dicke, also finanziell jetze, und dafür bin ich ‘89 auch nicht auf die Straße gegangen. Alles wird immer schlimmer. Man kann sich ja denken, wie es weitergeht. Als Erstes waren die Telefonzellen dran. Als Nächstes
[SPIDER]
TELEFONZELLEN FÜR ALLE
[SPIDER]
TELEFONZELLEN FÜR ALLE
I
kommen die – ich sag mal – die Toiletten. Die ersten Anzeichen dafür habe ich schon entdeckt. Die Ärmsten der Armen, die ohne eigene Toilette, die an Straßenbäume oder Hauswände pullern müssen. Bald werden es viele sein. Die verarmten Massen, sogar Frauen und Kinder, werden mit heruntergelassenen Hosen im Nieselregen hocken, ihre Hintern den kräftigen Kiefern der Kampfhunde schutzlos ausgeliefert, und telefonieren, wobei sie eine Wurst machen. Klägliche, nährstoffarme Häufchen, in die dann dünne, blasse, barfüßige Kinder mit klugen Augen reintreten werden, denn es sind so viele, dass man ihnen nicht ausweichen kann. Schöne Zukunft! So sieht sie also aus. Ob der junge Mann weiß, dass sie so aussieht? Er ist mit dem Telefonieren fertig. Resignierend verstaut er das Taschentelefon in einem Köfferchen. Es gelingt mir, einen Blick auf seine karge Habe zu werfen. Da sind nur: viel Papier, Rechnungen sicherlich, eine Zeitung, wahrscheinlich sein Bett, und ein Apfel, die liebe, vom eigenen Munde abgesparte Gabe seiner buckligen Mutter. Das ist alles, was er jetzt noch hat, denn zu Hause wird seine kleine Schwester schweren Herzens alles verkaufen, was er noch besaß. Sein Lieblingsbuch, sein Fahrrad, seinen Fußball, seinen alten Teddybären. Heulend wird sie sogar den Hund verkaufen, für wissenschaftliche Experimente. Aber das Geld wird nicht lange reichen und wie soll es dann weitergehen? Wird der junge Mann kriminell werden? Oder sich als Freiwilliger zur Armee melden? Oder wird er unter Aufgabe von Würde und Schamgefühl beginnen mit Aktien zu handeln? Ich wünsche ihm von Herzen alles Gute. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter, blicke ihm fest in die Augen und sage: »Als sie die Telefone abholten, habe ich geschwiegen – mich ruft ja keiner an. Aber wenn sie die Toiletten holen kommen, dann werde ich aufstehen. Auf mich kannst du dich verlassen! Sag das auch deiner Schwester!« Erschrocken reißt er sein Köfferchen an sich und stürzt aus dem Abteil. Überwältigt von Gefühlen wahrscheinlich. Ach, er ist zu sensibel für diese Welt!
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n der Eisenbahn. Hinter mir auf’m Gang steht ein Mann und telefoniert. Mit einem Taschentelefon. Früher gab’s an den Straßenecken solche Zellen, da sind die Leute rein gegangen, um zu telefonieren. Da waren sogar schon Telefone drin. Musste man gar keins mitbringen. Gute, alte Zeit! Heute müssen die Menschen auf offener Straße telefonieren. Ausgesetzt dem Schneeregen und dem eisigen Atem der Sozialdemokratie. Sogar Frauen und Kinder. Dafür bin ich ‘89 nicht auf die Straße gegangen. Der Mann auf’m Gang ist auch noch sehr jung. Fast noch ein Kind. Der Ärmste! Hineingeboren in eine von Profitgier regierte Welt, die sich seine Eltern dann auch noch bei ihm geborgt haben. Wenigstens kann er in der gut beheizten Eisenbahn telefonieren. Noch! Bald wird er sich auch das nicht mehr leisten können. Er kämpft ums nackte Überleben. Er muss alles, was er hat, verkaufen. »Verkaufen! Verkaufen! Alles Verkaufen!