Vreni Giger im Interview in der "Ostschweiz am Sonntag"

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Reflexe

8. September 2013 Ostschweiz am Sonntag

Die St. Galler Starköchin Vreni Giger vom Restaurant Jägerhof ist Schirmherrin der nationalen Genusswochen im September. Im Interview verrät sie, was sie an der Gourmetküche nervt und weshalb sie ihr Biozertifikat lange verheimlicht hat.

Für Vreni Giger hat Essen auch sehr viel mit Erziehung zu tun.

«Geklontes Fleisch macht mir Angst und ekelt mich an» DAS GESPRÄCH FÜHRTEN BEDA HANIMANN UND ELISABETH REISP, BILDER: URS BUCHER Die Gretchenfrage zuerst: Wie essen Sie Ihr Fleisch? Vreni Giger: (lacht) Blutig! Nicht gerade bleu, aber saignant. Fleisch ist ein umstrittenes Lebensmittel und sorgt immer wieder für Diskussionen. Jetzt gerade wird über geklontes, also im Labor gezüchtetes Fleisch diskutiert. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Giger: Es macht mir Angst. Sicherlich ist es eine grosse Chance, wir haben immer noch grosse Hungersnöte auf der Welt. Aber grundsätzlich macht es mir Angst – und es ekelt mich an.

Vergleicht man unsere Esskultur mit derjenigen der Amerikaner, hoffe ich sehr, dass wir nie eine solche Fastfoodkultur haben werden. Zur Person 17 Gault–Millau–Punkte für das Mädchen vom Lande

Was macht Ihnen genau Angst? Giger: Dass es heute technologisch möglich ist, Fleisch herzustellen, ohne zuvor ein Tier zu haben. Fleisch unterliegt Trends und wird jetzt schon verändert und an Kundenwünsche angepasst. Ein Beispiel ist das Kalbfleisch. Jahrelang musste es blass in den Theken liegen, jetzt darf es wieder rosa sein. Giger: Den Wunsch an die Grossverteiler, endlich hinter dem rosa Kalbfleisch zu stehen,

Alles muss seine Ordnung haben.

Vreni Gigers Küche ist mit 17 Gault-Millau-Punkten geadelt. Das macht die 39-Jährige zu einer der besten Köchinnen des Landes. Sie kocht seit 17 Jahren im renommierten Restaurant Jägerhof in St. Gallen. 2009 hat sie das Restaurant mit ihrem Mann Dirk Orthmann übernommen. In ihrer Küche werden ausschliesslich regionale Produkte verwendet, Ausnahmen kennt die Starköchin keine. Aufgewachsen ist Giger auf einem Bauernhof mit währschafter Küche. Die Finessen der feinen Küche hat sie erst nach der Lehre entdeckt, etwa bei Turi Maag in der «Blumenau». An den diesjährigen nationalen Genusswochen vom 12. bis 22. September amtet Giger als Schirmherrin. (rsp)

gibt es schon lange. Wenn ein Tier artgerecht gehalten wird, ist das Fleisch rosa, weisses Kalbsfleisch gibt es nur, wenn die Kälber einseitig, also nur mit Milch ernährt werden. Die Leute haben einfach vergessen, dass Kalbfleisch rosa ist. Wenn man ihnen sagt, was man mit dem Tier machen muss, damit das Fleisch weiss wird, erschrecken alle und wollen es gar nicht mehr essen. Die Leute kaufen wieder überlegter ein und essen bewusster. Wohin führt das? Giger: Ich hoffe, in eine gute Zukunft. Es ist nämlich noch nicht so lange her, da musste ein Handwerker noch eine halbe Stunde arbeiten, um ein Brot zu verdienen. Und heute darf ein Brot und Nahrungsmittel im allgemeinen nichts mehr kosten. Es wäre schon erstrebenswert, wenn die Leute wieder das Bewusstsein hätten, dass gute Nahrungsmittel etwas kosten. Sie haben einen Wert. Ist diese Forderung nicht einfach zu stellen, wenn man selbst einen guten Lohn hat? Es gibt Leute, die leben am Existenzminimum. Giger: Nein. Auch wenn man am ExistenzminiFortsetzung auf Seite 14


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8. September 2013 Ostschweiz am Sonntag

«Geklontes Fleisch…»

Noch nie klammheimlich gesündigt und im Winter doch mal ein Tomatenrisotto gekocht? Giger: Ganz ehrlich, nein, mache ich nicht.

