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Vorwort
Die Absicht dieses kleinen Buches besteht darin, den Arzt ob all der technischen Fortschritte der Medizin dafür hellhörig zu machen, dass nicht nur die Krankheit, sondern der Mensch mit seiner Krankheit, und nicht nur diese beiden, sondern der Mensch mit seiner Krankheit in seiner Umwelt zu erfassen ist (Harvey Cushing). Diese Absicht haben im 20. Jahrhundert in Europa unter anderen Viktor von Weizsäcker und Thure von Uexküll und in den englischsprachigen Ländern William Osler, Harvey Cushing, Francis W. Peabody, George L. Engel und Bernard Lown besonders gefördert. Die begrüssenswerte Entwicklung der technischen Medizin (physikalisch-chemisch-mathematisch) hat den allmählichen Paradigmenwechsel* von einer Biomedizin zu einer biopsychosozialen, integrierenden Medizin immer wieder aus dem Blickfeld gedrängt. Es ist heute durch viele kontrollierte Studien eindeutig klar, dass das Gleichgewicht zwischen Gesundheit und Krankheit auch durch psychische und soziale Faktoren mitbeeinflusst werden kann, und dies betrifft die Wahrscheinlichkeit, krank zu werden, zu bleiben oder zu gesunden.
Die Notwendigkeit, den Paradigmenwechsel zu vollziehen, besteht fort. Das Thema ist in mir wach geworden und geblieben, seit ich in Rochester, NY, mit George Engel ab 1967 und in Ulm mit Thure von Uexküll ab 1971 über 25 Jahre lang zusammenarbeiten durfte. Diese Erfahrung hat zu einem ersten kleinen Buch geführt, das etwa 20 Artikel umfasste.
* Paradigma: Eine Gruppe von Theorien, die erklärt, wie ein bestimmtes
Thema zu einer bestimmten Zeit verstanden wird.
Diese entstanden von meiner Emeritierung im Jahre 2001 bis zum Jahr 2016. Seit dem Erscheinen des ersten Buches sind wiederum etwa gleich viele Artikel zum Thema Integration der biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Medizin in das neue Paradigma entstanden. Obwohl zum Teil publiziert, will ich sie wieder in einem Buch zusammenfassen, denn die Artikel sind in verschiedenen Journals erschienen und somit einem Leser des einen oder andern Journals entgangen. Zudem wage ich einen Vergleich: Der einzelne Artikel entspricht einer Muskelfaser, alle Artikel zu einem Buch zusammengestellt einem Muskel. Klar, dass die einzelne Faser weniger Kraft hat als die Zusammenfassung der Fasern zu einem Muskel.
In den 20 Jahren seit meiner Emeritierung setzte ich den Unterricht von Medizinstudenten im dritten Jahr am Krankenbett, die Supervision von zwei Ärztegruppen und die Arbeit in der Praxis ohne Unterbruch fort als Schulung im Erlernen der Integration somatischer, psychischer und sozialer Faktoren. Diese Tätigkeiten haben zu Anregungen geführt, die sich in diesem Buch niedergeschlagen haben. So kann ich dankbar sein, dass Salomo in meinem Fall nicht recht hat, wenn er nach Wilhelm Busch ausruft: «Vergebens predigt Salomo. Die Leute machen’s doch nicht so!»
Die einzelnen Beiträge bringen praktische Beispiele und den theoretischen Hintergrund dazu. Guter Wille und Freundlichkeit genügen für diese Art Medizin nicht. Es braucht Wissen und praktisches Können. Denn ohne Theorie ist der Arzt blind und ohne praktisches Können lahm.