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Abgrund – die Kerneigenschaft der Flip-Flops
Abgrund
Text: Christian Härdi Foto: Stefan Teufer
Ich hänge an einem seidenen Faden über dem Abgrund, habe Todesangst. Unter mir Gartenplatten, ein Beet mit Kopfsalat und der alte Gasgrill. Wenn ich schon fallen muss, dann möglichst weich bitte, vielleicht auf einen Kopfsalat. Sabrina sitzt rauchend auf ihrem Balkon im dritten Stock. Ein Balkon so winzig, als hätte man eine Schuhschachtel vor das Haus gehängt. Zigarette links, Smartphone rechts, Beine hochgelagert und überkreuzt, die rechte Ferse auf das Balkongeländer gestützt. Zwischen ihren Zehen hänge ich, unter mir unangenehm viel Luft. Ich klammere mich verzweifelt fest, baumle hin und her. Wäre ich bloss schwindelfrei. Meine grösste Angst: Hoffentlich hält der Zehensteg. Nur ein Flip-Flop, ein Wegwerfprodukt. Um mich würde keiner trauern, nicht mal Sabrina. Ich gehöre zur untersten Kaste der Schuhe. Mich wirft man zur Entsorgung aus dem Fenster fahrender Autos. Meine durchgelatschten Artgenossen treiben als globaler Plastikmüll draussen im Ozean. Von Schuhmachern werde ich belächelt, manche verachten mich auch: Fersenhalt sei bei mir Fehlanzeige. Mein Steg reibe zwischen den Zehen die Haut wund. Hammerzehen soll ich fördern. Und wage ein mutiger Knickfuss mich auszuführen, stehe er bald schon neben meiner Sohle. Flip-Flop – unsere Bezeichnung ist ein Klanglaut, abgeleitet vom ordinären Geräusch, das wir verursachen, sobald jemand mit uns läuft. Dieses typische Schnalzen, wenn beim Abrollen die Sohle gegen die Fussunterseite klatscht. Jugendliche nennen uns auch Zehentangas. Bitte nicht, das ist frech. Mir persönlich ist mein vertrauter Zehenschlitz also bedeutend lieber als die Verlaufszone herkömmlicher Tangas. Letzten Sommer hat ein Kollege von mir sogar einen Autounfall provoziert. Bei einem abrupten Bremsmanöver ist er abgerutscht. Zwischen Brems- und Gaspedal hat es ihn geklemmt, was dem Bremsvorgang jegliche Effizienz entzog und schliesslich dafür sorgte, dass er und sein Träger, im Heck eines Volvo Kombis steckend, zur Einsicht kamen, dass das Fahren in Flip-Flops schmerzhafte Nebenwirkungen haben kann. Kein schönes Bild. Sabrina drückt ihre Zigarette aus. Mit einem eleganten Beinschwung rettet sie mir das Leben, befreit mich aus meiner hängenden Notlage. Sie verlässt den winzigen Balkon. Proportional zur Balkongrösse verhält sich die Wohnfläche ihres Mietstudios, auch hier sehr kompakte Verhältnisse. Sabrina schläft mit beiden Kindern im gleichen Zimmer. Wohnzimmer und Küche bilden eine Zweckgemeinschaft. Die Miete ist tief. Trotzdem: Klemmt nur einer der beiden Väter mit den Kinderalimenten, bleibt am Ende des Geldes noch empfindlich viel im Monat übrig. Dann wird Sabrina nervös, muss noch fleissiger auf den Balkon, um sich im Rauche abzulenken. Und ich baumle im Halbstundentakt jenseits des Geländers. Vielleicht glaubt sie damit, meine Höhenangst therapieren zu können. Ich bin untherapierbar! In Wahrheit sind wir Leidensgenossen: Sabrina und ich. Beide hängen wir an einem seidenen Faden. Unter uns öffnen sich regelmässig Abgründe. Bis jetzt sind wir nicht abgestürzt. Die Hoffnung, dass alles irgendwann mal gut kommt, haben wir nie ganz verloren. Wir sind geübt darin, uns festzuklammern, im Leben zu halten. Die Kerneigenschaft von Flip-Flops besteht darin, sich festzuklammern. Trotz allen Widrigkeiten lassen wir nicht los, halten durch. Liebe Podologen, neben all unseren Schwächen beweisen wir Charakter: Wir Flip-Flops sind zäh, ausdauernd und bescheiden. Schweizer Grundwerte, oder nicht?
Die ursprüngliche Fassung dieses Textes erschien erstmals im Magazin Fuss & Schuh Nr. 4-2020 und wird mit freundlicher Genehmigung abgedruckt.