geschichte

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Thomas Henne, Frankfurt/M.

Die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur – Zu Form und Methode einer juristischen Diskursmethode♣

„Ich habe mich an Art. 20 III GG und an Art. 97 I GG, also an die Bindung nur an Recht und Gesetz, gehalten, und habe daher keine Kommentare in meiner juristischen Hausarbeit zitiert. Der Korrekturassistent hat das moniert. Zu Recht?“1

I.

Seit Bologna

II.

Zur Funktion der juristischen Kommentarliteratur: Sieben Thesen

III.

Zur Entstehung der „modernen“ juristischen Kommentarliteratur

IV.

Zur Neuordnung der Kommunikation über Recht um 1900

V.

Zwei Debatten um juristische Kommentarliteratur

VI.

Epilog: Selbstreferentialität

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Ergänztes und erweitertes Manuskript des Vortrages auf der Tagung „Welche Juristen braucht die Demokratie?“, Berlin, 2. Juni 2006. Den Veranstaltern, der Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, und dem Forum Justizgeschichte danke ich für die Einladung; den Zuhörerinnen und Zuhörern für ihre Hinweise in der Diskussion. Ein Tagungsbericht erscheint in der JuS, Heft 8/2006; zur Vorgängertagung Neue Justiz 2005, S. 543 f. Nachfrage des 86jährigen Dipl.-Ing. Dipl.-Chem. KLAUS SCHAEFER, dem vermutlich ältesten Jurastudenten Deutschlands (und zur Zeit Doktorand am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt/M.). Der Vortrag versteht sich auch als Antwort auf diese Frage, die von jüngeren Jurastudenten viel zu selten gestellt wird.


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I. Seit Bologna Rechtswissenschaft und Rechtspraxis sind Kommunikation über einen Text. Jede diskursive Praxis war und ist daher eingebunden in ein Kommunikationsnetz, in dem Steuerungsmedien eine beherrschende Stellung einnehmen. Zeitschriften sind das eine wichtige Steuerungsmedium des juristischen Diskurses;2 vielleicht noch wirkungsmächtiger sind die Kommentare. Angewendet wird nicht das Gesetz, schon gar nicht jenes, das in dürren Worten in Gesetzesblättern steht, sondern jener Metatext, der sich in Kommentaren um den Gesetzestext gelegt hat – das Gesetz wird zum nicht mehr gelesenen Subtext. Nicht zufällig fällt die Entstehung der modernen universitären Rechtsausbildung mit dem Entstehen der ersten Kommentarliteratur zusammen: In Bologna zirkulierte erstmals seit der Antike ein Text um einen anderen, einen juristischen herum – die Kommunizierbarkeit war begründet und deshalb die sogar europäisch einheitliche Ausbildung und Prägung der Juristen. Diese Prägung kontinentaleuropäischer Juristen durch Kommentare erfolgt seit mindestens einem Jahrhundert nahezu unverändert und insoweit erfolgreich, wird aber bislang trotz aller Brüche in der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts erstaunlicherweise kaum thematisiert.3 Festschriften sind angegriffen und ironisch gebrochen,4 Lexika seriöser Autoren mit „kidding“-Artikeln versehen,5 juristische Rezensionen zum Beispiel im leider ersatzlos eingestellten „Rechtshistorischen Journal“ ästhetisiert worden, aber beim Kommentar bleiben alle Autoren bierernst und meist sprachlos.6 Selbst die Suche nach Karikaturen zur Prägung der juristischen Arbeit durch die Kommentarliteratur war bislang vergeblich.7 Kurioserweise bestens erforscht sind hingegen die Kommentarverbote.8 Es gab, soweit ersichtlich, bislang nur zwei größere Debatten um juristische Kommentare: Am Anfang der NS-Zeit und bei Erscheinen der Alternativkommentare. Merkwürdig und sicherlich nicht ausreichend, zumal zum Beispiel in der Literatur- und der Religionswissen2

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MICHAEL STOLLEIS (Hrsg.), Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1999 Auch bei FRIEDRICH KARL FROMME, Lies keine Leitartikel, mein Sohn, lies die Kommentare, FAZ v. 13.10.2005, S. 37, findet sich nur eine ausführliche Auflistung von Verfassungskommentaren. DIETER C. UMBACH u.a. (Hrsg.), Das wahre Verfassungsrecht (Festschrift Nagelmann), Baden-Baden 1984. Vgl. auch http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Gottlob_Nagelmann . Artikel „I. M. Kidding“, in: MICHAEL STOLLEIS (Hrsg.), Juristen. Ein biographisches Lexikon, München 1995, S. 348 f. Auch die zwei Fn. zuvor erwähnte FS Nagelmann; im dortigen ausführlichen Stichwortregister fehlt „Kommentar“. Ich danke Guido Kirchhoff von der Zeitschrift „Betrifft Justiz“ für seine Unterstützung. Zusammenfassend: HANS-JÜRGEN BECKER, Kommentierungs- und Auslegungsverbot, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Aufl., Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 963 ff.


