Bolero Magazin

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Urknall

der modernen Kunst

Inspiration Istanbul – Die Stadt am Bosporus befindet sich auf der Überholspur. Türkische Künstler und Designer sorgen für Furore. Ein Ort voller Chaos, Widersprüche, das Leben wird einem hier nicht leicht gemacht, das Schaffen schon. Die Welt schaut auf Istanbul und seine Kunstszene. Die moderne Kunst boomt am Bosporus. Gefördert durch private Mäzene.

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Istanbul. Ein übel zugerichteter Ort. Findet der Musikproduzent. Klaustrophobisch, lärmend, bedrückend. Meint die Schriftstellerin. Ein Ort, über dem die Geier kreisen. Sagt der Kurator. Istanbul. Welche Stadt, es gibt nur eine. Sagt Vasif Kortun, derselbe Kurator. Ein Blick genügt, und es ist um dich geschehen. Meint Perihan Magden, dieselbe Schriftstellerin. Ein magischer Ort, er verwandelt die Menschen. Findet Hasan Saltik, derselbe Musikproduzent. Ein gefundenes Fressen Istanbul überwältigt, Istanbul tut weh, kalt lässt es keinen. Die schönste Stadt, die hässlichste Stadt gleich zweier Kontinente. Eine der ältesten Städte Europas, vor allem aber: eine der jüngsten. Ein Ort voller Chaos, voller Widersprüche, voller Konflikt und Kampf. Das Leben wird einem hier nicht leicht gemacht, das Schaffen schon. Für die Kunst ist dieser Ort ein gefundenes Fressen, sie saugt aus diesem Kompost von Leid und Hoffnung, von Gewalt und Zärtlichkeit, von Macht und Ohnmacht, von Lüge und Heldentum, von blindem Verharren und weit mächtigerem, aber oft ebenso blindem Vorwärtsstürmen. Und wo der Kunst ein Festmahl gerichtet ist, wo die Schönheit schmerzt und wo ein ganzes Volk einen Purzelbaum schlägt, da ist das ein Spektakel, bei dem auch jene nicht mehr wegschauen wollen, die diesen Ort so lange vergessen hatten – wir – Istanbul ist wiederentdeckt. Die Welt merkt auf und schaut hin. Auf ein Land und eine Stadt im Aufbruch. Auf eine Generation junger Maler, Bildhauer, Videokünstler, Schriftsteller. «Die Szene brodelt», sagt die deutsche Kuratorin Gisela Winkelhofer. Seit drei Jahren besucht sie Istanbul regelmässig, hat Kontakte zu allen grossen Museen und Sammlern geknüpft. In diesen drei Jahren, meint sie, habe sich «Unheimliches getan». Vor drei Jahren, erzählt die Galeristin Yesim Turanli, habe sie die Bilder ihrer türkischen Künstler vor allem an türkische Kunden verkauft. Längst sind die Ausländer in der Mehrheit: Sammler, Kuratoren, Galeristen aus der Schweiz, aus England, aus den USA. Turanli erzählt vom vergangenen Jahr. Istanbul ist im Sommer eigentDie Modeszene in Istanbul.

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lich wie Paris: Von Juli an fällt die Stadt in einen tiefen Schlaf, fliegen ihre Bewohner aus. Im vergangenen Sommer aber war alles anders. Yesim Turanli machte zum ersten Mal keinen Urlaub, schloss ihre Galerie Pi-Artworks nicht – die Ausländer rannten ihr den Laden ein: Den ganzen Sommer über gaben sich Kunstsammler und -händler die Klinke in die Hand. In London, beim Auktionshaus Sotheby’s, haben sie die jungen Türken 2009 entdeckt. Ein Jahr später – Istanbul trug inzwischen den Titel «Kulturhauptstadt Europas» - ging dort die zweite Versteigerung moderner türkischer Kunst über die Bühne. Die Auktion trug den Titel «Entfesselt». Sie brachte 2,4 Millionen Pfund ein, mehr als das Doppelte des Vorjahres. Der Urknall Letztes Jahr, sagt Gisela Winkelhofer, «war hier der Big Bang». Der Urknall. Wo vor zehn Jahren keine Handvoll Galerien den Appetit neureicher Türken auf Wohnzimmerdekoration befriedigten, tummeln sich heute mehr als 200. Der Stadtteil Tophane, eben noch marodes Scherbenviertel und konservatives Arbeiter- und Handwerkerquartier, wurde praktisch über Nacht zum schicken Standort einer neuen Generation junger Galeristinnen.