« weist er ein für mich unsichtbares Familienmitglied an, das mit ihm telefoniert, irgendwo auf einem nasskalten Bürgersteig in Deutschland. Seine Mutter vielleicht, mit vor Sorgen ergrautem Haupt und den Rücken gebuckelt vom Toilettenputzen in den Bädern des dekadenten Bürgertums. Oder seine kleine Schwester. Ein blasses, dünnes Kind mit klugen Augen. So eine, die besser zur Schule gehen sollte, statt in den Steinbruch. Aber dann hätte sie nicht mal genug Geld für eigene Schuhe. Sie müsste im Winter barfuß laufen und würde in die giftigen Haufen der Kampfhunde treten, bis ihre Füße zu blutigen Klumpen einer hirnähnlichen Masse geworden wären. Tränen steigen mir in die Augen. Tränen der Trauer, Tränen der Verzweiflung, aber auch Tränen des Zorns und Tränen der Wut. Die Tränen tropfen auf meine Brillengläser und ich muss die Brille putzen und dabei verschmiert alles so und man kriegt’s nicht wieder ordentlich, weil das Glas entspiegelt ist, aber das war als Sonderangebot bei Fielmann billiger als richtiges Glas und man hat’s ja auch nicht so dicke, also finanziell jetze, und dafür bin ich ‘89 auch nicht auf die Straße gegangen. Alles wird immer schlimmer. Man kann sich ja denken, wie es weitergeht. Als Erstes waren die Telefonzellen dran. Als Nächstes
[TUBE]
M
EINE UNGEWÖHNLICHE DISKUSSION AM MORGEN
ann oh Mann, wer bummert denn da an meine Wohnungstür? Kannste dir abschminken, aufmachen werde ich sowieso nicht. Ich schlafe nämlich noch, drehe mich um und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Als ich eine halbe Stunde später aufwache und die Augen aufschlage, erinnere ich mich an einen Traum: Irgendwer klopfte an meine Wohnungstür und begehrte Einlass, doch Einlass gewährte ich nicht, da ich noch schlief. Komischer Traum. Völlig asexuell. Draußen scheint es wieder kälter geworden zu sein, denke ich, weil ich finde, dass es kühl ist im Zimmer. Ich muss dazu sagen: Meine Wohnung ist wechselwarm, das heißt: Die Temperatur in meinem Zimmer ist sehr, sehr variabel und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sie setzt sich grundsätzlich aus Außentemperatur und meinem eigenen Fleiß zusam-men. Liegt die Außentemperatur beispielsweise bei minus 30 Grad und mein eigener Fleiß bei drei Kohlen am Abend, dann sind es am nächsten Morgen ungefähr minus 26 Grad in der Wohnung. So kalt ist es nun aber auch nicht und ich stehe auf, um den Tag beginnen zu lassen. In der gewohnten Reihenfolge: Aufstehen, Computer anschalten, während der Computer das Betriebssystem lädt in die Küche gehen und Wasser für Kaffee aufsetzen, zurück ins Zimmer und am Computer das Passwort eingeben, zurück in die Küche und Kaffee aufgießen, um dann mit heißem Kaffee wieder an den Computer zu gehen und Emails und Nachrichten zu lesen. Als ich dabei bin in der Küche den Kaffee zuzubreiten – ich bereite den Kaffee übrigens immer in einer Stempelkaffeekanne zu und mache nicht, wie andere, eine Wissenschaft daraus. Damit meine ich, dass ich drei Löffel Kaffee in das Glas schaufele, danach heißes Wasser drüberschütte und den Stempel runterdrücke. Ich kann versichern: Der Kaffee schmeckt so genauso gut, wie als wenn ich die Kanne bis zur Hälfte mit Wasser fülle, mit einem Löffel dreimal umrühre, danach die Kanne bis zum Rand mit heißem Wasser voll gieße und das Ganze noch vier Minuten ziehen lasse, bevor ich den Stempel runterdrücke – also: Als ich dabei bin, in 72
[TUBE]
EINE UNGEWÖHNLICHE DISKUSSION AM MORGEN
