Giacomo Puccini (1858–1924)
La rondine (Die Schwalbe)
Lyrische Komödie in drei Akten
Libretto von Giuseppe Adami (1878–1946) nach einem deutschsprachigen Entwurf von Alfred M. Willner und Heinz Reichert
Ergänzende Texte in den Projektionen von Lotte de Beer und Peter te Nuyl
Uraufführung am 27. März 1917 im Opernhaus von Monte Carlo
Österreichische Erstaufführung am 9. Oktober 1920 an der Volksoper Wien Premiere am Mittwoch, den 10. April 2024
Musikalische Leitung
Regie
Co-Regie und Choreographie
Bühnenbild
Kostüme
Licht
Video
Dramaturgie
Alexander Joel
Lotte de Beer
Florian Hurler
Christof Hetzer
Jorine van Beek
Alex Brok
Roman Hansi
Peter te Nuyl
NEL FONDO
D’OGNI ANIMA
C‘È UN DIAVOLO
ROMANTICO
JEDE SEELE
BIRGT EINEN
ROMANTISCHEN
DÄMON
(Der Dichter Prunier)
La rondine (Die Schwalbe)
Magda, Kurtisane
Lisette, ihre Dienerin
Rambaldo, Magdas Gönner
Ruggero Lastouc, Sohn eines Freundes von Rambaldo
Prunier, ein Dichter
Périchaud
Gobin Freunde Rambaldos
Crébillon
Rabonnier, ein Maler
Yvette
Bianca Magdas Freundinnen
Suzy
Ein Butler
Gäste im Tanzlokal Bullier:
Ein junger Mann, Lolette, Georgette, Gabriella
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Handlung
Erster Akt
Paris, um 1860, in Magdas Salon
Der Dichter Prunier provoziert die Gäste mit seinen Ideen über die Liebe. Nur Magda glaubt an die romantische Liebe. Sie erzählt eine Geschichte, die selbst ihren unromantischen Wohltäter, den Bankier Rambaldo, berührt.Er schenkt Magda eine teure Perlenkette. Prunier macht sich Gedanken über den Widerspruch zwischen Magdas Glauben an die wahre Liebe und ihrer Tätigkeit als Kurtisane. Magdas Dienstmädchen Lisette kündigt Rambaldo einen jungen Mann an, der ihn sprechen möchte. Es ist Ruggero, der Sohn eines alten Freundes von Rambaldo. Prunier will Magda aus der Hand lesen. Seine Prophezeiungen sind doppeldeutig. Ihr Leben könnte so schön sein, wie das einer Schwalbe in der Sonne. Doch es drohen auch dunkle Wolken. Der junge Ruggero möchte wissen, wo man in Paris die Nacht zum Tage machen kann. Lisette schlägt das Tanzlokal Bullier vor. Die Gäste gehen und Magda bleibt allein zurück. Sie beschließt, selbst zu Bullier zu gehen, verkleidet als Arbeiterin. Lisette und Prunier treffen sich heimlich. Der Schriftsteller gesteht dem einfachen Mädchen seine Liebe, gleichzeitig zwingt er sie, ihre Garderobe komplett zu verändern, indem sie sich Kleidung von ihrer Herrin „ausborgt“, bevor er sich mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen will.
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Zweiter Akt
Im Tanzlokal Bullier
Junge Männer und Frauen verführen sich gegenseitig. Ruggero sitzt schüchtern an einem kleinen Tisch. Magda kommt herein. Sie wird sofort von Studenten belagert, die sie zum Tanzen auffordern. Magda weist sie zurück, indem sie so tut, als hätte sie eine Verabredung mit Ruggero. Die beiden tanzen, reden und küssen. Lisette und Prunier betreten das Lokal und mischen sich unter die Tanzenden.
Lisette erkennt Magda wieder. Sie spielen ein Spiel der Täuschungen miteinander. Es folgt ein Liebesquartett der beiden Paare. Ruggero ist fasziniert von dieser geheimnisvollen Frau. / Magda ist hin- und hergerissen zwischen Liebe und Gewissensbissen. / Lisette betet den Dichter an. / Prunier erschafft sich seine eigene Muse. Dann betritt der eifersüchtige Rambaldo das Tanzlokal. Prunier versucht, die Situation zu retten. Magda erklärt, dass zwischen ihr und Rambaldo alles vorbei ist. Eine
Stimme verkündet die Morgendämmerung und vertreibt den Zauber: Vertraue nicht auf die Liebe! Magda erzählt Ruggero von ihren Ängsten um ihre Zukunft. Ruggero nimmt sie in die Arme und gemeinsam verlassen sie den Ort.
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Dritter Akt
An der Côte d'Azur
Einige Monate später halten sich Magda und Ruggero in einer ruhigen Unterkunft am Meer auf. Ruggero ist überwältigt von seinem Glück. Magda verbirgt ihre Zweifel. Ruggero schreibt an seine Eltern und bittet sie um Geld und ihre Zustimmung, Magda zu heiraten. Magda erkennt, dass sie ihre Vergangenheit nicht länger verbergen kann. Prunier und Lisette haben die Unterkunft entdeckt. Lisette hat ein katastrophales Debüt als Theaterschauspielerin hinter sich und will wieder für Magda als Dienstmädchen arbeiten. Im Namen Rambaldos richtet Prunier Magda aus, dass sie nicht weiter eine Lüge leben kann. Sie muss in ihr altes Leben nach Paris zurückkehren, so wie Lisette in ihr Leben als Dienstmädchen zurückkehrt. Ruggero stürmt mit einem Brief seiner Mutter herein. Sie ist mit der Heirat einverstanden, solange die Braut ein anständiges Wesen ist. Magda kann seinen Antrag nicht annehmen. Sie offenbart ihm ihre Vergangenheit. Ruggero will es nicht hören. Ihn packt heftiger Kummer. Magda nimmt Abschied von ihrer einzigen wahren Liebe und reist mit unbekanntem Ziel ab.
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Storie! Storie!
Bloße Worte!
Bloße Worte!
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ANCHE VOI, COME LEI, MAGDA DOVRETE SE NON OGGI, DOMANI
ABBANDONARE
UNA ILLUSIONE CHE CREDETE VITA...
AUCH DU, MAGDA, MUSST, WENN NICHT HEUTE, DANN MORGEN, EINE ILLUSION
AUFGEBEN, DIE DU FÜR
DAS LEBEN HÄLTST ...
(Der Dichter Prunier)
Es ist immer noch ein Luxus, seinem Herzen folgen zu können.