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Sie sind ja pickelhart... Giger: Nicht pickelhart. Bis vor fünf Jahren hatte ich noch eine Macke: Ich wollte jeweils am Karfreitag Fisch mit Spargeln machen. Egal, ob schon Spargelsaison war oder nicht. Dann hat aber auch das geändert. Jetzt warten wir auf die ersten Spargeln aus Diepoldsau. Es macht mich einfach nicht mehr an. So machen wir es auch mit anderen Lebensmitteln: Sobald die Tomaten reif sind, essen wir fast täglich Tomatensalat. Irgendwann hat man genug und es reicht wieder bis zum nächsten Jahr.

mum lebt, kann man nahrhaft und gesund kochen. Man muss aber kochen können. Es kostet weniger, frische Lebensmittel zu kaufen und etwas Einfaches zu kochen, als Fastfood zu konsumieren. Es ist frappierend, dass gerade die Leute, die vermutlich am Existenzminimum leben, in ihren Einkaufswagen fast nur beinahe abgelaufene Fertigprodukte haben. Nennen Sie uns ein Beispiel eines sehr günstigen und nahrhaften Gerichts? Giger: Kartoffelsuppe. Kostet für eine Familie etwa zwei Franken. Demnach gibt es einen Essgraben in unserer Gesellschaft? Giger: Ja. Essen ist mehr als nur Nahrungsaufnahme, es ist auch Kultur. Man merkt, welche Familien einmal am Tag eine gemeinsame Mahlzeit einnehmen und miteinander reden. Das muss kein Fünfgänger sein, Brot und Käse reichen. Aber sich miteinander hinsetzen und die Mahlzeiten zelebrieren, das ist etwas Wertvolles für Kinder. Ist die Einstellung zum Essen eine Zeiterscheinung? Unterliegt sie Wellenbewegungen wie die Mode? Giger: Es variiert tatsächlich. Seit 14 Jahren haben wird das Biozertifikat. Am Anfang haben wir uns gesagt, das erzählen wir niemandem, sonst werden wir noch als Körnlipicker abgestempelt. Damals war das unsere grösste Sorge. Mittlerweile ist das Gegenteil der Fall: Bio ist Lifestyle geworden. Heute geht die Frau Doktor auf den Markt, um mit dem Korb Biogemüse einzukaufen. Aber auch ich habe mich verändert. Ich komme wieder zurück zu den Wurzeln.

Wo liegen Ihre Wurzeln, wo sind Sie kulinarisch zu Hause? Giger: Ich hatte in der Lehre meine rebellische Phase. Meine Eltern haben nur frisch und aus dem Garten gekocht. Bei uns gab es ausschliesslich Thurgauer Erdbeeren, Mandarinen erst ab dem 6. Dezember. Im Herbst haben die Eltern Gemüse für den Winter eingekellert. Alles war frisch und der Natur angepasst. Das höchste der Gefühle war für mich deswegen, wenn meine Mutter ausnahmsweise keine Zeit zum Kochen hatte; dann gab es eine Büchse Erbsen mit Rüben. Als ich in die Lehre kam, durfte ich plötzlich ein Weihnachtsbuffet machen mit Erdbeeren und allem Möglichen, was gerade nicht Saison hatte. Das habe ich geliebt. Erst später nach der Lehre habe ich gemerkt, dass das, was meine Eltern gemacht haben, gar nicht so blöd war. Und heute bin ich wahrscheinlich die grösste Verfechterin saisonaler und regionaler Produkte.

Wie ist eigentlich der Austausch unter Spitzenköchen? Verrät man Geheimnisse? Giger: Der Austausch ist sehr rege. Es ist aber eine zweischneidige Angelegenheit: Kommunikation ist sehr wichtig, das inspiriert und befruchtet. Auf der anderen Seite führt das auch zu einem Einheitsbrei. Alles wird plötzlich gleich gemacht. Da hinterfrage ich mich selber: Will ich wirklich, dass meine Teller gleich aussehen wie diejenigen der 20 besten Köche Europas? Oder soll man sehen, das ist ein Teller von Vreni Giger?