der Küche den Kaffee zuzubreiten (ich habe gerade die drei Löffel in die Kanne geschippt und heißes Wasser draufgegossen), bemühe ich mich den Stempel in das Glasgefäß zu stecken, da bemerke ich, dass vor dem Küchenfenster ein Mann steht, reinglotzt und mich beobachtet. Das erschreckt mich in gewisser Weise. Ich muss dazusagen: Meine Wohnung liegt im vierten Stock. Für gewöhnlich stehen da keine Männer vor dem Küchenfenster, glotzen rein und beobachten mich dabei, wie ich Kaffee zubereite. Das ist wirklich sehr unüblich, aber, so denke ich, es scheint doch gelegentlich vorzukommen. Ich muss akzeptieren, was ich sehe, und das ist ein Mann der vor dem Küchenfenster steht. Ich versuche eine Erklärung für das Verhalten des Mannes zu finden und führe blitzschnell zwölf Überlegungen durch: 1.Der Mann hat sehr, sehr lange Beine. 2.Kann nicht sein. 3. Wie kommt er dann dahin? 4. Er steht nicht, sondern er fliegt. 5. Hat er Flügel? 6. Nein. 7. Also hängt er. 8. Ich sehe keine Schnur. 9. Er muss also doch dort stehen. 10. Dann hätte er aber lange Beine. 11. Lange Beine sind nach Punkt 2 bereits wiederlegt. 12. Also steht er nicht dort. Es gibt diesen Mann nicht. Prima. Es hätte schlimmer kommen können. Ich versuche ihn so gut es geht zu ignorieren, bugsiere den Stempel in die Kaffeekanne und drücke ihn langsam hinab. Der Mann beobachtet mich dabei, im Augenwinkel sehe ich ihn, ich sehe, wie seine Augen der Bewegung meines Kaffeekannenstempels folgen, aber ich tue so, als ob es den Mann nicht gebe. »Punkt 12«, sage ich laut vor mich hin. »Punkt 12, ihn gibt es nicht«. 13. Warum guckt er dann auf meinen Stempel? 14. Das bildest du dir ein. 15. Wenn du dir den Mann einbildest, kannste auch ans Fenster gehen, das Fenster öffnen und ihm in die Fresse boxen. Prima! Und was sollen die Nachbarn denken? Was soll jemand denken, der mich von der Straße unten sieht. Ich reiße das Fenster auf und boxe in die Luft? Die müssen doch denken, ich bin bekloppt. 16. Boxen ist immer noch besser als reden. Stell dir vor, du machst das Fenster auf und sagst zu dem Mann, der dort nicht ist: »He Sie! Was glotzen Sie auf meinen Stempel?« Gut, also boxen. Ich reiße das Fenster auf, da fängt der Mann auch schon zu reden an. Er erzählt mir, er habe mich beim Kaffe 73
[TUBE]
M
EINE UNGEWÖHNLICHE DISKUSSION AM MORGEN
ann oh Mann, wer bummert denn da an meine Wohnungstür? Kannste dir abschminken, aufmachen werde ich sowieso nicht. Ich schlafe nämlich noch, drehe mich um und ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Als ich eine halbe Stunde später aufwache und die Augen aufschlage, erinnere ich mich an einen Traum: Irgendwer klopfte an meine Wohnungstür und begehrte Einlass, doch Einlass gewährte ich nicht, da ich noch schlief. Komischer Traum. Völlig asexuell. Draußen scheint es wieder kälter geworden zu sein, denke ich, weil ich finde, dass es kühl ist im Zimmer. Ich muss dazu sagen: Meine Wohnung ist wechselwarm, das heißt: Die Temperatur in meinem Zimmer ist sehr, sehr variabel und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sie setzt sich grundsätzlich aus Außentemperatur und meinem eigenen Fleiß zusam-men. Liegt die Außentemperatur beispielsweise bei minus 30 Grad und mein eigener Fleiß bei drei Kohlen am Abend, dann sind es am nächsten Morgen ungefähr minus 26 Grad in der Wohnung. So kalt ist es nun aber auch nicht und ich stehe auf, um den Tag beginnen zu lassen. In der gewohnten Reihenfolge: Aufstehen, Computer anschalten, während der Computer das Betriebssystem lädt in die Küche gehen und