Dramaturg Peter te Nuyl im Gespräch mit Regisseurin Lotte de Beer
Peter te Nuyl Lotte de Beer
Du hast einmal gesagt: „Puccini wollte keine Operette schreiben, tat es aber trotzdem“. In welchem Sinne ist La rondine eine Operette?
Das Erste, das auffällt, ist der leichte, tänzerische Charakter der Musik. Eine der musikalischen Bezeichnungen ist „Quasi Valzer“, als ob wir einen Walzer hören würden. Diesen Wiener Ursprung des Librettos kann man förmlich riechen. Und die stärkste Assoziation mit dem Genre Operette liegt für mich im ironischen Wesen der Musik. Die Geschichte steuert auf ein tragisches Ende zu, aber man hat doch stets das Gefühl, dass nicht alles ganz so ernst genommen wird. Das Liebespaar kann nicht glücklich werden, aber die weibliche Hauptfigur stirbt nicht, wie man es in einem solchen Drama erwarten würde. Sie verlässt ihn, wir wissen nicht, wohin. Das Stück ist schlussendlich ein Zwischenfach. Manchmal befinden wir uns mitten in einem typischen Puccini-Drama, manchmal denkt man aber auch: das kann unmöglich ernst gemeint sein. Und am Ende haben weder Puccini noch die Librettisten eine Wahl getroffen. Dass drei verschiedene Versionen des Schlusses existieren, zeigt, dass auch Puccini selbst es nicht für sich zu klären vermochte. Und das erklärt vielleicht, warum das Stück so unpopulär ist. An der Musik liegt es nicht, sie ist schön und kraftvoll, so facettenreich und vielschichtig, so menschlich, ein echter Puccini eben. Doch das Libretto ist ein Mix aus Opernklischees und vor allem ein Übermaß an dem Sexismus des 19. Jahrhunderts. Eine „gefallene” Frau, eine sogenannte Kurtisane (eine vornehme Sexarbeiterin, genau wie Violetta in La Traviata),
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verliebt sich in einen noblen, unschuldigen jungen Mann vom Land; und ein brillanter Dichter verliebt sich gegen seinen Willen in ein einfaches Dienstmädchen.
Das tragisch-romantische Paar gelangt zu der Erkenntnis, dass ihre Liebe unmöglich ist, weil sie eine „verdorbene“ Vergangenheit hat; und das komische Paar entdeckt, dass seine Liebe nicht funktioniert, weil sie sich nie auf sein Niveau wird begeben können. Es endet also für alle hoffnungslos, aber nicht lebensbedrohlich. Und dann noch gespickt mit sexistischen, abfälligen Bemerkungen über Frauen. Zum Beispiel eine Gruppe von Studenten, die um eine junge Frau herumstehen, sie hin und her schubsen und sagen: „Den sie berührt, der kann sie haben!“
Wie kann man sich als Regisseurin dazu verhalten?
Und wie als Frau und übrigens auch Mann unserer Zeit?
Zwei Fakten des Stücks haben mir darauf eine Antwort gegeben: erstens die Musik selbst. Es scheint – und vielleicht ist es auch wirklich so – als ob Puccini diesen Klischees aus dem 19. Jahrhundert eine ironische Patina verpasst hätte. Wir sollten uns bewusst machen, dass er dieses Stück zwischen 1913–1917 geschrieben hat, als das 19. Jahrhundert schon vorüber war. Er blickt darauf zurück. Puccini ironisiert sein eigenes Genre, er spielt damit. Er ist eine Übergangsfigur zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, er zwinkert uns zu, es ist sein guilty pleasure. Er nimmt sich vielleicht auch ein wenig selbst auf die Schaufel. Er war ein Womanizer Mitte Fünfzig, ein gewisses Maß an Selbstreflexion wird ihm nicht fremd gewesen sein.
Der zweite Punkt ist, dass Prunier, der Mann des BuffoPaares, Dichter ist. Ein Dichter, der über die Liebe schreibt, darüber, ob es so etwas wie romantische Liebe überhaupt gibt oder ob jede Form von Liebe von Eigeninteressen und Opportunismus abhängig ist. Somit stellt also eine Figur aus dem Stück selbst das Thema des Stücks in Frage. Wir haben den Dichter zum Urheber von allem gemacht, was
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auf der Bühne passiert. Wir sehen Prunier schreiben, wir sehen seinen Text erscheinen, und wir sehen, wie das, was er schreibt, auf der Bühne geschieht. Doch an einem bestimmten Moment entdeckt auch das Dienstmädchen Lisette, dass sie eine Figur in Pruniers Stück ist. Und sie greift in den frauenfeindlichen Kosmos des genialen Dichters ein. Sie widersetzt sich dem Drehbuch ihres Lebens, schreibt Situationen um und gibt uns eine andere Perspektive. Und am Ende des Stücks erklärt sie uns, warum Magda nicht stirbt. So ist es uns möglich, die Ironie der Musik sichtbar zu machen, anstatt uns in einem Text zu verlieren, den wir nach unseren Maßstäben nicht mehr ernst nehmen können.
Die bedeutende englische Regisseurin Katie Mitchell hat vor, die Opernregie an den Nagel zu hängen, weil sie es leid ist, gegen die Frauenfeindlichkeit anzukämpfen.
Ich denke, dass es – auch nach drei feministischen Wellen –in allen Schichten und Bereichen unserer Gesellschaft immer noch verschiedene Grade der Geschlechterdiskriminierung gibt: vom Nicht-Ernst-Nehmen der Frauen bis hin zu echter Frauenfeindlichkeit. Der Ruf nach starken Männern wie Trump und Putin könnte durchaus eine Reaktion auf diese drei feministischen Wellen sein und auf eine Entwicklung, in der viele Männer auch nicht mehr das machohaften Alphamännchen sein wollen. Ich habe volles Verständnis für die Ermüdung, die Katie Mitchell offensichtlich ergriffen hat, doch sehe ich darin einen Grund mehr, aus meiner Führungsposition als Regisseurin wie auch als Intendantin heraus, das Bewusstsein für solche Prozesse weiter zu schärfen.
Gegen die Kultur der Benachteiligung, der Diskriminierung –sowohl in den Stücken, die wir bringen, als auch am Arbeitsplatz – müssen wir etwas tun. Dabei müssen wir aber auch die Kunst selbst bewahren, einschließlich aller patriarchalen Narrative.