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schaft seit langem die Textform „Kommentar“ auf hohem Niveau reflektiert wird.9 Ein von mir mitveranstalteter workshop zum „Kommentar als Medium von Kommunikation über Recht“ hat im Januar 2006 erste Überlegungen dazu gebündelt;10 alles folgende stützt sich auch auf die damaligen Diskussionen. II. Zur Funktion der juristischen Kommentarliteratur: Sieben Thesen Dass Texte kompiliert und annotiert werden, ist eine alte Diskurspraxis und durchaus kein Spezifikum juristischer Kommunikation. In der heutigen Form geläufig sind juristische Kommentare seit dem 19. Jahrhundert – vorangegangen waren (nach etlichen Kommentaren zum napoleonischen Recht11) und wie auch in der Kodifikationsgeschichte wohl das Strafrecht und das Strafprozessrecht schon ab den 1850er Jahren. Nicht zufällig hat Julius von Staudinger, Initiator des ersten Großkommentars, das Kommentieren im Stafrecht gelernt.12 Der Sprung vom Annotieren zum Kommentieren und Systematisieren ist im Strafrecht aber wohl erst im (später so genannten) Leipziger Kommentar in dessen erster Auflage in den 1920er Jahren erfolgt.13 Im Verfassungsrecht fand dieser qualitative Umschwung bei Gerhard Anschütz statt;14 für das Handelsrecht (und damit auch für das allgemeine Zivilrecht) war Hermann Staub prägend.15 Seitdem zielen Kommentare auf, wie der Zivilrechtler Crome schon im Jahr 1900 schrieb, „das Gedächtnis des Lesers“16 – der Kommentar ist, These 1, eine memoria-Maschine: Nur das, was in der jeweils aktuellen Auflage des Standard-Kommentars zu lesen ist, findet Eingang in die alltägliche Rechtspraxis. Und was in keinen Kommentar aufgenommen ist, war 9

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Einen anregenden Überblick über die Debatte zu philologischen Kommentaren liefert www.edkomp.unimuenchen.de/CD1/C/Kommentar-C-RL-print.html (08.07.2006). Aus religionswissenschaftlicher Sicht z.B. GESINE PALMER, Selbständige Anlehnung: Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung als Kommentar ohne Text, in: Martin Brasser (Hrsg.), Rosenzweig als Leser: Kontextuelle Kommentare zum „Stern der Erlösung“, Tübingen 2004, S. 521 ff. Das Programm ist zugänglich unter www.mpier.uni-frankfurt.de/pdf/veranstaltungen/workshop-20012006.pdf (08.06.2006). Wichtig z.B.: KARL LUDWIG V. GROLMAN, Ausführliches Handbuch über den Code Napoleon, Bd. 1-3, Gießen/Darmstadt 1810/12. Nachweise bei FRITZ STURM, Der Kampf um die Rechtseinheit in Deutschland – Die Entstehung des BGB und der erste Staudinger, in: Michael Martinek u.a. (Redaktor), 100 Jahre BGB – 100 Jahre Staudinger, Berlin 1999, S. 34 Fn. 102. LUDWIG EBERMAYER u.a., Das Reichs-Strafgesetzbuch mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Berlin und Leipzig 1920. Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, Bd. 1 (mehr nicht erschienen), Berlin 1912; eine „meisterhafte“ Leistung; so MICHAEL STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, München 1992, S. 353. Dazu demnächst umfassend: HENNE / RAINER SCHRÖDER / JAN THIESSEN, Anwalt – Kommentator – „Entdecker“. Festschrift für Hermann Staub zum 150. Geburtstag am 21. März 2006, erscheint im September 2006 bei de Gruyter. „Die Kommentarliteratur bezweckt [, dasss das „Gesetzeswort“] dem Bewßtsein und Gedächtnis des Lesers gegenwärtig bleibt […]“, so CARL KROME, System des deutschen Bürgerlichen Rechts, 1900, Bd. 1, S. 58 f..


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vor dem Einzug juristischer Datenbanken nahezu dem Vergessen anheimgegeben. Die Leistung von Kommentaren liegt also nicht zuletzt darin, das für eine Anwendungswissenschaft unverzichtbare17 Vergessen zu organisieren.18 Wenn es ein Loseblattkommentar ist, wartet der Papierkorb auf die alte Lieferung, und selbst für Bibliotheken sind alte Kommentarauflagen kaum aufhebenswert. Die Ausnahme, als nämlich der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde vor kurzem spektakulär die Neukommentierung von Art. 1 in einem GG-Kommentar zum Anlass nahm, wortmächtig in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Bestandsschutz zu fordern –19 diese Ausnahme bestätigt nur die Regel. Kommentare sind Wegwerfware, mit jeder neuen Auflage häutet sich die Rechtspraxis. Doch solange sie nicht durch eine Neuauflage entwertet sind, stellen Kommentare zugleich die letzte Instanz dar; niemand kommentiert sie,20 niemand schreibt – anders als bei Aufsätzen – einen Gegenartikel. So tendenziös beispielsweise auch Herbert Tröndles Kommentierungen der §§ 218 ff. StGB und des Nötigungsrechts waren,21 so wurde ihnen doch nicht auf der gleichen Ebene geantwortet. Der Kommentar ist, These 2, ein Medium des juristischen Diskurses, aber kein Objekt. Und nur, wie wiederum der erwähnte Crome schon 1900 wußte, durch den Kommentar bleibt das stumme Gesetzeswort „gegenwärtig“,22 will heißen: These 3: Der Kommentar zwingt den Leser in eine zentrierte Rechtslandschaft: Das Gesetz, und nur dessen Wortlaut, wird für wichtig erklärt.23 Gewohnheitsrecht, Rechtsgeschichte, Rechtsvergleichung24 und Rechtsphilosophie müssen in die zweite Reihe treten. Der Kommentar erzieht zur Entscheidungsorientierung, nicht zur Reflexion von einer Metaebene. Das Gesetz wird zudem zum ordnenden