Wasser für Kaffee aufsetzen, zurück ins Zimmer und am Computer das Passwort eingeben, zurück in die Küche und Kaffee aufgießen, um dann mit heißem Kaffee wieder an den Computer zu gehen und Emails und Nachrichten zu lesen. Als ich dabei bin in der Küche den Kaffee zuzubreiten – ich bereite den Kaffee übrigens immer in einer Stempelkaffeekanne zu und mache nicht, wie andere, eine Wissenschaft daraus. Damit meine ich, dass ich drei Löffel Kaffee in das Glas schaufele, danach heißes Wasser drüberschütte und den Stempel runterdrücke. Ich kann versichern: Der Kaffee schmeckt so genauso gut, wie als wenn ich die Kanne bis zur Hälfte mit Wasser fülle, mit einem Löffel dreimal umrühre, danach die Kanne bis zum Rand mit heißem Wasser voll gieße und das Ganze noch vier Minuten ziehen lasse, bevor ich den Stempel runterdrücke – also: Als ich dabei bin, in 72
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EINE UNGEWÖHNLICHE DISKUSSION AM MORGEN
der Küche den Kaffee zuzubreiten (ich habe gerade die drei Löffel in die Kanne geschippt und heißes Wasser draufgegossen), bemühe ich mich den Stempel in das Glasgefäß zu stecken, da bemerke ich, dass vor dem Küchenfenster ein Mann steht, reinglotzt und mich beobachtet. Das erschreckt mich in gewisser Weise. Ich muss dazusagen: Meine Wohnung liegt im vierten Stock. Für gewöhnlich stehen da keine Männer vor dem Küchenfenster, glotzen rein und beobachten mich dabei, wie ich Kaffee zubereite. Das ist wirklich sehr unüblich, aber, so denke ich, es scheint doch gelegentlich vorzukommen. Ich muss akzeptieren, was ich sehe, und das ist ein Mann der vor dem Küchenfenster steht. Ich versuche eine Erklärung für das Verhalten des Mannes zu finden und führe blitzschnell zwölf Überlegungen durch: 1.Der Mann hat sehr, sehr lange Beine. 2.Kann nicht sein. 3. Wie kommt er dann dahin? 4. Er steht nicht, sondern er fliegt. 5. Hat er Flügel? 6. Nein. 7. Also hängt er. 8. Ich sehe keine Schnur. 9. Er muss also doch dort stehen. 10. Dann hätte er aber lange Beine. 11. Lange Beine sind nach Punkt 2 bereits wiederlegt. 12. Also steht er nicht dort. Es gibt diesen Mann nicht. Prima. Es hätte schlimmer kommen können. Ich versuche ihn so gut es geht zu ignorieren, bugsiere den Stempel in die Kaffeekanne und drücke ihn langsam hinab. Der Mann beobachtet mich dabei, im Augenwinkel sehe ich ihn, ich sehe, wie seine Augen der Bewegung meines Kaffeekannenstempels folgen, aber ich tue so, als ob es den Mann nicht gebe. »Punkt 12«, sage ich laut vor mich hin. »Punkt 12, ihn gibt es nicht«. 13. Warum guckt er dann auf meinen Stempel? 14. Das bildest du dir ein. 15. Wenn du dir den Mann einbildest, kannste auch ans Fenster gehen, das Fenster öffnen und ihm in die Fresse boxen. Prima! Und was sollen die Nachbarn denken? Was soll jemand denken, der mich von der Straße unten sieht. Ich reiße das Fenster auf und boxe in die Luft? Die müssen doch denken, ich bin bekloppt. 16. Boxen ist immer noch besser als reden. Stell dir vor, du machst das Fenster auf und sagst zu dem Mann, der dort nicht ist: »He Sie! Was glotzen Sie auf meinen Stempel?« Gut, also boxen. Ich reiße das Fenster auf, da fängt der Mann auch schon zu reden an. Er erzählt mir, er habe mich beim Kaffe 73
[ROBERT WEBER]
CHRONIK EINES ANGEFANGENEN TAGES
D
ie letzten sechs Tage nicht vor sechs Uhr ins Bett. Aber jetzt ausschlafen. Schlafen bis zum Umfallen, schlafen bis die Sonne untergeht. Schlafen. Schlafen. Schlafen.