Wenn man Oper inszeniert, verhält man sich zur
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Peter te Nuyl Lotte de Beer
Peter te Nuyl Lotte de Beer
Vergangenheit, zu UNSERER Vergangenheit. Sicher achtzig Prozent der Stücke aus früheren Jahrhunderten spielen wir nicht mehr. Was wir noch spielen, hat die Geschichte überlebt, weil es einen Ewigkeitswert hat, weil es mit dem zu tun hat, was wir sind und was wir für wichtig halten. Und vielleicht auch gerade deshalb, weil es uns zeigt, was wir nicht sein wollen, wofür wir uns schämen, wer wir gewesen sind, woher wir kommen. Das Theater ist unser Gesprächspartner. Jemand auf Augenhöhe, jemand, der nicht einfach nur ja und amen sagt. Meisterwerke sollte man nicht verbannen oder sie in einer überholten Interpretation eingefrieren. Man muss sie immer wieder lesen, man muss sie lebendig halten, indem man sie immer wieder neu interpretiert, aus der eigenen Gegenwart heraus.
In der Opernliteratur gibt viele schwache Libretti, die aufgrund einer meisterhaft guten Musik überleben.
Ein geniales Libretto mit schwacher Musik überlebt die Jahrhunderte nicht. Der Komponist Mauricio Kagel sagte: „Ein Text ist ein Prätext für einen Kontext.“
Ein Libretto ist per Definition ein Halbprodukt. Ein Opernlibretto muss spärlich sein, muss genug Raum lassen, um von der Musik belebt zu werden. Ein Komponist hat seine eigene Geschichte, seine eigene Vision, seine eigene Tiefe. Und diese Noten dringen direkt in unsere Seelen ein. Die Handlung und der Text sind ein Träger für die Bedeutungsebene, die durch die Musik vermittelt wird.
Peter te Nuyl Lotte de Beer
Du sprachst von einer ironischen Patina, die Puccini in die Musik legt. Findet dadurch auch eine Ironisierung des romantische Paars und seiner Liebe statt?
Nein, nicht durch Puccini, und nicht durch uns. Wenn man diese Liebe ironisieren würde, läuft sich das in zehn Minuten tot. Das funktioniert bei einem Sketch, aber nicht bei einer zweistündigen Geschichte. Man muss ihre Geschichte
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Peter te Nuyl Lotte de Beer
glaubwürdig machen, diesen schönen Gesanglinien kann man nicht ihre zutiefst menschlichen Bedeutung wegnehmen. Magda und Ruggero glauben an den Weg, den sie in dieser Geschichte gehen. Ihre Erinnerung an ihre frühe Jugendliebe und ihr Dilemma in ihrer derzeitigen Situation können nur echt sein. Ich muss und will das ernst nehmen.
Magda erkennt, dass Ruggero sie zurückweisen wird, wenn ihre Vergangenheit als Prostituierte bekannt wird. Und selbst wenn er das nicht tut, wird sie in seinen Kreisen, in seiner Familie, nicht akzeptiert werden. Das bedeutet nicht nur, dass sie selbst eine Ausgestoßene sein wird, sondern auch, dass sie ihn mit hineinziehen wird, und, dass ein mögliches Kind ein Ausgestoßenes sein wird, sobald es auf der Welt ist. Und diese Verantwortung will sie nicht übernehmen. Sie versteht, was die harte Realität in dieser Gesellschaft ist: Erst das Fressen, dann die Moral. Sie entkommt dem nicht.
Die harte Realität von 1860, der Zeit, in der das Stück spielt, oder die von 1913, als das Stück geschrieben wurde – lässt es sich für uns heute noch nachvollziehen?
Gesellschaftliche Klassen sind heutzutage weniger scharf definiert, aber die Unterschiede sind nicht weniger groß. Als Magda im ersten Akt eine teure Halskette von ihrem „Sugar-Daddy“ Rambaldo annimmt, dann nicht, weil sie auf Luxus und Reichtum aus ist. Sie erkennt, dass sie nicht immer Kurtisane bleiben kann und, dass sie später ein Jahr lang von dieser Kette leben kann. Das hat gar nichts Romantisches, hier klopft Brecht an die Tür.
Ruggero kommt aus einer privilegierten Familie – er klopft bei seinen Eltern an, um Geld zu bekommen, er kann es sich leisten, unschuldig und naiv zu sein, er muss die Härte des Daseins gar nicht erst kennenlernen. Selbst in unserer Zeit ist es noch ein Luxus, seinem Herzen folgen zu dürfen. Magda hingegen kennt die harte Wirklichkeit und kann nicht anders, als ihn damit zu konfrontieren. Dass er sie
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Peter te Nuyl
gerade in dem Moment, als sie vorhat, ihm von ihrer Herkunft zu erzählen, aufhält, ist spannend. Er will es nicht hören, er will diesen Schmerz nicht ertragen, er will seine Augen nicht für die Realität öffnen.
Die Figur des Dichters Prunier basiert lose auf dem italienischen Schriftsteller Gabriele d'Anunzio, der sich selbst als den besten Dichter seit Dante bezeichnete. Du zeigst uns seine Perspektive, wir sehen die Geschichte in seiner Schreibmaschine entstehen. Aber wir sehen auch den Widerstand einer seiner Figuren gegen seine Genialität. Was verstehst du unter dem Begriff Genie?
Lotte de Beer
Peter te Nuyl
Lotte de Beer
Genialität wurde lange Zeit als etwas typisch Männliches angesehen. Und es wurde als Identität verstanden: Er IST genial, anstatt dass er geniale Dinge tun kann. Und in Folge davon wird daraus eine Entschuldigung für überlegenes und schäbiges Verhalten. In gewissem Sinne wird das Genie von den Menschen gemacht, die zu ihm aufschauen. Der geniale Komponist, der geniale Dirigent, der geniale Regisseur. Das ist etwas, das dieser Kunstgattung des 19. Jahrhunderts anhaftet, ja, dem ganzen Opernbetrieb. In den letzten zehn Jahren ist es besser geworden, aber in den Anfängen meiner Arbeit als Assistentin saß ich in vielen Proben, in denen Menschen fertiggemacht wurden, unter dem Deckmantel des künstlerischen Genies. Genies sind kleine Kinder im Supermarkt, die schreiend auf dem Boden liegen, weil sie kein Eis bekommen.
Nach Bohème und Trittico ist dies deine dritte PucciniInszenierung. Wie ist es, bei Puccini Regie zu führen?
Es ist großartig und schwierig zugleich. Man braucht sich „nur“ an die Partitur zu halten. Alle Informationen über die Figuren stehen in der Partitur: wie blickt eine Figur, wie schlägt ihr Herz, wohin gehen ihre Gedanken, wo sind die Übergänge, die Impulse, all das steht in den Noten. Wenn man das beachtet und ihm Ausdruck verleiht, hat
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man interessante, runde Figuren. Auf der anderen Seite ist das auch eine Einschränkung. Die Textdichte ist bei Puccini sehr hoch, also ist auch das Tempo, in dem man all diese Übergänge und musikalischen Impulse in dramatische Handlung umsetzen muss, hoch. Das lässt wenig Raum für eine zweite Interpretationsebene, wie man sie bei Verdi durchaus hat.