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GÜNTER BUTZER u.a. (Hrsg.), Kulturelles Vergessen. Medien – Rituale – Orte, Göttingen 2004. Dazu MICHAEL STOLLEIS, Vom Verschwinden verbrauchten Rechts, in: Rainer Maria Kiesow u.a. (Hg.), Summa. Festschrift für Dieter Simon, Frankfurt/M. 2005, S. 539 ff. Die Neukommentierung des Artikels 1 GG in dem verfassungsrechtlichen Standardkommentar „MaunzDürig-Herzog-Scholz“ durch MICHAEL HERDEGEN erfolgte 2003, die Reaktion ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDES in der FAZ vom 4.9.2003. Auch hier belegt die Ausnahme die Regel (und G. Dürigs auch insoweit singuläre Stellung): HANS PETER IPSEN, Freiheit vor Gleichheit. Zu Günter Dürigs Kommentierung des Art. 3 GG, in: Der Staat 1974, S. 555 ff. Der Aufsatz betrifft nicht zufällig jenen Autor, dessen Verschiebung der Genregrenze auch durch Böckenfördes erwähnten FAZ-Artikel deutlich wird. Jedenfalls in einem Kommentar, den man selbst herausgibt, lassen sich auch Texttypen jenseits der Kommentierung unterbringen. Viktor Winkler, Frankfurt/M., danke ich für den Hinweis auf Ipsens Aufsatz. HERBERT TRÖNDLE hat die 38.-49. Aufl. 1978-99 kommentiert. Vgl. den Nachweis bei These 1. Dazu allgemein GESINE PALMER, Selbständige Anlehnung. Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung als Kommentar ohne Text, in: Martin Brasser (Hrsg.), Rosenzweig als Leser: Kontextuelle Kommentare zum „Stern der Erlösung“, Tübingen 2004, S. 521 ff. (524). Dazu besonders ERNST RABEL, Rezension: J. v. Staudingers Kommentar zum BGB, in: Rheinische Zeitschrift für Zivil und Prozeßrecht, Bd. 7 (1915), S. 508 ff.; wiederabgedruckt in DERS., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Tübingen 1965, S. 293 ff.


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Perspektivpunkt,25 indem die Kommentierung unverrückbar von der Systematik des Gesetzes ausgeht und höchstens mehrere hintereinanderstehende Normen auf einmal kommentiert, aber keine Umstellungen vornimmt. Selbst offensichtliche und allgemein anerkannte Redaktionsfehler werden nicht zur Korrektur des zitierten Gesetzestextes verwendet, sondern nur nach ihm aufgeführt. Zugleich übernimmt der Kommentar die Anonymisierung der Rechtsfindung: Das Gesetz geht, wie gerne formuliert wird, auch in Demokratien auf einen ominösen „Gesetzgeber“ zurück; und jedenfalls in der Rechtspraxis verschwindet der Name des Kommentators hinter dem Abstraktum des Kommentarnamens („Es steht im Palandt“). Zur Durchsetzung normtextgeleiteten Handelns haben Kommentare also eine vielleicht größere Bedeutung als die vielen Debatten über Gesetzesbindung – die Gesetzeszentrierung wird durch den Kommentar so sanft wie unwiderstehlich durchgesetzt. Daß Gesetze im common law eine ganz andere Funktion haben, ist übrigens einer der Gründe, warum es in den USA Präjudizienrecht, aber jedenfalls gegenwärtig keine Kommentare gibt. Zurück zur kontinentaleuropäischen Tradition: Hier wird der Referenztext zum Subtext, nicht zum Gebot – etwas, was Juristinnen und Juristen während ihrer Professionalisierung erst schmerzlich lernen, dann aber in der Regel unreflektiert26 um so mehr verinnerlichen. Nur Laien zitieren Gesetze, haben den Wunsch nach unvermittelter Aneignung und Nutzung des Gesetzes, suchen im Gesetz nach „Gerechtigkeit“. Der Jurist hingegen verweist auf den richtigen, weil herrschenden Kommentar in der aktuellen Auflage. Nicht das Gesetz enthält den Befehl, die Regelung, sondern der Juristenkommentar enthält einen dreifachen Befehl: „Erstens: Du sollst nicht selbst auslegen; zweitens: Ich bin der Subtext, nicht eine von Dir festgelegte ‚Gerechtigkeit’, drittens: Wenn Du keine Lösung Deines Falles in mir findest, suche bei mir weiter; viertens: Wenn Du von meiner Lösung abweichen willst, mußt Du es mit höheren Autoritäten begründen.“ These 4 daher: Der Kommentar reduziert Rechtsmassen auf Verwertbares, und nicht zufällig strahlt dieses Diktat der Ökonomisierung auch auf die Sprache aus: Auch der benötigte Platz auf dem Papier wird mittels einer Kürzelspache reduziert. „Frhr. mßtn. Sie ds. lesn. kön. – Jetzt nicht mehr!“ ironisiert ein neu publizierter Konkurrenzkommentar zum „Palandt“.27 Der Kommentar ist auch ein, wenn nicht das wichtigste Kommunikationsinstrument zwischen Praxis und Wissenschaft – allerdings nur jener Wissenschaft, die sich als Anwendungswissen25