da. Nicht für Ausstellungen, Konzerte und Symposien. Nicht für eine Konzerthalle, nicht für ein grosses Museum. Das ist Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, weil sich die Kunstwelt so die zudringlichen Ideologen und Zensoren aus der Bürokratie vom Leibe halten konnte. Ein Fluch, weil sie stattdessen dem Markt allein ausgeliefert ist. Museen mit Etat und öffentlichem Auftrag wie in der Schweiz gibt es nicht, es gibt kaum eine Debatte über das öffentliche Interesse an der Kunst. «Wenn wir hier einen starken öffentlichen Sektor hätten, dann würde der Markt einfach Dinge ausbalancieren», sagt Vasif Kortun, ein Veteran der zeitgenössischen Kunstszene und zwei Mal selbst Kurator der Istanbuler Biennale. «So aber diktiert der Markt alles.» Vasif Kortun gründete 2001 die bahnbrechende Kunstplattform der privaten Garanti-Bank (lange, bevor die Industriekapitäne ihr Herz für Kultur entdeckten, waren die Banken die wichtigsten Träger von Kunst und Literatur). Heute warnt Kortun. Der Boom, den die Verkäufer von Sotheby’s und die Istanbuler Galeristen so bejubeln, für ihn ist es «die Übernahme der Kunst durch die Finanzwelt». Ein Grauen. «Das korrumpiert», sagt er. Die Händler, die Sammler, die Journalisten, die mit einem Mal alle in Istanbul einfliegen, Vasif Kortun nennt sie «Kulturgeier»: «Die Leute werden eingeflogen und bewirtet in fünf-Sterne-Hotels mit Bosporusblick und alles, was sie sehen, ist Geld, ist Oberfläche. Mit unserem Leben, mit der wirklich guten Kunst hier hat das nichts zu tun.»

Warum Tophane? Weil hier, unten am Hafen, seit 2004 das Istanbul Modern steht. Bei seiner Eröffnung war es das erste der modernen Kunst gewidmete Museum der Türkei, seine Stiftung durch die reiche Unternehmerfamilie Eczasibasi war eine Initialzündung für die Alles nur Glitzer und Schein? Von einem «Hype» spricht auch Gisela Szene. Moderne Kunst in der Türkei, das ist bis- Winkelhofer. Die «Hardware Istanbul» lang eine Spielwiese reicher Mäzene. Ecza- habe nun mal das unverschämte Glück, sibasi hat das Istanbul Modern gegründet, einen jeden in ihren Bann zu schlagen: die Unternehmerfamilie Sabanci leistet sich dem vielstimmigen Gesang des Muezzin das engagierte Sabanci-Museum in Bilder- im Sonnenuntergang, dem Leuchten des buch-Bosporusidylle, die Familie Koç - die Bosporus, den durchtanzten Nächten in reichste Familie des Landes – sponsert die Lokalen, die überm Wasser schweben, mag sich kaum einer der Eingeflogenen entzieIstanbul Biennale. hen. Aber Hype hin oder her, Winkelhofer ist überzeugt: «In den nächsten zehn JahSegen und Fluch zugleich Der Staat? Fehlanzeige. Die Regierung hat ren wird Istanbul eine der Topadressen für sich das Grossereignis «Kulturhauptstadt zeitgenössische Kunst.» Und was muss bis 2010» unter den Nagel gerissen und gran- dahin noch passieren? Erst einmal, meint dios gegen die Wand gefahren, ansonsten die Kuratorin, müsse die Kunstszene ihre kommt von ihr nichts. Es ist kein Geld Provinzialität ablegen: «Wenn bei 70 Milli-

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onen Einwohnern bloss fünf Künstler über den Tellerrand raussehen, dann ist das zu wenig.» Vor allem am Marketing fehle es, aber das gelte überhaupt für das ganze Land: «Die Leute haben noch immer ein völlig falsches Bild von der Türkei. Die Türken können sich einfach nicht verkaufen.» Stimmt einerseits. Andererseits: Wie weit sollen sie denn nun gehen, mit dem Verkaufen ihrer selbst? «Die Szene muss extrem aufpassen, dass sie nicht von zu vielen Akteuren von ausserhalb übernommen wird», glaubt der Autor und Kurator Jens Hoffmann, der in San Francisco lehrt und


Das Istanbul Modern Museum wurde 2004 eröffnet.

Moscheen prägen das Stadtbild von Istanbul.

Die RAMPA-Galerie im Quartier Akaretler ist ein Neuzugang der Kunstszene.

steht von April an einer neuen Institution vor: Salt nennt sich das mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Unternehmen, das zugleich Archiv, Bibliothek und Ideenfabrik sein soll. Istanbul steht nicht still. Jens Hoffmann verbringt viel Zeit in Istanbul, seit er zum Kurator der Biennale bestellt wurde, die in diesem Jahr vom 17. September bis zum 13. November stattfinden Istanbul steht nicht still Und auch Marktkritiker Vasif Kortun sieht wird, er kennt Istanbul auch von früher. positive Entwicklungen. Ein Kunstraum «Ich habe alle Phasen durchgemacht», sagt wie das im vergangenen Frühjahr neu ge- er. «Ich habe die Stadt geliebt, dann so schaffene Arter verändere mit einem Schlag gehasst, dass ich nie mehr wiederkommen sämtliche Spielregeln. Auch Kortun selbst wollte, und jetzt liebe ich Istanbul wieder.»

Die Welt schaut auf Istanbul und seine Kunstszene. Die moderne Kunst boomt am Bosporus.

gemeinsam mit dem Brasilianer Adriano Pedrosa die diesjährige Istanbul Biennale kuratieren wird. Alle schielen auf Istanbul: «Es gilt einfach im Moment als einer der stärksten neuen Märkte für zeitgenössische Kunst.» Hoffmann schwärmt von der «Energie» der Stadt und ihrer Szene.

Fotos: L aurent Burst T e x t: K ai S trittmatter September 2013  | bolero

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