Puccini reiht keine Hits aneinander, er schreibt wirklich Musiktheater, im wahrsten Sinne des Wortes, und das ist für einen Regisseur eine gewaltige Herausforderung und ein warmes Bad zugleich. Selbst wenn das Stück keinen fixen Kern hat, fühlt man sich von Puccinis makelloser dramaturgischer Einsicht und Vision immer gestützt.
OGNI TUO BACIO
OGNI TUO SGUARDO
È UNA FACILE RIMA.
JEDER DEINER KÜSSE
IST EIN VERS, JEDER DEINER BLICKE
EIN KLEINER REIM.
(Der Dichter Prunier)
È UNA STROFA
Die Wiener DNA steckt in den Lebensadern dieses Stücks
Dramaturg Peter te Nuyl im Gespräch mit Alexander Joel
Du hast beinahe alle Puccini-Opern schon einmal dirigiert, darunter auch etliche La-bohème-Vorstellungen an der Volksoper. Was ist da zwischen dir und Puccini?
Um ehrlich zu sein – und ohne einen anderen Komponisten in den Schatten stellen zu wollen – ist Puccini mein liebster Opernkomponist. Als Student bin ich in jede PucciniAufführung gegangen, die ich finden konnte. Ich dachte: Wenn ich La bohème nur ein einziges Mal dirigieren kann, dann wäre ich schon glücklich. Was soll ich sagen, in den vergangenen 25 Jahren habe ich allein dieses Werk an die 140-mal dirigiert. Bis auf La fanciulla del West und Le Villi habe ich alle Puccini-Opern schon musikalisch geleitet. Ich liebe seine Musik!
Aber es ist natürlich unmöglich zu sagen, aus welchem Grund die große Liebe die große Liebe ist. Er ist sehr schlau im Einsatz seiner musikalischen Farben. Die Harmonien sind umwerfend, wahnsinnig lebendig. Er arbeitet mit Leitmotiven, aber nicht so kompliziert wie Wagner oder Richard Strauß, sondern viel verspielter und wirkungsvoller. Und zu guter Letzt: Sein Sinn für Dramatik ist unfassbar brillant; sein dramaturgisches Timing hervorragend. Er machte seinen Librettisten das Leben schwer, indem er ein exaktes Timing für alle Übergänge einforderte, auch die emotionalen Übergänge der Figuren.
Kurzum: Er ist ein Genie, einer der wenigen Komponisten, die nicht Musik zu Text schrieben, sondern echtes Musiktheater. Manche Menschen – und gar nicht wenige Musiker:innen – halten Puccini für billig und kitschig, aber das hieße, ihn zu unterschätzen.
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Peter te Nuyl Alexander Joel
Peter te Nuyl
Alexander
Joel Peter te Nuyl
Alexander
Joel Peter te Nuyl
Alexander Joel Peter te Nuyl
Ist er für dich ein Komponist der Romantik, oder einer des 20. Jahrhunderts?
Nun ja, seine Wurzeln liegen in der Tradition der italienischen Romantik des 19. Jahrhunderts, aber wenn man ihn nur aus dieser Perspektive heraus spielt, tut man ihm Unrecht. Man kann die dissonanten Harmonien und die anderen Elemente des 20. Jahrhunderts nicht so einfach außer Acht lassen. Hätte er die Zeit gehabt, nach Turandot weiterzuarbeiten, hätte er vielleicht einen dritten Weg neben Schönberg und Strawinsky für die Musik des 20. Jahrhunderts geschaffen. Man kann ihn sogar als Verbindungsglied zwischen Oper und Kino betrachten. Vergiss nicht, kein Opernkomponist hat so viele Wörter pro Minute Musik „verbraucht“. Sein Umgang mit Text kommt tatsächlich dem Sprechtheater oder dem Film nahe. Und er wiederholt kaum etwas. Diese Art, mit Text umzugehen, ist überhaupt nicht romantisch.
Da La rondine relativ unbekannt ist, könnte man denken, dass es sich um ein Frühwerk handelt. Doch damit liegt man falsch, es entstand relativ spät in seinem Schaffen, zwischen Fanciulla und Trittico
Witzigerweise gibt es sogar eindeutige Zitate von Trittico in La rondine.
Oder vielleicht umgekehrt?
Absolut möglich, ja. Puccini arbeitete parallel an diesen beiden Stücken. Und doch ist La rondine einzigartig in seinem Gesamtwerk. Es gibt viel mehr Tänze als in jedem anderen seiner Werke: Walzer, Foxtrott, One Step und noch viel mehr.
Aha, ist es also doch eine Operette?
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Kommt ganz darauf an, was deiner Meinung nach das entscheidende Kriterium für das Genre ist. Gesprochener Dialog, Tänze als musikalisches Format, Happy End …
Ist es eine Operette, ist es eine Oper? La rondine liegt wohl irgendwo in einer Grauzone. Natürlich, die Grundlage ist ein Libretto der beiden Wiener Schriftsteller Willner und Reichert. Der Auftrag des Wiener Carltheaters bestand darin, eine Operette im Wiener Stil mit gesprochenen Dialogen zu verfassen. Das lehnte Puccini ab, und nach Beginn des Ersten Weltkrieges kam eine Uraufführung in Wien nicht mehr in Frage und er zog seinen eigenen italienischen Librettisten Adami zum Projekt hinzu. Aber irgendwie steckt die Wiener DNA noch in den Lebensadern dieses Stücks.
Du hast Puccini vorhin einen brillanten Dramaturgen genannt. Er wisse genau, wie man Spannung aufbaut. Doch dann fügt er in der zweiten Fassung des Stücks aus irgendeinem Grund eine Arie für Ruggero im ersten Akt ein, und die fühlt sich seltsam fehl am Platz an. Das Drama friert plötzlich ohne erkennbaren Grund ein.
Alexander
Joel Peter te Nuyl
Das ist einer der Gründe, warum wir uns für die Originalversion von 1917 entschieden haben. In der gibt es diese Arie nicht. Was interessant ist: Puccini hatte große Probleme mit diesem Stück und konnte sich nie wirklich auf eine fertige Version festlegen. Das könnte der Grund dafür sein, dass La rondine nicht so oft gespielt wird. Er fand nie zum tragischen Kern – auch nicht zum komischen Kern, wenn wir schon dabei sind –, das wir aus seinen anderen Werken kennen.