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Zur vergleichbaren Funktion der populären Zeitschriftenkultur im 19. Jahrhundert: GERHART V. GRAEVENITZ, Zentrierte Durchlässigkeit, Frankfurter Rundschau v. 11.8.1992, S. 16 („Forum Humanwissenschaften“). Vgl. aber die Frage im Eingangsmotto zu diesem Aufsatz. Die Werbung des Luchterhand-Verlages bezieht sich auf PRÜTTING/WEGEN/WEINREICH, BGB Kommentar, Neuwied 2006.


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schaft versteht. These 5 daher: Wissenschaft und damit ihre Akteure werden durch Kommentare in die Praxis integriert, oder, wenn man es polemisch ausdrücken will, zu ihr heruntergezogen. Dies hatte schon Karl Binding 1881 im Eröffnungsaufsatz der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ moniert,28 und auch Ernst Rabel kritisierte drei Jahrzehnte später die Wirkungsmacht der Kommentare und den Bedeutungsverlust der „großen“ Lehrbücher.29 Doch es half nichts: Weniger große Lehrbücher, mehr Kommentare, das blieb die unangefochtene Tendenz auch in der Bundesrepublik. Je mehr das Gesetz im Kommentar verschwindet, um so mehr können sich auch die Ewigkeitsrhetorik des Gesetzes und die schnelle Vergänglichkeit des Kommentartextes gegenseitig stabilisieren. Der Kommentar also, These 6, renoviert das Gesetz, leistet die Feinsteuerung, die die Gesetzgebung strukturell nicht leisten kann. Das hatte schon Adolf Baumbach gewußt, in den 1920er Jahren „Erfinder“ der Beck’schen Kurzkommentare,30 und es ist präzise zusammengefaßt in den Worten von Dieter Medicus, der in einer Rezension zum „Palandt“ schrieb: „Man könnte aus der Kommentierung geradezu einen Gesetzestext machen, wenn man die Entwicklung für einigermaßen abgeschlossen halten dürfte (was sie aber wohl nicht ist).“31 Eben. Das Internet beschleunigt diese Aktualisierung: Die vom Beck-Verlag jetzt eingeleiteten „online-Kommentare“ sollen fortlaufend aktualisiert werden. Mit diesem Versprechen der absoluten Aktualität einher geht noch mehr Geltungskraft des Kommentartextes, suggeriert er doch eine genuine Gegenwartsbezogenheit. Ein Rezensent des „Palandt“ resümiert daher beruhigt, daß die jährliche Neuauflage „dem zivilrechtlich tätigen Praktiker die Gewissheit vermittelt, auf dem neuesten Stand zu sein.“32 Viel Gewissheit mittels eines einzigen Buches. Und welche Rechtsfortbildung kann heute als anerkannt gelten, solange ihr nicht die führenden Kommentare den Stempel der Akzeptanz aufgedrückt haben ? Müssen nicht sogar Obergerichte kapitulieren, wenn längerfristig eine Rechtsansicht von den Kommentatoren abgelehnt wird ? Meine These 7 daher: Über dem Richterkönig steht der Kommentarkaiser. Es sind jedenfalls diese Kaiser, die einer hM33 erst die Krone aufsetzen, und es sind diese Kaiser, 28

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Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft in normalem Verhältnis zu einander, ZStW Bd. 1 (1991), S. 4 ff. (22 f.). Ich danke Helmut Pollähne (Bremen) für den Hinweis. Nachweis oben fünf Fn. zuvor. BAUMBACH schrieb im Vorwort zu seiner Kommentierung des GmbHG, 1. Auflage 1936: „Der Erläuterer hat sich an das Bestehende zu halten. Das bedeutet nicht, daß er zur Versteinerung des Rechts beizutragen hätte. Im Gegenteil! Die schönste Aufgabe des Erläuterers ist es, dahin zu wirken, daß sich die Rechtsprechung den Erfordernissen der Zeit anpaßt, auch ohne daß es einer Gesetzesänderung bedürfte.“ Anfangs hießen die Werke „Kurzkommentar nach Baumbach’scher Kommentierungsweise“. Zu Baumbach und seinen Kommentaren bislang fast nur der (apologetische) Aufsatz von WOLFGANG HEFERMEHL, Adolf Baumbach, in: Juristen im Portrait. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum des Verlages C.H. Beck, München 1988, S. 130 ff. DIETER MEDICUS, Palandt – 50. Auflage, in: NJW 1991, S. 887 (889). REINHARD WEVER, Rezension, in: FamRZ 2004, S. 596. Dazu THOMAS DROSDEK, Die herrschende Meinung. Autorität als Rechtsquelle, Baden-Baden 1997.


