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Epische Scham

Warum man nur ungern lest, was man immer schon gelesen haben sollte

Jorge Luis Borges stellte einmal fest, man lese ein berühmtes Buch beim ersten Mal so, wie man einen anderen Text bei der zweiten Lektüre behandeln würde. Als wüsste man genau, was auf einen zukommt. Spinnt man Borges’ Gedanken fort, so trifft die Feststellung unter all den Klassikern, die den Weg auf den heimischen Lesestapel finden, in herausragender Weise auf jeden Vertreter der Gattung Epos zu. Man weiß doch, noch bevor das Buch geöffnet ist, was einen zwischen den beiden Deckeln erwartet, dass man nicht ahnungslos an die Ilias, die Aeneis, den Beowulf oder das Nibelungenlied herangehen wird. Indessen ist diese vorgängige Bekanntschaft mit berühmten Büchern, die Borges andeutet, keine unbelastete. Anders sieht es aus bei den Fällen, in denen man tatsächlich zum zweiten Mal zu einem Buch greift (was selten genug der Fall ist); da holen Leserinnen und Leser ein Werk aus dem Regal, zu dem sie vor Zeiten eine persönliche Beziehung aufgebaut haben. Man kommt zurück zu einer Schrift, die einem einmal etwas bedeutet hat, und misst seine Zweitlektüre an der Erinnerung an die erste. Beim Epos hingegen ist es anders. Die Gattung hätte zurecht ein eigenes Kapitel in Pierre Bayards vergnüglich-lehrreicher Abhandlung Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat verdient. Man wird zugeben, womöglich sogar etwas beschämt, dass man dieses oder jenes Epos doch eigentlich längst hätte gelesen haben müssen, zumal man ja schon geraume Zeit über diesen Text spricht, als ob man ihn gelesen hätte. Doch die Lektüre schafft nur begrenzt Abhilfe, sondern sie führt zu einem Sisyphus-Effekt. Selbst bei einer allfälligen Drittlektüre der großen Epen der Weltliteratur wird es nicht wenigen Lesenden so vorkommen, als ob sie ahnungslos seien wie beim ersten Mal.

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Geben wir es zu: Epen sind nicht einfach zu lesen, gelegentlich erscheinen sie uns fremd. All die Figuren, all die verworrenen Handlungen und dann auch noch die nicht immer alltägliche Ausdrucksweise, mit der selbst alltägliche Dinge beschrieben werden! Hinzu kommen die nicht enden wollenden Reden der Heroen (sie können alles, aber nicht miteinander reden) – noch regelmäßig verliert man den Überblick und die mühsam erarbeiteten Details sind bereits nach wenigen Wochen wieder vergessen. Eine kleine Hilfestellung ist es, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass der beschriebene Effekt als Teil der Konstruktion von großen Texten anzusehen ist, ja, auch als gelungener Effekt von ihnen. Man ist dann zumindest nicht allein mit seiner Vergesslichkeit. Einfach ist die Lektüre auch deshalb nicht, weil das Epos nicht eine Gattung unter vielen ist, sondern seit der Antike als herausragend gilt und Sammelplatz herausragender Werke eigener Faktur wurde. Johann Christoph Gottsched, der ‚Literaturpapst‘ der Aufklärung, nannte das Epos „das rechte Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie“. Nicht selten wurden Epen national vereinnahmt, obschon zwischen ihrer Entstehung und der vermeintlich zugehörigen Nation Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende liegen. Mit so viel Gewicht auf den Schultern sehnt man sich nach wenigen Zeilen des gut gemeinten Leseanfalls nach einer Pause – oder man muss sich frei machen von diesem Gewicht und die Geschichte der Texte als das wahrnehmen, was sie ist: als eine Geschichte, die nicht wenig für die Unlesbarkeit der Texte sorgte. Mit der neu in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienenen komparatistischen Einführung legen zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Hilfestellung vor, mit der man rasch jene Epen kennenlernt und aufgeschlüsselt bekommt, die man immer schon einmal lesen wollte. Durch die Beiträge werden vermeintlich unvergleichbare Werke vergleichbar gemacht. Es zeigt sich, dass die

Bauer, Manuel / Busch, Nathanael (Hg.)

Epen der Weltliteratur

Eine komparatistische Einführung

Das Epos gilt als die Königsgattung der Literatur und wurde lange Zeit als „Bibel eines Volkes“ (Hegel) gesehen. Die großen Epen entfalteten eine lange Nachwirkung, Versatzstücke epischen Erzählens sind allenthalben zu beobachten. Dieses Lehrbuch stellt erstmals unter Beteiligung unterschiedlicher Philologien klassische und traditions- sowie identitätsbildende Epen von der Antike bis in die Gegenwart gemeinsam vor. Sie alle zählen zum zentralen Bestand der Weltliteratur.

Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen überraschend hoch sind zwischen Texten wie Firdausis Schahname, dem Cantar de Mio Cid, John Miltons Paradise Lost oder Johann Wolfgang Goethes Hermann und Dorothea. Selbst in der Gegenwart wird fortlaufend mit dem „rechten Hauptwerk“ experimentiert. Es gilt also nicht nur viel zu entdecken, sondern ein klein wenig gibt es jetzt die Chance, jene Scham bei der nächsten Lektüre in puren Genuss zu verwandeln.

Publius Ovidius Naso

Epistulae ex Ponto - Briefe vom Schwarzen Meer

Herausgegeben, in deutsche Prosa übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Hartmut Froesch

Die Tristien und Epistulae ex Ponto des von Augustus verbannten Ovid sind der europäische Auftakt der Exilliteratur. Für die Tristien gibt es seit 1967 die Prosa-Übersetzung von Georg Luck, die Epistulae ex Ponto werden in dieser Ausgabe zum ersten Mal vollständig in deutsche Prosa übersetzt und mit Anmerkungen und einem ausführlichen Anhang versehen. Lassen Sie sich von der inhaltlichen Variation und vielen Glanzlichtern überraschen und entdecken Sie interessante Bezüge zu exilierten Schriftstellern späterer Zeiten.

Alfons Muchas Glasgemälde im Prager Veitsdom

Eine „Symphonie der Farben“

König, Jan Michael Ovids Ars amatoria und Remedia amoris im Licht ihrer Rezeption

Rollenspiele erotodidaktischer Kommunikation

Die Publikation widmet sich dem Glasgemälde von Alfons Mucha im Prager Veitsdom, das er von 1928 bis 1931 schuf. Erstmalig werden die Entstehungsgeschichte und inhaltliche Bedeutung dieses Werkes beleuchtet und mit den damaligen Ereignissen kontextualisiert. Es entstand im Spannungsfeld zwischen kirchlicher Kunst, kommerziellen Interessen sowie dem als Individualkünstler bekannten Mucha, der die nationale Identität der Tschechoslowakischen Republik in den ersten Jahren ab 1918 maßgeblich mitbestimmt hat.

Das Œuvre des Liebesdichters Ovid fasziniert seit über 2000 Jahren. Die dieser Begeisterung entsprungene Literatur ist jedoch kaum erforscht. Jan König präsentiert neueste theoretische Grundlagen für Rezeptionsstudien und zeigt durch erhellende Analysen, wie das facettenreiche Fortleben von Ovids Liebeskunst und Heilmitteln gegen die Liebe unser Verständnis der beiden Texte geformt hat und weiterhin vertiefen kann. Auf den Leser wartet eine reichhaltige Echokammer und Fundgrube, die in spannenden neuen Erkenntnissen zu den antiken Werken mündet.

Ahne, Marina Mythos Mutter

Die Frau als Mutter in der Gesellschaft

Dies ist kein Buch für oder gegen Mütter. Es ist vielmehr der Versuch, ein Thema zu beleuchten, welches mit zahlreichen Tabus belegt und gleichzeitig ‚in aller Munde‘ ist. Über Mutterschaft wird viel geredet und von Müttern wird allerhand erwartet: „Eine Mutter spürt, was ihr Kind braucht.“ Und was, wenn nicht?

Ahne richtet den Blick gänzlich auf die „Welt der Mutter“; auf Ideale und historische Realitäten, auf Vorstellungen von Mutterglück, aber auch auf emotionale Konflikte und Schwierigkeiten. Die Autorin stellt für gegeben Angenommenes infrage und macht damit den Mythos Mutter sicht- und greifbar.

Migration as a global challenge

A study of governance strategies pursued by state and non-state actors since 2015 based on a comparison between Mexico and Germany

Migration is an integral part of human nature. States, however, are still struggling to develop effective strategies towards migration governance. This is especially evident in the case of Mexico and Germany, two countries that have experienced high migratory pressure from 2015 onwards. This study examines migration governance in both countries from a cross-country perspective to draw broader conclusions regarding mitigation strategies of state and non-state actors in different settings. Furthermore, it presents recommendations for action at the level of individual countries and at the global level.

Human Remains

Ethische Herausforderungen für Forschung und Ausstellung

Human Remains finden sich weltweit in Sammlungen und Ausstellungen. Dabei stellt sich zunehmend die Frage, ob dies ethisch vertretbar ist, aber auch ob und gegebenenfalls wie ein angemessener Umgang mit ihnen in Museen und Forschung möglich ist. Um die divergierende Diskussion breit darzustellen, umfasst dieser Sammelband unterschiedliche fachliche Positionen, Herangehensweisen und Beispiele, die von Mumien, Moorleichen, Reliquien und Toi moko bis zu „Ötzi“ und zur „Körperwelten“-Ausstellung reichen.

1030805 BuHa € 40,00 wbg € 32,00

1030282 BuHa € 38,00 wbg € 30,40

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