Es ist sechs Uhr morgens und drei Stunden später klingelt das Telefon. Die FAZ-Redaktion braucht Fotos und kann meine Dateianhänge nicht öffnen, sie bitten um Rückruf. Das klingt wichtig, wichtiger als Schlaf. Ich rufe zurück. Das gibt’s doch nicht, das klappt doch sonst immer, ja was machen wir denn da? Kein Problem, die FAZ hat Geld, sie schicken einen Fahrradkurier, der kann es brauchen. Er klingelt um halb zehn. Ich geb’ ihm die Fotos mit schlechtem Gewissen – in Unterhosen – ein Affront gegen die werktätige Bevölkerung. Egal. Ich will schlafen. Endlich weiterschlafen, schlafen, schlafen, weiterschlafen. Ich nicke weg. Das Telefon klingelt. Es ist Rainer Bongald. Ich als sein Freund hätte ihm doch Bescheid sagen müssen. Da werden die Arbeitslosen als Untermenschen degradiert, man denke ja, die säßen den ganzen Tag auf dem Kopierer und vervielfältigen ihre Geschlechtsteile und Sprüche wie Von einem Afghanen lass ich mir nicht in den Arsch ficken – das sei doch Rassismus pur. »Rainer«, sag ich, »Rainer, ich bin auch arbeitslos und fühle mich von Frau Zellers neuem Theaterstück nicht als Untermensch degradiert und von einem Afghanen lass’ ICH mir schließlich auch nicht in den Arsch ficken.« Ob ich denn das Stück gelesen hätte? »Ja, in Auszügen.« Dann solle ich’s doch mal ganz lesen. Rassismus pur sage er nur. »Rainer«, sag ich, »Rainer, jetzt reg’ dich doch nicht so auf, erstens lieg ich noch im Bett und zweitens weiß doch keiner, dass das Stück von DIR handelt.« »Aber ich bin es doch, ich bin es doch, ich und meine Kollegen und ich hab ihr doch alles im Vertrauen erzählt und SIE hat mir doch gesagt, dass sie das nicht verwerten wird.« Und ich sag noch mal: »Rainer, Rainer« sag ich noch mal, »niemand weiß, dass das du und deine Kollegen sind und außerdem, 100
[ROBERT WEBER]
CHRONIK EINES ANGEFANGENEN TAGES
wenn ihr das so gesagt habt, dann könnt ihr auch dazu stehen. Ich würde mich ja auch nicht von einem Afghanen in den Arsch ficken lassen, deswegen ist das doch noch lang kein Rassismus« usw. »Also, entweder bist du jetzt für oder du bistgegen mich«, sagt Rainer. Und ich sag: »Dann Rainer«, sag ich, »in diesem Fall bin ich gegen dich, weil die Kunst, die darf alles.« »Ja wenn das so ist, dann bist du ein Arschloch«, sagt er, und dann will er auch nichts mehr mit mir zu tun haben. »Ja«, sage ich, »ich bin ein Arschloch und du kannst mich auch mal.« Aufgelegt. Erschöpft lasse ich mich ins Kissen zurückfallen. Zehn Uhr – noch ist nichts verloren, da klingelt das Telefon. Es ist Frau Zeller. Ob mich denn der Rainer schon angerufen hätte. »Ja, er hat und mein bester Freund will nichts mehr mit mir zu tun haben.« Oh, das täte ihr aber leid, ob ich jetzt sauer auf sie ...? »Nein, bin ich nicht, Rainer hat keinen Humor und Menschen ohne Humor sind auch nicht meine Freunde. Das mit dem besten Freund war sowieso nur ein Scherz, aber ich muss jetzt wirklich schlafen.« Oh, ob sie mich aufgeweckt ...? Nein, ich war schon aufgeweckt worden, mehrmals, aber jetzt muss ich mich wieder hinlegen und ich leg mich auch wieder hin, denn ich hab’s immer noch nicht aufgegeben, genauso wenig wie das Telefon. »Hallo, hier spricht Ihr Arbeitsberater vom Arbeitsamt.«, Und der will nur mal sehen, ob ich dem Arbeitsmarkt auch zwischen Weihnachten und Neujahr zur Verfügung stehe. Ja, sage ich, ich stünde. Na dann wäre ja alles in Ordnung und ich solle mir keine Sorgen machen, der Anruf sei reine Routine, die Telefonnummer hätte er von der Auskunft bekommen. Dieses Arschloch. Soll ich jetzt aufstehen? Nein, ich kann nicht, ich bin fix und alle, also wieder zurück aufs orthopädische Kissen, die Augen zu und geträumt, dass das Telefon klingelt. 101
[ROBERT WEBER]
CHRONIK EINES ANGEFANGENEN TAGES
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ie letzten sechs Tage nicht vor sechs Uhr ins Bett. Aber jetzt ausschlafen. Schlafen bis zum Umfallen, schlafen bis die Sonne untergeht. Schlafen. Schlafen. Schlafen.