Sie sind Schirmherrin der nationalen Genusswochen. Was müssen Sie als Schirmherrin machen? Giger: Nett lächeln (lacht). Es hat mich gefreut, Schirmherrin zu sein. Denn es waren schon namhafte Leute Schirmherren, in diese Reihe ordne ich mich gerne ein. Die Genusswochen sind eidgenössisch. Möchte der Staat das Bewusstsein fürs Essen fördern? Giger: Ich glaube, der Staat hat gesehen, dass Essen und Genuss ein Kulturgut und fördernswert ist. Vergleicht man unsere Esskultur mit derjenigen der Amerikaner, hoffe ich sehr, dass wir nie eine Fastfoodkultur mit ihren ganzen Problemen, die das nach sich zieht, haben werden. Und wenn die offizielle Schweiz da etwas eingreift und gesunden Genuss fördert, ist das gar nicht so schlecht.

Wo holen Sie sich Ihre Inspiration sonst her? Aus den Produkten? Giger: Ich rede viel mit Mitarbeitern und Gästen. Da kommen viele Ideen zusammen. Auch halte ich die Augen immer offen. Ich habe schon Ideen aus Bergrestaurants, Gourmetrestaurants oder Zeitschriften mitgenommen. Man darf einfach nie stehen bleiben und nie glauben, man sei perfekt. Der Gourmetküche haftet der Ruf an, dass wenig auf dem Teller ist. Für viele aber ist ein voller Teller das wichtigste Kriterium.

Zu Gast in der Küche bei Vreni Giger waren Tagblatt-Redaktor Beda Hanimann und Ostschweiz am Sonntag-Reporterin Elisabeth Reisp.

SOLL STAATSPERSONAL 44 MILLIONEN BEITRAGEN? Die Pensionskasse Thurgau muss saniert werden. Vorgesehen ist, dass der Kanton 109 Millionen einschiesst und nochmals 50 Millionen als Darlehen gibt. Die Arbeitnehmer sollen 44 Millionen beitragen.

Leserbriefe Spielregeln In der Rubrik Leserbriefe veröffentlichen wir an dieser Stelle Zuschriften von Leserinnen und Lesern, die auf Beiträge unserer Sonntagsausgabe Bezug nehmen. Je kürzer und prägnanter der Text, desto grösser die Chance auf Publikation. Grundsätzlich gilt eine Maximallänge von 1000 Anschlägen (inklusive Leerzeichen). Die Redaktion behält sich vor, längere Zuschriften zu kürzen oder abzulehnen. (red.) Leserbriefe richten Sie bitte an leserbriefyostschweiz-am-sonntag.ch

Giger: Ich finde, man sollte auch in einer Spitzenküche genug Essen bekommen. Mich nervt es, wenn ich bei einem absoluten Top-Koch für teures Geld esse, zu Hause aber ein Joghurt nehmen muss, weil ich noch Hunger habe. Solche Köche gibt es heute noch. Das kann es nicht sein. Wenn ich 400 oder 500 Franken pro Person zahle, will ich auch genug zu essen haben.

In Hubert Hegglins Stall liegen die Kühe auf einer Schicht Sägespäne.

Bild: Nana do Carmo

Kompost als Komfort für Kühe

Dafür

Dawider

«Was ist daran unsozial?»

Zu positive Zins-Annahmen

In jeder privaten Pensionskasse gilt: Keine Staatsgarantie, und «sofern andere Massnahmen nicht zum Ziel führen, kann die Vorsorgeeinrichtung während der Dauer einer Unterdeckung von Arbeitgeber und Arbeitnehmern Beiträge zur Behebung einer Unterdeckung erheben (Art. 65d Abs. 3 lit. a BVG)». Genau das schlägt die vorberatende Kommission vor. Der Kantonsrat ist sich aber seiner Rolle als attraktiver Arbeitgeber bewusst und beteiligt die Arbeitnehmenden nur zu 44 anstelle von 50 Prozent. Weiter saniert der Kanton alte Ansprüche im Umfang von 53 Mio. aus. Und der Kanton gewährt noch Darlehen an die Pensionskasse in Höhe von 50 Mio. Was ist daran unsozial? Tausende Arbeitnehmer im Thurgau müssen höhere Sanierungsbeiträge an ihre private Kasse leisten und obendrein noch via Steuern an diese Sanierung beitragen. Die Steuerzahlenden haben in der Vergangenheit bereits 230 Mio. Franken an Sonderbeiträgen geleistet und zahlen jetzt noch einmal 109 Mio. Fr. Steuergeld fällt im Thurgau nicht wie Manna vom Himmel – auch nicht, wenn man genau dies laut durchs Megaphon brüllen mag.