Puccini kämpfte wohl hauptsächlich mit dem Ende. Das hat vielleicht mit der Grauzone zwischen Oper und Operette zu tun, in der das Werk liegt. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
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Alexander Joel
Eins steht fest: In keiner Version gibt es ein Happy End. In einer Version verlässt Magda Ruggero, weil sie überzeugt ist, dass ihre zweifelhafte Vergangenheit einer Heirat im Wege steht. In einer anderen wünscht sie sich, in die verruchte Halbwelt zurückzukehren, aus der sie kommt. In einer weiteren Version erfährt Ruggero durch einen anonymen Brief von Magdas Vergangenheit und verlässt sie. Und es gibt sogar eine Version, die nach Puccinis Tod zusammengestellt wurde, in der Magda wie eine echte Opernheroin stirbt und ins Meer geht. Und das Merkwürdige ist: In all diesen Versionen ist die Musik im Grunde die gleiche. Nur der Text ist anders. Meiner Meinung nach zeigt das, dass Puccinis Herz nicht mehr wirklich bei diesem Projekt war. Seine Musik dient sonst immer dem Drama. Ein anderes Ende würde eigentlich eine andere Musik erfordern.
Wir haben für unsere Aufführung an der Volksoper die Originalfassung von 1917 als Ausgangspunkt genommen, den Schluss jedoch leicht geändert. Puccini gibt am Ende seiner Opern regelmäßig eine Art musikalische Reminiszenz. Butterfly, Tosca, Bohème, Turandot, alle enden mit einem oder mehreren der Hauptleitmotive des jeweiligen Stücks. Und dieses Prinzip wenden wir nun auch an. Ganz im Sinne Puccinis habe ich ein paar der Hauptmotive des Stücks zu einer musikalischen Reminiszenz collagiert. Jede Note stammt aus der Oper selbst. Wer die Oper nicht kennt, wird es nicht einmal bemerken. Das gab unserer Regisseurin Lotte de Beer den Raum, das Ende entsprechend ihrer Lesart des Stücks zu interpretieren. Das Ende werde ich jetzt natürlich nicht verraten, aber es ist musikalisch und theatralisch eine Hommage an Puccini und seine Heldinnen ...
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Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria Puccini
LA DONNA CHE CONQUISTA
DEV'ESSERE RAFFINATA, ELEGANTE, PERVERSA...
DEGNA INSOMMA DI ME: GALATEA, BERENICE, FRANCESCA, SALOMÈ!
DIE FRAU, DIE MICH BEGEISTERT, IST KULTIVIERT, ELEGEANT, TEMPERAMENTVOLL …
KURZ GESAGT, WIE ICH:
GALATEA, BERENICE, FRANCESCA, SALOMÈ!
(Der Dichter Prunier… oder Puccini)
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Abendzettel für die zweite Aufführung von La rondine an der Volksoper am 10. Oktober 1920
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Die Suche nach dem verlorenen Buch
Wo ist Die Schwalbe hingeflogen?
Marie-Theres Arnbom
Wien, Oktober 1920. In der Volksoper findet die deutschsprachige Erstaufführung von Giacomo Puccinis La rondine statt. Die Kritiken stellen besonders den Text in den Vordergrund: Das Libretto ist „in ein Deutsch zurückübersetzt wurden, von dem man nur hoffen kann, daß es nicht auch schon das ursprüngliche gewesen ist.“1 So David Josef Bach in der Arbeiter-Zeitung. „Wie das ursprüngliche Deutsch des Buches war, entzieht sich unserer Kenntnis. Das gegenwärtige ist barbarisch,“2 stellen die Signale für die musikalische Welt entsetzt fest. Auch das Salzburger Volksblatt vertritt eine ähnliche Meinung: „Das Buch ist geradezu vor der ganzen Welt beschämlich, ist eine Sammlung von Banalitäten.“3
Wie kann das geschehen?
Gehen wir ein paar Jahre zurück. Giacomo Puccini und Franz Lehár sind befreundet, der eine bewundert den anderen. Puccini will eine Operette, Lehár hingegen eine Oper komponieren. In welcher Sprache kommunizieren die beiden eigentlich? Die Antwort gibt Anton Lehár, der Bruder von Franz. Er berichtet über ein gemeinsames Abendessen und bemerkt, wie Stefan Frey in seiner Lehár-Biografie schreibt, dass Lehár einigermaßen gut Italienisch, Puccini hingegen so gut wie kein Deutsch spricht. Puccini besucht 1913 eine Operettenaufführung im Carltheater und meint
1 David Josef Bach, Arbeiter Zeitung, 10.10.1920
2 Dr. Ferdinand Scherber in Signale für die musikalische Welt, 3.11.1920
3 Salzburger Volksblatt, 11.10.1920
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zum Direktor Siegmund Eibenschütz, er würde „so etwas“ auch gerne machen. Eibenschütz, zugleich Verleger, hat sogleich ein Libretto bei der Hand, geschrieben von Alfred Maria Willner und dessen Assistenten Heinz Reichert: Die Schwalbe.
Willner zählt bereits zu den erfolgreichsten und renommiertesten Librettisten. Eigentlich Jurist, arbeitet als Feuilletonist für das Wiener Salonblatt und verfasst Opernlibretti für Ignaz Brüll und Carl Goldmark. Doch bereits 1897 wendet er sich der Operette zu und schreibt für Johann Strauß den Text zu Die Göttin der Vernunft Der erste große Erfolg stellt sich 1907 mit Leo Falls Die Dollarprinzessin ein, gemeinsam mit Fritz Grünbaum verfasst er das Libretto. Und bald kommt es zur langjährigen Zusammenarbeit mit Franz Lehár: Graf von Luxemburg, Zigeunerliebe und Eva sind bereits geschrieben, als Puccini 1913 das Carltheater besucht. Willner bleibt produktiv und fleißig. Er stirbt 1929 – ein Nachruf wird mit „Der Autor der hundert Libretti“ übertitelt. Heinz Reichert, fast 20 Jahre jünger, macht eine ähnlich erfolgreiche Karriere und schreibt gemeinsam mit Autoren wie Fritz Grünbaum, Viktor Léon oder Rudolf Österreicher zahlreiche Libretti, oftmals für Franz Lehár.