Es ist sechs Uhr morgens und drei Stunden später klingelt das Telefon. Die FAZ-Redaktion braucht Fotos und kann meine Dateianhänge nicht öffnen, sie bitten um Rückruf. Das klingt wichtig, wichtiger als Schlaf. Ich rufe zurück. Das gibt’s doch nicht, das klappt doch sonst immer, ja was machen wir denn da? Kein Problem, die FAZ hat Geld, sie schicken einen Fahrradkurier, der kann es brauchen. Er klingelt um halb zehn. Ich geb’ ihm die Fotos mit schlechtem Gewissen – in Unterhosen – ein Affront gegen die werktätige Bevölkerung. Egal. Ich will schlafen. Endlich weiterschlafen, schlafen, schlafen, weiterschlafen. Ich nicke weg. Das Telefon klingelt. Es ist Rainer Bongald. Ich als sein Freund hätte ihm doch Bescheid sagen müssen. Da werden die Arbeitslosen als Untermenschen degradiert, man denke ja, die säßen den ganzen Tag auf dem Kopierer und vervielfältigen ihre Geschlechtsteile und Sprüche wie Von einem Afghanen lass ich mir nicht in den Arsch ficken – das sei doch Rassismus pur. »Rainer«, sag ich, »Rainer, ich bin auch arbeitslos und fühle mich von Frau Zellers neuem Theaterstück nicht als Untermensch degradiert und von einem Afghanen lass’ ICH mir schließlich auch nicht in den Arsch ficken.« Ob ich denn das Stück gelesen hätte? »Ja, in Auszügen.« Dann solle ich’s doch mal ganz lesen. Rassismus pur sage er nur. »Rainer«, sag ich, »Rainer, jetzt reg’ dich doch nicht so auf, erstens lieg ich noch im Bett und zweitens weiß doch keiner, dass das Stück von DIR handelt.« »Aber ich bin es doch, ich bin es doch, ich und meine Kollegen und ich hab ihr doch alles im Vertrauen erzählt und SIE hat mir doch gesagt, dass sie das nicht verwerten wird.« Und ich sag noch mal: »Rainer, Rainer« sag ich noch mal, »niemand weiß, dass das du und deine Kollegen sind und außerdem, 100
[ROBERT WEBER]
CHRONIK EINES ANGEFANGENEN TAGES
wenn ihr das so gesagt habt, dann könnt ihr auch dazu stehen. Ich würde mich ja auch nicht von einem Afghanen in den Arsch ficken lassen, deswegen ist das doch noch lang kein Rassismus« usw. »Also, entweder bist du jetzt für oder du bistgegen mich«, sagt Rainer. Und ich sag: »Dann Rainer«, sag ich, »in diesem Fall bin ich gegen dich, weil die Kunst, die darf alles.« »Ja wenn das so ist, dann bist du ein Arschloch«, sagt er, und dann will er auch nichts mehr mit mir zu tun haben. »Ja«, sage ich, »ich bin ein Arschloch und du kannst mich auch mal.« Aufgelegt. Erschöpft lasse ich mich ins Kissen zurückfallen. Zehn Uhr – noch ist nichts verloren, da klingelt das Telefon. Es ist Frau Zeller. Ob mich denn der Rainer schon angerufen hätte. »Ja, er hat und mein bester Freund will nichts mehr mit mir zu tun haben.« Oh, das täte ihr aber leid, ob ich jetzt sauer auf sie ...? »Nein, bin ich nicht, Rainer hat keinen Humor und Menschen ohne Humor sind auch nicht meine Freunde. Das mit dem besten Freund war sowieso nur ein Scherz, aber ich muss jetzt wirklich schlafen.« Oh, ob sie mich aufgeweckt ...? Nein, ich war schon aufgeweckt worden, mehrmals, aber jetzt muss ich mich wieder hinlegen und ich leg mich auch wieder hin, denn ich hab’s immer noch nicht aufgegeben, genauso wenig wie das Telefon. »Hallo, hier spricht Ihr Arbeitsberater vom Arbeitsamt.«, Und der will nur mal sehen, ob ich dem Arbeitsmarkt auch zwischen Weihnachten und Neujahr zur Verfügung stehe. Ja, sage ich, ich stünde. Na dann wäre ja alles in Ordnung und ich solle mir keine Sorgen machen, der Anruf sei reine Routine, die Telefonnummer hätte er von der Auskunft bekommen. Dieses Arschloch. Soll ich jetzt aufstehen? Nein, ich kann nicht, ich bin fix und alle, also wieder zurück aufs orthopädische Kissen, die Augen zu und geträumt, dass das Telefon klingelt. 101