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die absolutistisch strukturierte Zitierkartelle lenken. Uwe Wesel hat in einem legendären Aufsatz mit dem lakonisch kurzen Titel „hM“ die Mechanismen dieser Durchsetzung einer hM in der ihm eigenen Präzsion und Diktion skizziert.34 Nur die Bedeutung der Kommentare ließe sich mE stärker akzentuieren, wozu Helmut Kramer jetzt eine Detailstudie über eine Kommentierung zum Rechtsberatungsgesetz präsentiert hat.35 III. Zur Entstehung der „modernen“ juristischen Kommentarliteratur Genauerers über die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur kann man durch einen Blick in die Umbruchphase lernen, also in jene Zeit, als Gesetzeskommentare erstmals in einem heutigen Stil geschrieben wurden, am Ende des 19. Jahrhunderts – nicht zufällig just dann, als der Rechtspositivismus, genauer: der Gesetzespositivismus, durch die Freirechtslehre angegriffen wurde. Zuvor, also noch in den 1870/80er Jahren, wurde jenseits der Strafrechtskommentare wohl durchgängig nur kompiliert und annotiert. Die Kommentatoren gaben zu einzelnen Worten des Gesetzestextes Hinweise aus der Gesetzgebungsgeschichte und listeten Gerichtsentscheidungen auf. Ein Landgerichtsrat verdichtete diese Methodik 1899, als er als Titel seines Kommentars angab: „Handelsgesetzbuch […] verglichen mit […] der Rechtsprechung des Reichsgerichts“.36 Als die BGB-Väter am Ende des 19. Jahrhunderts als Funktion dieses Gesetzes festschrieben, daß das Gesetz nur die weitgehend unstrittige Summe des Zivilrechts enthalten sollte, war der Anspruch des Gesetzes nicht mehr auf das Ganze, also auf das ganze Recht, gerichtet. Nun konnte, ja mußte der Gesetzesanwender und erst recht der Kommentarverfasser von einer im Gesetz zu erheblichen Teilen nicht abgebildeten Gesamtstruktur des jeweiligen Rechtsgebietes ausgehen und konnte von dieser Struktur ausgehend kommentieren. Der zivil-und handelsrechtliche Gesetzeskommentar musste – anders als in dem insoweit anders ausgerichteten Strafrecht – zwangsläufig Ausführungen zu Themen enthalten, die im Gesetz nicht geregelt und gelöst waren, und damit war jetzt erstmals in größerem Umfang der Weg frei zu einer eigenständigen, aber gesetzeszentrierten (vgl. oben) Stukturierung des Stoffes und einer Verteilung der Ergebnisse auf die einzelnen Paragraphen. Nun war ein übersichtliches, da anhand des Gesetzes gegliedertes Lehrbuch gefordert. Der Kommentar war notwendig mehr als der Text, und er erforderte nicht nur Sammeltätigkeit, sondern die Fähigkeit zur literarisch anspruchsvollen, pädagogisch orientierten Verarbeitung von Justiz, Kollegenmeinungen und eigenem System.37 Ein Experiment führt dabei weiter: Wäre denn ein Rückschluss nur vom

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UWE WESEL, hM, in: Kursbuch 56 – Unser Rechtsstaat (1979), S. 88 ff. HELMUT KRAMER, Was wir schon immer wissen wollten oder: Wie die „herrschende Meinung“ entsteht, in: verdikt, Ausgabe Dezember 2003, S. 14 ff. H. KÖNIGE, Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897, Berlin 1899. Letzteres betont WOLFGANG ZÖLLNER, Das Bürgerliche Recht im Spiegel seiner großen Kommentare (1. Teil), JuS 1984, S. 730 ff. (731).


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Kommentartext auf das Gesetz möglich, wenn das Gesetz verloren gegangen wäre ? Vermutlich würde ein vom Kommentartext aus rekonstruiertes Gesetz viel mehr enthalten als der ursprüngliche Gesetzestext; und schon deshalb ist der Kommentar eben gerade keine Exegese. Zudem mußten die Kommentare um die Jahrhundertwende nach dreißig Jahren höchstrichterlicher Rechtsprechung38 die Aufgabe der Abschichtung der Judikatur übernehmen. Kommentare der 1860/70er Jahre sind häufig noch von Belegnestern durchsetzt; die Autoren setzen auf Vollständigkeit und trauen sich die Exkludierung nicht zu. Um 1900 aber, als die Rechtsgeschichte insbesondere im Zivilrecht zur Wissenschaft des Bisherigen geworden war und ihre Funktion als Auslegungshilfe zu verlieren begann,39 exkludierten die Autoren zunehmend selbstbewusster. Typischerweise entstanden daher viele Kommentare bei Rechtspraktikern. Autoren waren vor allem jene Juristen, die entweder die Entstehung des Gesetzes „an der Quelle“ mitverfolgt hatten, wie mehrere Mitglieder der BGB-Kommissionen, oder Richter und Anwälte, die sich in der täglichen Praxis umfassend mit dem Gesetz beschäftigten. Eine andere, dauerhaft wirksame Kodifikation entstand in dieser Zeit übrigens auch aus der Hand eines Praktikers: Gemeint ist der DUDEN, der aber gerade kein Kommentar zu den Regeln der Rechtschreibung ist (warum eigentlich nicht ?). Die zeitliche Parallelität blieb nicht zufällig erhalten: Die unangefochtene Bindungskraft des Duden ist erst vor kurzem und also dann zerbrochen, als bei den Juristen allseits das Ende des Zeitalters der Großkodifikationen festgestellt wurde, nur werden diese Parallelen zwischen dem Duden und den juristischen Kodifikationen und Kommentaren bislang (zu) wenig beachtet. IV. Zur Neuordnung der Kommunikation über Recht um 1900 Noch etwas macht die Zeit um 1900 zur Zeitenwende für die Kommunikation über Recht: Im Anschluß an die „Kommunikationsrevolutionen“ des 19. Jahrhunderts40 wurde vielfach eine „Notlage der wissenschaftlichen Kommunikation“41 empfunden, vor allem aber suchten nun Verleger aktiv ihre Autoren42 – und erkannten bald das Marktpotential von Praktikerkommentaren. Zugleich stieg die Produktion wissenschaftlicher Veröffentlichungen, wie Buchwissen-