Eine Kette von Übersetzungen
Gemeinsam schreiben sie also Die Schwalbe. Doch die Politik macht aus Kollegen Feinde: Der Erste Weltkrieg verunmöglicht die für 1917 geplante Uraufführung in Wien: Ein italienischer Komponist mit zwei österreichischen Librettisten? Keine Chance. Nun beginnen verschiedene Versionen zu kursieren: Puccini lässt das Libretto ins Französische und von dieser Version ins Italienische übersetzen. Oder doch direkt von Deutsch auf Italienisch? Dies lässt sich nicht aufklären. Puccini ist jedenfalls mit dem Aufbau des ursprünglichen Librettos nicht zufrieden, wie in Operetten üblich, reiht sich Nummer an Nummer, unterbrochen von Dialogen. Dies gefällt dem
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Komponisten nicht, und er beauftragt, wie Stefan Frey schreibt, Giuseppe Adami, den Übersetzer von Lehárs Eva, eine durchkomponierte Fassung mit italienischem Text zu erstellen. Die Uraufführung findet jedoch in Monte Carlo statt – auf Französisch. Hier wirkt 50 Jahre lang Raoul Gunsbourg als Intendant. Monte Carlo ist ein neutrales Land – die Vertragspartner gehören jedoch verfeindeten Nationen an: Österreich und Italien. In Frankreich werden Stimmen laut, dass sich der österreichische Feind an dieser neuen Produktion bereichere, die Zeitung L’Action française unter dem Chefredakteur Léon Daudet bezeichnet Monaco als Brutstätte deutscher Spionage und beschuldigt Gunsbourg, ein Ausländer und Spion zu sein. Wenige Tage vor der Premiere berichtet Daudet, dass der Auftrag für La rondine aus Wien kam – das stimmt, doch war das eben vor dem Krieg. Daudet beschwört Puccini, auf jeden Einfluss seitens der Librettisten Willner und Reichert zu verzichten und Adami als alleinigen Librettisten zu nennen. Diese Verurteilung von Gunsbourg, Willner und Reichert ist natürlich auch in einem antisemitischen Kontext zu verstehen.4
Was für Aufsehen erregt ein völlig unpolitisches Stück zu einer Zeit, in der allein Patriotismus zählt. Daudet greift Gunsbourg weiter an und unterstellt ihm, zu wenig national und zu sehr international zu handeln – in Zeiten von Kriegen ein Ding der Unmöglichkeit und auch ein antisemitisches Stereotyp: Den Juden wird vorgeworfen, „international“ zu denken – und im Umkehrschluss eben nicht national und patriotisch. Auch der Inhalt von La rondine entspricht keinen patriotischen, also nationalistischen Ansprüchen und macht das Werk daher unbrauchbar für Unterhaltung in Kriegszeiten. Puccini lässt sich einschüchtern und veröffentlicht in diversen französischen Zeitungen Einschaltungen, dass es sich um eine italienische Oper mit italienischem Libretto handelt –
4 Näheres dazu bei Micaela Baranello, „The Swallow and the Lark. La Rondine and Viennese Operetta.“ In: Armand Schwartz, Emanuele Senici (Hg), Giacomo Puccini and his world (Princton 2016)
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Willner und Reichert werden verschwiegen. Plötzlich gerät eine Oper ins politische Fahrwasser – nicht das erste und auch nicht das letzte Mal. Nicht nur die Inhalte können
Anstoß erregen, auch die Schöpfer und Umsetzer. Auch in Italien ist La rondine 1917 erstmals am Teatro Comunale in Bologna zu hören – natürlich auf Italienisch.
La rondine in der Volksoper
1920 kommt La rondine endlich nach Wien – auf die Bühne der Volksoper, auf Deutsch. Aber von wem stammt der Text? Das ursprüngliche Libretto von Willner und Reichert scheint unbrauchbar geworden zu sein, denn Puccini komponiert ja auf den Text von Adami. Zwei Versionen, auch gedruckt auf den diversen Klavierauszügen, kursieren: Willner und Reichert adaptieren ihren Text. Oder es kommt der Schriftsteller Rudolf Stephan Hofmann ins Spiel, ein interessanter Mann. 1878 in Wien geboren, beschäftigt er sich als Arzt, Musikschriftsteller und Librettist mit vielerlei Dingen. Was ihn für die Adaptierung von La rondine besonders prädestiniert, ist seine Übersetzererfahrung. Er übersetzt zahlreiche Texte aus dem Französischen, Italienischen, Englischen, Ungarischen, Tschechischen, Russischen und Spanischen, sowohl auf dem Gebiet der Medizin als auch Libretti und Texte für Werke von Janáček, Delius, Milhaud, Kodály, Respighi und anderen. Auch der Text zum Josef Strauß-Walzer Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust stammt von Hoffmann.
Mehr als 200 seiner Briefe befinden sich im Bestand der Nationalbibliothek – darunter keine Korrespondenz zu La rondine. Es bleibt also unklar, wer wirklich für den so verrissenen Text verantwortlich zeichnet. Das Salzburger Volksblatt hat seinen Schuldigen gefunden: „Alfred Willner, der Lieblingsdichter Lehárs, hat sonst Niveau, auch Geschmack, seltsam, daß er gerade hier so ‚ausgelassen‘ hat.“5 Und das Welt-Blatt skizziert gleich
5 Salzburger Volksblatt, 11.10.1920
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einen totalen Rundumschlag: „Puccini ist in den Hinterhalt gefallen, den ihm ein Wiener Verleger und zwei Wiener Operettenlibrettisten gelegt haben. Aber die Beutegierigen haben sich verrechnet: der Überfallene hatte nur wenig echtes Gold in der Börse, das meiste waren ‚falsche Puccinis‘.“6 Der große Schriftsteller Ludwig Hirschfeld nimmt es mit Humor: „Dann kam der Weltkrieg, in dem wir so viel verloren haben. Nur das Puccini-Buch der Herren Willner und Reichert blieb uns, bei dem Pech, das wir schon haben, glücklich erhalten. Es wurde wieder ins Deutsche zurückübersetzt, die Verse den Melodien unterlegt, ein gewaltsames Verfahren, das gewiß vieles entschuldigt.“7
Die Erwartung des Wiener Publikum erweist sich als enorm – die Popularität Puccinis in Wien macht ihn zu einem Star. Es spricht sich herum, dass Puccini persönlich der ersten Vorstellung beiwohnen wird und wohl auch bereits die Generalprobe für letzte Korrekturen besucht. Das Publikum strömt in Massen herbei, wie die Journalistin Elsa Bienenfeld berichtet:
„Es war ein wildbewegtes Bild, das der Zuschauerraum der Volksoper vor einigen Stunden bot. Dicht bis an die Decke hinauf waren die Bänke und Logen besetzt, und triumphierend hielt jeder, der glücklich einen Platz erobert hatte, diesen fest. In den Mittel- und Seitengängen drängten immer mehr Neuankommende nach vorwärts. An den Eingangstüren stauten sich die Massen. Die Diener des Hauses, die Beamten und Inspektoren versuchten vergebens, den Segensüberschuß der Besucher irgendwie unterzubringen. Man stieß, man drängte, man schrie. Polizeikommissäre schritten ein; sie waren taktvoll, liebenswürdig, geschickt und umsichtig. Tatsächlich gelang es, irgendwie Ordnung zu schaffen. Es war, als ob durch Zauberkräfte der Fassungsraum des Hauses plötzlich erweitert worden wäre. Der Sturm legte sich; Ruhe trat ein, und über die erregten Menschenwogen war das Öl
6 Welt-Blatt, 10.10.1920
7 Ludwig Hirschfeld, Moderne Welt, Heft 8, 1920
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süßer Erwartung gegossen. Eine öffentliche Generalprobe war es, die diesen unerwarteten und selbst in hitzigsten Wiener Theaterzeiten ungewohnten Sturm hervorgerufen hatte.“ Und auch hier kommt die Politik wieder ins Spiel: „Puccini ist grenzenlos populär in Wien. Vergessen sind alle Kämpfe an der Piave und am Isonzo, vergessen alles Leid des Weltkrieges, wenn die berückenden Melodien dieses verführerischesten aller gegenwärtigen Opernkomponisten erklingen.“8
Die Suche nach dem ursprünglichen Libretto bleibt ergebnislos – weder in den diversen österreichischen Bibliotheken und Archiven noch in den Nachlässen von Willner und Reichert findet sich eine Spur. Aber wer weiß: Vielleicht schlummert die Schwalbe ja in Italien und flattert doch noch zurück nach Wien.