Die Arbeitnehmenden sind bereit, einen Teil der Ausfinanzierungskosten zu übernehmen. Aber Sanierungsbeiträge plus 44 Millionen Franken sind eine zu grosse Verpflichtung. Die Kasse musste noch nie saniert werden. Der Regierungsrat bestätigt in seiner Botschaft, dass es sich bei früheren Zahlungen von rund 230 Millionen Franken um früher nicht geleistete Arbeitgeberbeiträge handelt, nicht um Sanierungen. Der grösste Teil der Finanzierungslücke entstand, weil man bei der Fusion zur Pensionskasse Thurgau 2006 von zu positiven Zins-Annahmen ausging. Damals versprochene Leistungen sollen durch den Kanton finanziert werden. Mit den beiden Umwandlungssatzsenkungen seit 2006 tragen die Arbeitnehmenden bereits einen wesentlichen Teil zu einer gesunden Kasse bei, die im Vergleich bescheidene Leistungen bietet. Die dritte Senkung wird in Kürze notwendig sein. Der Kanton soll seine Verantwortung gegenüber dem Personal wahrnehmen und die Pensionskasse auf sichere Beine stellen, bevor er sie in die finanzielle Selbständigkeit entlässt – ohne dabei die Arbeitnehmenden so stark zu belasten.

Urs Martin, Vizepräsident Bund der Steuerzahler Thurgau

Mette Baumgartner Geschäftsleiterin personalthurgau

Ostschweiz am Sonntag, 1. September 2013

Von der Realität ablenken Jede Erleichterung für Milchkühe ist zu begrüssen. Nur leider lenkt der Bericht von der Realität ab. Die unglaublich hohe Milchnachfrage trotz eindeutigen gesundheitlichen Bedenken zwingt zu Tierfabriken mit jährlichen künstlichen Zwangs-

schwängerungen und Entreissen der Kälber von den Kühen schon in den ersten Tagen. Der Konsum sollte aus Pietätsgründen dringendst überdacht werden. Renato Werndli, Jakob-Oesch-Strasse 1, 9453 Eichberg

«S’Bähnli» gibt es nicht zum Fixpreis Ostschweiz am Sonntag, 4. August 2013

St. Gallen–Gais: Zukunft darf nicht schlechter als die Gegenwart sein <wm>10CAsNsjY0AIJ4AzAAABkZ6HUPAAAA</wm>

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In der Ostschweiz am Sonntag vom 4. August ist die Rede von der neu zu bauenden Durchmesserlinie der Appenzeller Bahn. Dabei geht man von einem Viertelstundentakt St. Gallen–Teufen aus. Was passiert mit den Passagieren, die nach Gais weiterreisen wollen? Sollen diese in Teufen in einen Bus umsteigen? Jedes Umsteigen bei der Bahn ist umständlich, namentlich mit Gepäck und bei Sturm und Regen. Hinzu kommen üblicherweise Wartezeiten. Ich erwarte, dass sich der Gemeinderat von Gais für die Gaiser Bevölkerung intensiv für eine direkte Verbindung St. Gallen–Gais – also ohne Umsteigepflicht – einsetzt. Es dürfte zweckmässig sein, dass man sich in einem früheren Stadium für eine gute Bahnverbindung

St. Gallen–Gais und umgekehrt bemüht, bevor endgültige unbefriedigende Ausführungsentscheide gefallen sind. Wenn der Kanton und die Gemeinde Gais an den projektierten Durchmesser-Bahnumbau ohnehin einen Millionenbeitrag zu bezahlen haben, muss erwartet werden, dass das Ergebnis nicht schlechter herauskommt als der gegenwärtige Zustand. Sollte eine direkte Verbindung St. Gallen–Gais aus fahrplantechnischen Gründen als Ausrede Schwierigkeiten bereiten, muss eben auf den ohnehin überrissenen Viertelstundentakt verzichtet werden. Dann braucht es für die Appenzeller Bahn aber auch nicht sieben neue Züge. Ernst Bosshard, Gais


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