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Das Bundes- bzw. später Reichs-Oberhandelsgericht, später im Reichsgericht aufgegangen, wurde 1869/70 gegründet. Dazu HENNE, Rechtsharmonisierung durch das „Reichsgericht“ in den 1870er Jahren. Startbedingungen, Methoden und Erfolge (Habilitationsschrift) Dazu umfassend (und über den engen Aufsatztitel hinaus) REGINA OGOREK, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik (1945 [sic !]-1990), in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, Frankfurt/M. 1994, S. 12 ff. (20 ff.). MICHAEL NORTH, Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln 2001. HEINZ FINGER, Bücher und Gelehrte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der große Wandel im Kommunikationssystem der Universitäten, Gutenberg-Jahrbuch, Bd. 68 (1993), S. 359 [linke Spalte]. FINGER, Bücher und Gelehrte, S. 358 [linke Spalte].


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schaftler belegt haben, stark an.43 So groß die soziale Reputation der Universitätsprofessoren auch war, und so sehr sie den Wissenschaftsdiskurs dominierten – so groß war auch der Raum, der für Angriffe aus Praktikerperspektive entstand; auch deshalb, weil die Verleger umfassend auf eine Popularisierungsstrategie setzten.44 Widerstand gegen die Popularisierung von Wissen wurde also auch und gerade durch Verleger überwunden;45 bei Juristen waren hierfür wohl vor allem der de Gruyter- und der C.H. Beck-Verlag von zentraler Bedeutung. Nicht zufällig stützte sich auch die zu den ersten Auflagen von Staubs Handelsrechtskommentar zeitlich parallele Freirechtslehre vor allem auf Praktiker und auf Außenseiter an den Universitäten. Die so lange weitgehend autonome wissenschaftliche Kommunikation wurde in „Massenbüchern“ (und solche waren die erfolgreichen kurzen Kommentare) unmittelbar an die Rechtspraktiker vermittelt – es war eben nicht mehr das große Lehrbuch, „der Windscheid“, das die Kommunikation herstellte, sondern gesetzestextbezogen der juristische Kommentar, worauf – im Anschluß an Franz Wieacker – Heinz Mohnhaupt in einem Aufsatz über die frühen BGBKommentare hingewiesen hat.46 Nachdem die rechtswissenschaftliche Kommunikation also um 1900 geradezu aufprallte in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität und insoweit ihre Autonomie verlor, war zwangsläufig auch die Autonomie ihres Argumentationsarsenals in Frage gestellt. Die Autonomie des Rechts und die Autonomie der universitären Kommunikation darüber wurden zeitgleich fundamental in Frage gestellt. Diese Infragestellung war um 1900 auch deshalb besonders fundamental, weil nach einer zutreffenden Beobachtung des Leipziger Zivilprozessualisten Oskar Bülow galt: „Gesetz und Richteramt schafft dem Volke sein Recht“.47 Eine etatistisch motivierte Integration der Justiz in den Staat hinein hob die Gewaltenteilung zugunsten einer Vernetzung auf – Judikative und Legislative (und Wissenschaft48) wirkten nach ihrem Selbstverständnis zusammen. Zugleich

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FINGER, aaO., S. 362. HELEN MÜLLER, Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyters im literarischen Feld der Jahrhundertwende, Tübingen 2004, besonders S. 213 zur „Transformation der kulturellen Kommunikationsräume“ und mit Blick auf die „wachsende Nachfrage nach transparentem Wissen“. Umfassend dazu jetzt das Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20. Jahrhundert“ an der HU Berlin (Prof. Dr. Erhard Schütz / Prof. Dr. Stephan Porombka). Dazu allgemein MÜLLER, Wissenschaft (Fn. zuvor), S. 214. Die Kommentare zum BGB als Reflex der Rechtsprechung (1897-1914), in: Ulrich Falk (Hrsg.), Das Bürgerliche Gesetzbuch und seine Richter. Zur Reaktion der Rechtsprechung auf die Kodifikation des deutschen Privatrechts (1896-1914), Frankfurt/M. 2000, S. 495 ff. (502 f.). Hervorhebung von mir; das Originalzitat lautet: „Denn nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volke sein Recht!“ OSKAR BÜLOW, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885, S. 48; dazu HENNE/CARSTEN KRETSCHMANN, Ein Mythos der Richterrechtsdiskussion: Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt (1885), Ius Commune – Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, Jg. 26 (1999), S. 211 ff. So nahezu zeitgleich zu Bülow BINDING, Strafgesetzgebung (Nachweis oben im Abschnitt II bei These 5), S. 14: „Was der Gesetzgeber nicht will, der Theoretiker nicht darf, das grade ist sein [des „Richtertums“] Amt. Sein Urteil aber ist zugleich ein Akt wissenschaftlicher und ein Akt gesetzgeberischer Thätigkeit.“


