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Elchin Guseinow und Karl-Heinz Becker
Elchin Guseinow und Karl-Heinz Becker. Montag, 29. Januar.
Die Medien hatten an diesem Montag, 29. Januar in ihrer bekannten Art vom Leichenfund berichtet, die einen auf der Titelseite, andere wiederum im Lokalteil. Immerhin: Grosse Spekulationen rund um die Tatumstände gab es keine.
«Gibt es Erkenntnisse für unsere Infowand?», wollte Joseph Ritter wissen. Es war 7.05 Uhr, zehn Minuten zuvor hatte sich das Team im Ringhof eingefunden. Regula und Elias hatten es sich in letzter Zeit zur Gewohnheit gemacht, Gipfeli von Beck Glatz an der Mittelstrasse mitzubringen, der Chef seinerseits betreute die Nespressomaschine und war für genügend Kapseln besorgt. Für die morgendliche Verpflegung gab es eine Kaffeekasse, aus der auch die Gipfeli bezahlt wurden, als Finanzminister amtete Stephan Moser.
«Ja, ein koreanischer Tourist hat vermutlich die Tat mitgehört. Er kommt in einer …» «Moment mal, was heisst… mitgehört, Stephan?», fragte Ritter nach, Moser erklärte den Sachverhalt. Ritter schrieb Stichworte dazu auf die Infowand. «Danke. Was wolltest du noch sagen?» «Herr Kim kommt in ungefähr einer halben Stunde vorbei, damit wir seine Aussagen protokollieren können. Der Polizeiposten in Hinterkappelen ist ja nicht immer besetzt, nur Montag und Donnerstag von 16 bis 18 Uhr. Oder nach Vereinbarung.»
Ritter wollte gerade mit Fragen zu weiteren neuen Erkenntnissen – die es bekanntlich noch nicht gab – weiterfahren, als sich sein Galaxy S9 mit dem AC/DC-Song meldete. Sehr rasch war klar, dass es um ein wichtiges Gespräch ging, setze sich Ritter doch an sein Pult, schrieb mit, wiederholte nur Stichworte. Sein Team unterhielt sich in dieser Zeit im Flüsterton. Nach knapp fünf Minuten bedankte sich Ritter bei einem «Herr
Rindlisbacher» für seinen Anruf und bat ihn, «noch heute Nachmittag zwischen 16 und 18 Uhr beim Polizeiposten Hinterkappelen vorbeizugehen und seine Angaben protokollieren zu lassen. Ich werde die Kollegen informieren.»
«Strix aluco sei Dank», erklärte er den drei Anwesenden. «Hä?» Moser sprach aus, was Wälchli und Brunner ebenfalls auf den Lippen lag. «Das ist der lateinische Ausdruck für den Waldkauz. Ein Ornithologe ist Fan des Waldkauzes.» «Sehr schön für ihn. Und was hat das mit uns zu tun?» «Stephan, dieser Lukas Rindlisbacher wohnt im obersten Stockwerk des Hochhauses Kappelenring 13. Und von dort aus beobachtet er unter anderem das Verhalten eines Waldkauzes.»
Noch immer verstand das Team nur Bahnhof, sodass der Chef Klartext sprach. Lukas Rindlisbacher hatte heute Morgen in der «Berner Zeitung» den Aufruf der Polizei nach möglichen Zeugen gelesen. Ihm kam dabei eine Beobachtung des vergangenen Sonntags, 21. Januar in den Sinn. Rindlisbacher fiel nämlich seit längerem das veränderte Verhalten eines Waldkauzes auf, der seine Nahrung immer öfter im nachts beleuchteten Kappelenring suchte, um anschliessend in den Wald zurückzufliegen. Rindlisbacher verfolgte diese Gewohnheit auch am letzten Sonntagabend, unmittelbar nach Ende des «Tatort» aus Münster mit Rechtsmediziner Professor Boerne, seiner Assistentin Alberich und Hauptkommissar Thiel. Dies war auch der Grund, weshalb er den Zeitrahmen seiner Beobachtung genau eingrenzen konnte, nämlich zwischen 21.40 und 22.00 Uhr, als Rindlisbacher die News auf TeleBärn verfolgte. Rindlisbacher sagte aus, dass er mit seinem Infrarotfernrohr in der Gegend des Bootshauses Personen gesehen habe, drei Gestalten, vermutlich Männer.
«Und? Haben sie jemanden zum Ufer getragen?», wollte Elias Brunner wissen. «Mehr hat er nicht beobachtet.» «Weil der Vogel seinen Vogel verfolgt hat, seinen Strix-weiss-nicht was?» «Nein, weil seine Frau ihn vom Balkon geholt hat, er würde sich sonst erkälten.»
«Super, liebe Frau Rindlisbacher, grossartig! Sie haben uns damit sehr geholfen!», rief Moser ironisch.
Eine Erkenntnis indes gab es: Der Fundort der Leiche eine Woche später spielte am Abend des Sonntags, 21. Januar mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine zentrale Rolle beim Verbrechen. Just im Moment dieser Erkenntnis klopfte es an der Türe. Es war Claudia Lüthi, Mitarbeiterin im Ringhof, Herrn Kim samt Gattin im Schlepptau.
Ritter bedankte sich bei Claudia Lüthi und begrüsste Herrn und Frau Kim, stellte der guten Ordnung halber alle Mitglieder des Teams vor, obwohl Herr Kim die Kollegen Moser und Brunner bereits kannte. Der Leiter des Dezernats Leib und Leben führte das Gespräch gleich selber, bat Herrn Kim «zuhanden des Protokolls» seine gestrigen Aussagen zu wiederholen, dabei sei jedes Detail wichtig.
Mitten im Gespräch klopfte es an der Türe, wiederum war es Claudia Lüthi, die sich mit entschuldigenden Worten an den Koreaner richtete. «Herr Kim, Sie haben Ihren Wagen ungünstig parkiert, eine unserer Patrouillen kann nicht ausfahren.» Herr Kim machte sich sofort auf den Weg, um das Auto umzuparkieren. Unterwegs fragte er die durchaus Englisch sprechende Claudia Lüthi, weshalb sie wisse, dass es sein Fahrzeug sei. «Herr Kim, wir sind hier bei der Polizei…», lachte Lüthi. Sie verschwieg dabei den Umstand, dass der Seat ein SH-Kennzeichen hatte, ein untrügliches Zeichen für Mietwagen, ähnlich wie bei AI.
Fünf Minuten später kam Herr Kim zurück. Er entschuldigte sich für sein Versehen. In der Zwischenzeit hatte Joseph Ritter Frau Kim einige Tipps für Sehenswürdigkeiten auf dem Weg nach Montreux gegeben: La Maison du Gruyère und das Musée HR Giger in Gruyères, La Maison Cailler in Broc. Frau Kim gab sich entzückt, zumal Ritter erwähnte, dass er selber drei Jahre in Korea verbracht hatte, als Sicherheitsberater bei den US-Streitkräften, genauer gesagt bei der Luftwaffe der United States Airforce USAF. Noch bevor Ritter Herr Kim weiter befragen konnte, wurde Herr Kim von dieser Neuigkeit durch Frau Kim ins Bild gesetzt; zur grossen Freude beider, zumal Ritter noch einige Sätze Koreanisch sprach.