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8 Elsa Bienenfeld, Neues Wiener Journal, 8.10.1920
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Nelsen, Timothy Fallon
Rebecca
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Julia Koci, Stephanie Maitland, Matilda Sterby, Timothy Fallon, Johanna Arrouas
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Leonardo Capalbo, Matilda Sterby
33 Rebecca Nelsen, Timothy Fallon
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35 Aaron Pendleton, Johanna Arrouas, Aaron-Casey Gould, Andrei Bondarenko, Timothy Fallon, Matilda Sterby, Chor
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Matilda Sterby, Julia Koci, Aaron Pendleton, Rebecca Nelsen, Stephanie Maitland, Leonardo Capalbo, Johanna Arrouas, Andrei Bondarenko, Chor
38 Rebecca Nelsen, Timothy Fallon
39Matilda Sterby, Leonardo Capalbo, Chor, Komparserie
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Leonardo Capalbo, Matilda Sterby
NOVE MUSE, A VOI PERDONO SE DISCENDO COSÌ IN BASSO!
L'AMO, L'AMO... E NON RAGIONO!
IHR MUSEN, VERGEBT MIR, DASS ICH MICH
ERNIEDRIGE, ABER ICH LIEBE SIE
WIE VERRÜCKT!
(Der Dichter Prunier)
Alfred Willner
Der Graf unter den Librettisten
Nachruf für A. M. Willner (1859 –1929)
Von Rudolf Österreicher. Neues Wiener Journal, 29.10.1929
Dort, wo sich das Gebiet der Operette schüchtern dem Land der wirklichen Poesie nähert, war Dr. Willner beheimatet. Dort, wo der Gefühlsgehalt der Situation den Gesangtext zwingt, sich in reine Lyrik zu flüchten, fühlte sich Dr. Willner am wohlsten. Er war der Poet unter den Librettisten, ein zärtlicher Amoroso des Wortes, er facettierte die Verse so lange, bis ihr glitzernder Spiegel die Schönheit der Musik restlos einfing, Lehar war natürlich sein Lieblingskomponist; das Parfüm der zärtlichen Musik berauschte ihn, der selbst ein ausgezeichneter Musiker und hervorragender Pianist war; ziemlich fassungslos stand der dagegen den ausgesprochenen Gassenhauern der Possenoperette gegenüber, denen er sich aus beruflicher Not oft nicht ganz entziehen konnte. Wie in seiner Kunst, war er in seinem Leben. Kavalier! Nie paßte das Wort besser auf einen Menschen. Die Adjektive „soigniert“ und „kultiviert“ schienen dem, der ihn näher kannte, zu seinem ausschließlichen Gebrauch erfunden. Er war – wie im Beruf der Poet – im Leben der Graf unter den Librettisten. Sah aus wie ein englischer Botschafter, auch schon zu Zeiten, wo Schriftsteller noch nicht die Sehnsucht hatten, so auszusehen. Nie habe ich seinem Mund ein ordinäres Wort entschlüpfen gehört, wie es Theatermenschen in der Aufwallung des Temperaments oft passiert. Denn auch das Temperament Dr. Willners war so gepflegt und soigniert, daß er es fest in seinen stets behandschuhten Händen hielt. Manche glaubten deshalb, er sei temperamentlos. Aber wer ihn – wie ich – an einsamen Abenden am Klavier phantasieren hörte, der wußte es besser.
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Dr. Willner stammte aus reichem Hause – seine Mutter war eine geborene Mautner Markhof. Durch verschiedene Schicksalsschläge verlor er sein Vermögen und mußte sich – fast vierzig Jahre als – nach einem Broterwerb umsehen. Wäre er damals mit seinen schriftstellerischen Anfängen nicht gerade in das Librettischreiben hineingeworfen worden, wer weiß, welch ein glänzender Romanschriftsteller oder Lustspieldichter aus ihm geworden wäre. Das noch zu werden, war auch seit Jahren seine heimliche Sehnsucht. Der Tod hat ihn und uns darum gebracht.
Mein Freund Dr. Willner.
Von Heinz Reichert, 1929.
Wer Dr. Willner war, konnten eigentlich nur die wenigen einschätzen, denen dieser etwas exklusive Mensch von reinster Gesinnung, ein wirklicher Freund im wahren Sinne des Wortes, ein guter Kollege, stets hilfsbereit, wenn es zu helfen galt. Und wie er half! Fast möchte ich die diskrete Art seines Gebens noch höher stellen, als seine Wohltätigkeit selbst. Die ruhige Vornehmheit seiner äußeren Person spiegelt sich in seiner Gesinnung wider. Die tadellose Bügelfalter, die ihn charakterisierte, war auch das Symbol seiner gradlinigen Denkungsart.
Er stammte aus einer Zeit, in der die Operette ihren höchsten Aufschwung nahm, und bestimmt war er es, der mithalf, diesem Genre neue Geltungen zu verschaffen.
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Heinz Reichert (1877 –1940)
Heinz Reichert wurde als Heinrich Blumenreich geboren. Er arbeitete als Assistent und Co-Autor von Alfred Willner.
Außerdem schrieb er, allein oder mit anderen, zahlreiche Libretti. 1938 musste er in die USA emigrieren und verbrachte die letzten Lebensjahre in Hollywood.