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aber blieben Rechtspraktiker und -anwender außen vor und mußten sich notwendig ihre eigenen Kommunikationsräume schaffen; eben jene Praktikerkommentare, die erst Jahrzehnte später, umfassend wohl erst in der Bundesrepublik, wieder „verwissenschaftlicht“ wurden, will heißen: Umfassend von universitären Autoren geprägt wurden. V. Zwei Debatten um juristische Kommentarliteratur Über die Funktionsmechanismen der Kommentarliteratur und über ihre Prägung geben außerdem die Debatten um die zwei bisher stärksten Angriffe auf die gewohnten deutschen Kommentare Aufschluß. Ein Angriff auf die aktuelle Professionalisierung der Juristen muss ein Angriff auf die Form der Kommentarliteratur sein – das wußten erstens jene nationalsozialistischen Juristen, die außergesetzliche, völkisch ausgerichtete Rechtsänderungen nach 1933 beschleunigen wollten. Nationalsozialistische Rechtsprinzipien könnten dann, so die Argumentation, am schnellsten in der (Un-)Rechtspraxis wirksam werden, wenn sie nicht erst den Weg durch die bisherigen Kommentare nehmen müßten.49 Daher setzte eine Juristenelite um den Präsidenten des Reichsjustizprüfungsamtes, Otto Palandt, auf eine Kommentierung aus dem, wie es in der Werbung hieß, „Geiste der nationalsozialistischen Rechtsanschauung“.50 Wie sehr dies mit sonstigen Kontinuitäten der Juristenausbildung verbunden war, hat Ralf Frassek gezeigt.51 Die Diskriminierung und Entrechtung blieb – entgegen den gescheiterten Plänen der „Akademie für Deutsches Recht“ für ein „Volksgesetzbuch“52 – kommentargestützt. Nur die Referenzquelle wurde gewechselt, als jener Kommentar, der heute als „Palandt“ bekannt ist, den damals führenden53 Reichsgerichtsrätekommentar entmachtete und den ebenfalls bislang maßgebenden „Achilles-Greiff“,

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In diesem Sinne z.B. HELMUT SEYDEL, Der Kommentar, Deutsches Recht, Jg. 1936, S. 189 ff. mit dem Ziel, „die Form des Kommentars grundsätzlich kritisch [zu] betrachten.“ (S. 189). Denn, so Seydel, „wir sehen den eigentlichen Gehalt des Gesetzes in seinem Vorspruch“ (S. 190), so daß er eine Form des Kommentars fordert, „die durch Einleitung und systematische Vorbemerkung die Bindung an das Gesetzeswort lockert“ (S. 192). Ähnlich J.W. HEDEMANN, Anregungen zur Rechtserneuerung. Soll es mit den Kommentaren so weitergehen, in: Deutsches Gemein- und Wirtschaftsrecht, Jg. 1936, S. 140 ff. Das Zitat aus der Werbung in der Umschlaginnenseite von OTTO SCHWARZ, Strafgesetzbuch, 5. Aufl. 1938. Zu Palandt ausführlich und materialreich: KLAUS SLAPNICAR, Der Wilke, der später Palandt hieß, NJW 2000, S. 1692 ff.

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RALF FRASSEK, Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung (ZRG GA) Bd. 111 (1994), S. 564 ff.; DERS., Steter Tropfen höhlt den Stein – Juristenausbildung im Nationalsozialismus und danach, ebd., Jg. 1997, S. 294 ff.; DERS., Juristenausbildung im Nationalsozialismus, Kritische Justiz, Jg. 2004, S. 85 ff. 52 Dazu HANS HATTENHAUER, Das NS-Volksgesetzbuch, in: Arno Buschmann u.a. (Hrsg.), Festschrift Gmür, Bielefeld 1983, S. 255 ff. 53

Noch 1935 und also lange nach Reichstagsbrandprozeß, bei dem Verlauf und Ergebnis aus NS-Sicht skanalös waren und der deshalb eine wesentliche Schwächung des Reichsgerichts bewirkte, stellte ein Rezensent fest: Daß der Reichsgerichtsrätekommentar „die Praxis beinahe zu beherrschen scheint, kann wohl nicht bezweifelt werden.“ (W[OLFGANG] SIEBERT, Deutsches Recht, Jg. 1935, S. 138).