Weitere Zusammenarbeit von Alfred Willner und Heinz Reichert
Das Dreimäderlhaus, Operette in drei Akten, Musik: Heinrich Berté, 1916
Die schöne Saskia, Operette in drei Akten, Musik: Oskar Nedbal, 1917
Wo die Lerche singt, Operette in 4 Bildern, Musik: Franz Lehár, 1918
Frasquita, Operette in drei Akten, Musik: Franz Lehár, 1922
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Alfred Maria Willner
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Vielen Bauern gilt die Schwalbe als Glücksbringer. Je früher der Frühling beginnt, desto eher kann das Land wieder bearbeitet werden. Außerdem jagen Schwalben schädliche Insekten. In früheren Zeiten gab es den Aberglauben, Kühe würden aufhören Milch zu geben, wenn keine Schwalben mehr auf einem Bauernhof brüten. Deshalb werden die Nester auf Bauernhöfen meist ungestört gelassen.
Es existiert eine alte Legende zum Ursprung des gegabelten Schwanzes: Um den Menschen zu helfen, flog eine Schwalbe in den Himmel und stahl das Feuer. Die Götter wurden wütend und schleuderten einen Feuerball auf die fliehende Schwalbe. Ihr Schwanz wurde getroffen und die mittleren Schwanzfedern verbrannt.
Der jährliche Zug in ihre Brutgebiete hat der Schwalbe in den Augen vieler Seeleute eine weitere symbolische Bedeutung gegeben, nämlich die der sicheren Rückkehr.
Hatte ein Seemann 5.000 Seemeilen zurückgelegt, war es Tradition, sich eine Schwalbe auf Brust oder Rücken zu tätowieren.
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Im Libretto der Oper kommt das Wort Rondine (Schwalbe) nur zweimal vor.
Der Dichter Prunier sagt Magdas Zukunft voraus. Später erinnert sich Magda an diese Worte:
PRUNIER
Vi trascina il destino!...
Forse, come la rondine, migrerete oltre il mare, verso un chiaro paese di sogno... Verso il sole, verso l'Amore...
Das Schicksal reißt dich mit! Wie eine Schwalbe wirst du über das Meer fliegen, in ein glänzendes Traumland … der Sonne entgegen … der Liebe entgegen.
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Synopsis
Act one
Paris, around 1860, in Magda's salon
The poet Prunier provokes the guests with his ideas about love. Only Magda believes in romantic love. She tells a story that touches even her unromantic benefactor, the banker Rambaldo. He gives Magda an expensive pearl necklace. Prunier reflects on the contradiction between Magda's belief in true love and her work as a courtesan. Magda's maid Lisette announces a young man who wants to see Rambaldo. It is Ruggero, the son of one of Rambaldo's old friends. Prunier wants to read Magda's hand. His prophecies are ambiguous. Her life could be as beautiful as that of a swallow in the sun. But there are also dark clouds looming. Young Ruggero wants to know how to spend his first night in Paris. Lisette suggests the Bullier dance club. The guests leave and Magda is left alone. She decides to go to Bullier herself, disguised as a labourer. Lisette and Prunier meet in secret. The writer confesses his love for the simple girl. Nonetheless he is forcing her to completely change her wardrobe by "borrowing" clothes from her mistress before he wants to appear in public with her.
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Act two
At the Bullier dance club
Young men and women seduce each other. Ruggero sits shyly at a small table. Magda, in disguise, enters. She is immediately besieged by students who ask her to dance. Magda rejects them by pretending she has a date with Ruggero. The two dance, talk and kiss. Lisette and Prunier enter the pub and mingle with the dancers. Lisette recognises Magda. They play a game of deception with each other. This is followed by a love quartet between the two couples. Ruggero is fascinated by this mysterious woman. / Magda is torn between love and remorse. / Lisette adores the poet. / Prunier creates his own muse. Then the jealous Rambaldo enters the dance hall. Prunier tries to save the situation.
Magda declares that everything is over between her and Rambaldo. A voice announces the dawn and warns: Don't trust in love! Magda tells Ruggero about her fears for their future. Ruggero takes her in his arms and they leave together.
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Act three
On the Côte d'Azur
A few months later, Magda and Ruggero are staying in a quiet hotel by the sea. Ruggero is overwhelmed by his happiness. Magda hides her doubts. Ruggero writes to his parents and asks them for money and their consent to marry Magda. Magda realises that she can no longer hide her past. Prunier and Lisette have discovered the hotel. Lisette has had a disastrous debut as a theatre actress and wants to work for Magda again as a maid. On behalf of Rambaldo, Prunier tells Magda that she can no longer live a lie. She must return to her old life in Paris, just as Lisette returns to her life as a maid. Ruggero storms in with a letter from his mother. She agrees to the marriage as long as the bride is a decent person. Magda cannot accept his proposal. She reveals her past to him. Ruggero doesn't want to hear it. He is overcome with grief. Magda bids farewell to her one true love and departs for an unknown destination.
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FÖRDERKREIS
Kultur braucht
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Redaktion: Peter te Nuyl, redaktionelle Mitarbeit: Sylvia Schlacher und Anna-Maria Bernhofer | Grafisches Konzept: Christof Hetzer, Sandra Hruza | Grafik: Sarah Bauer, Natascha Sefcsik
Textnachweise
Der Text „Die Suche nach dem verlorenen Buch“ von Dr. Marie-Theres Arnbom ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. S. 30-31: Nachrufe von Rudolf Österreicher und Heinz Reichert aus dem Neuen Wiener Journal vom 29. Oktober 1929 (Quelle: ANNO Historische Zeitungen und Zeitschriften / Österreichische Nationalbibliothek). Alle anderen Texte sind Originalbeiträge von Peter te Nuyl für diese Publikation; Übersetzungen von Stephan Lack und Jürgen Bauer.
Bildnachweise
Die Szenenfotos der Klavierhauptprobe wurden fotografiert von Barbara Pálffy; die Portraits von Puccini, Willner und die Schwalbe sind Zeichnungen von Christof Hetzer; S. 22: Archiv der Volksoper Wien; Schreibmaschine © Adobe Stock
Hersteller: Print Alliance HAV Produktions GmbH, 2540 Bad Vöslau
… DAS IST KEIN LEBEN FÜR DICH …
(Der Dichter Prunier)
… LA VOSTRA VITA NON È QUESTA…
NON PUÒ AMAR CHE DONNE RICCHE UN POETA COME ME!
EIN DICHTER WIE ICH
DARF NUR REICHE DAMEN LIEBEN! (Der Dichter Prunier)
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