HENNE, Die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur – Vortrag 02.06.2006, Berlin

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der sich den neuen Rechtsprinzipien nach 1933 wohl eher langsam öffnete,54 in die Bedeutungslosigkeit stürzte. Die inzwischen langjährig etablierte Macht einer Referenz selbst aber war nicht zum Einsturz zu bringen. Selbst die nationalsozialistischen Rassegesetze kamen alsbald in die Hände von sogar mehreren Kommentatoren.55 Wie sich „der Palandt“ nach 1945 selbst entnazifizierte (oder auch gerade nicht), wäre im übrigen ein ergiebiges Thema für eine Dissertation. An dieser Stelle wäre das Reflexionspotential von Debatten über Kommentare aus den 1970er Jahren hilfreich, doch wurde dieses so zentrale Element des juristischen Diskurses, soweit ersichtlich, kaum zum Gegenstand von Analysen. Erst die Alternativkommentare starteten in den 1980er Jahren den zweiten größeren Angriff auf die etablierten Kommentare. Dass dem keine Debatte über Kommentare, ihre Form und ihre Funktion, voranging, sondern diese Debatte erst in Rezensionen über die Alternativkommentare entstand,56 mag einer der Gründe dafür sein, daß diese Kommentare weitgehend Episode blieben. Die Macht der Referenz und ihrer etablierten Standards blieb ungebrochen. Die ungeschriebenen Regeln juristischer Kommunikation durch Kommentare zu missachten, war noch keine Subversion. Die in einigen Rezensionen zu den Alternativkommentaren entfachte Debatte blieb daher relativ kurz und unaufgeregt. Die diskursive Praxis blieb weitgehend unverändert, sieht man von der inzwischen wohl allgemein durchgesetzten Verfassungsbezogenheit der Kommentare ab. Merkwürdig unaufgeregt hingenommen wird bei Kommentaren auch die Marktdominanz des C.H. Beck-Verlages. Es wird im Münchener Verlag entschieden, welche Kommentartypen die Juristen prägen, und mit großem Geschick werden potentielle Kommentatoren vom Markt genommen. Der Marktführer legt inzwischen in seiner Handreichung für Autoren jener Online-Kommentierung fest. „Die Inhalte von Beck Online sowie der Printwerke aus den Verlagen C.H. Beck/Vahlen sind in der Online-Kommentierung vorrangig zu zitieren.“57 Vielleicht müsste mein Vortragstitel also in einigen Jahren lauten: „Die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur des C.H. Beck-Verlages“.

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Bei ACHILLES-GREIFF, Bürgerliches Gesetzbuch, 14. Aufl., Berlin 1937 (!), vor § 1, kann man – nach vier Jahren NS-Herrschaft – lesen: „Eine Rechtsverschiedenheit begründet nach dem BGB nur das Geschlecht […], aber weder […] das religiöse Bekenntnis […] noch die Rasse. Trotzdem ist der neuerkannten Bedeutung der Rasse auch im Rahmen des BGB Rechnung zu tragen […]“. Es folgt eine relativ kurze Aufzählung von Normen und Reichsgerichtsentscheidungen, die aber soweit ersichtlich z.B. kaum in die Kommentierung zu § 138 BGB eingearbeitet sind. BERNHARD LÖSENER / FRIEDRICH KNOST, Die Nürnberger Gesetze […], 1.-5. Aufl., Berlin 1936-42; HANS GLOBKE / WILHELM STUCKART, Reichsbürgersetz, München 1936. Dazu jetzt umfassend CORNELIA ESSNER, Die „Nürnberger Gesetze“ oder die Verwaltung des Rassenwahns 1933-1945, Paderborn 2002. WOLFGANG ZÖLLNER, Das Bürgerliche Recht im Spiegel seiner großen Kommentare, JuS 1984, 730 ff., 821 ff., 985 ff.; W. HENCKEL, Zum gegenwärtigen Stand der Kommentarliteratur des Bürgerlichen Gesetzbuches, JZ 39 (1984), 966 ff.; WERNER FLUME, Die Problematik der Änderung des Charakters der großen Kommentare […], JZ 40 (1985), 470 ff. (zur 2. Aufl. des Münchener Kommentars zum BGB). Seite 4 eines Rundschreibens vom 21.2.2006 an „Herausgeber, Autorinnen und Autoren“ des geplanten Online-Kommentars zum Grundgesetz.


HENNE, Die Prägung des Juristen durch die Kommentarliteratur – Vortrag 02.06.2006, Berlin

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Die vielen Facetten des Themas scheinen mir also so zentral wie bislang wenig beleuchtet. Der erwähnte workshop hat ein erstes Licht ins Dunkel gebracht; eine Tagung dazu soll folgen. Vorerst aber bitte ich um – Ihre Kommentare. VI. Epilog: Selbstreferentialität Wem all das zu lang war: Es gibt auch eine einfachere und kürzere Antwort auf die Frage am Anfang des Textes, warum Kommentare in der Rechtspraxis verwendet werden müssen. Die Antwort steht (natürlich) im „Palandt“ selbst – der Marktführer erklärt selbstreferentiell und mit feiner Ironie die eigene Verbindlichkeit: „Der Rechtsanwalt hat grundsätzlich jeden Rechtsirrtum zu vertreten […] Er muss den Palandt einsehen.“58

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Palandt-HEINRICHS, BGB, 65. Aufl., München 2006, § 280 Rn. 68 mit Verweis auf FRANZ-JOSEF RINSCHE, Die Haftung des Rechtsanwalts, 7. Aufl., Köln 2005, S. 118. Die Abkürzungen sind im obigen Zitat aufgelöst.


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