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Warum wir nicht anders können

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WEITER K L A RT E X T / DA S M AGA Z I N DE R DEU T SCH E N JOU R NA L I ST E NSCH U L E L E H R R E DA KT ION 53K / J U N I 2 015

KLARTEXT NR. 35

Warum wir nicht anders können

Künstler entwickeln Joghurt aus Mensch

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Mit Nietzsche in der Achterbahn

Markus Rehm: Mit Prothese Deutscher Meister

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Porsche empfiehlt

und

Wir haben uns nur einen Luxus gegönnt: den, es nicht jedem recht zu machen. Der neue Boxster Spyder. Leichter. Stärker. Radikaler. Der neue Boxster Spyder treibt die Idee des Roadsters auf den Gipfel. Mit der geballten Mittelmotorperformance aus 3,8 Litern Hubraum: 276 kW (375 PS). Und mit einem puristischen Verdeck, das trotz seiner Alltagstauglichkeit vor allem auf ein niedriges Leistungsgewicht einzahlt. Das Cruisen? Überlassen wir den anderen. Mehr unter www.porsche.de/BoxsterSpyder

Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 14,2 · außerorts 7,5 · kombiniert 9,9; CO2-Emissionen 230 g/km

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IMPRESSUM WEITER // KLARTEXT NR. 35 Das Magazin der 53K der Deutschen Journalistenschule, München www.klartext-magazin.de/53K HERAUSGEBER Deutsche Journalistenschule e.V. Hultschiner Straße 8, 81677 München Tel. 089 2355740, post@djs-online.de www.djs-online.de CHEFREDAKTION Jan Schmidbauer (V.i.S.d.P.), Ana Maria Michel (Online) CHEFS VOM DIENST Elisa Harlan, Sebastian Grosser

Seit seiner Kindheit will Josef Neumair ein Perpetuum mobile bauen. Die Physik sagt, es geht nicht. Warum macht er weiter?

TEXTCHEF Alexander Sarovic ART DIRECTOR Bernhard Hiergeist LAYOUT Sina Ojo, Simone Stern BILDCHEFIN Julia Hägele AUTORINNEN Eva Casper, Sofia Faltenbacher, Christina Hertel, Julia Ley, Johanna Roth, Maria Caroline Wölfle BERATUNG Gaby Miketta (Konzept), Christian Bleher (Text), Lutz Widmaier (Layout), Gökalp Babayigit (Online), Erol Gurian (Foto) ANZEIGEN Jennifer Kalisch, DJS Schulungs- und Service UG (haftungsbeschränkt) Hultschiner Straße 8, 81677 München Tel. 05221 1211599 anzeigen@klartext-magazin.de LITHOGRAFIE Regg Media GmbH Dachauer Straße 233, 80637 München Tel. 089 1591820, www.reggmedia.de

F OTO: E ROL GU R I A N

DRUCK Bosch-Druck GmbH Festplatzstraße 6, 84030 Ergolding Tel. 0871 76050, www.bosch-druck.de WIR DANKEN Steffen Kühne (Programmierung), Benjamin Probst (Infografik), Victoria Steiner, Paul Lowe, Sebastian Hänel, Nick Jaussi, Janine Schiwon (Haare/Makeup), den Models Alice Hasters und Luis Mastellotto, der Macy Boutique in München für Location und schöne kleine Klamotten und dem Team der DJS COVER Aino Laberenz, fotografiert von Frieder Schlaich, Operndorf

EDITORIAL Weiter, immer weiter. Das hat schon der Mann gesagt, den sie Titan nennen. Weiter ist das, was die Menschen antreibt. Es muss weitergehen. Sagen alle. Weiterkämpfen, jeden Tag. Gegen Widerstände, Skepsis und manchmal auch nur gegen den klingelnden Wecker. Aber Weiter ist mehr. Weiter bedeutet auch, etwas zu hinterlassen, etwas weiterzugeben. Damit man in Erinnerung bleibt. Damit nicht alles umsonst war: das Leben, die Arbeit, der Bausparvertrag. Man muss immer weitermachen. So macht man das halt. Aufhören ist keine Option. Wieso verzichtet jemand jahrzehntelang auf Urlaub, um eine Maschine zu entwickeln, die es nach den Regeln der Physik nicht geben kann? Wir haben Menschen getroffen, die weitersuchen, sich nicht einschüchtern lassen, Grenzen überschreiten. Manche haben keine andere Wahl, andere sind auf der Suche nach einem Sinn. Und dann ist da noch die Erde, die sich einfach immer weiterdreht. Wir muten dem Planeten viel zu. Weil alle weiterwachsen: Die Städte, die Müllberge, alles wird größer. Warum können wir nicht anders? Das wollen wir mit Geschichten zeigen, die vom Weitermachen erzählen. Die Redaktion

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INHALT

WEITER KÄMPFEN VERBOTEN GUT Mit einer Prothese bricht Markus Rehm Rekorde im Weitsprung. Ein Problem .................................. 20 DER , DIE , DA S L IEBE Ihr Freund will als Frau leben. Noch gibt Anja die Beziehung nicht auf ................................. 36 DI E DU RC H H A LT E F OR M E L Warum geben wir uns nicht geschlagen? Eine Antwort aus der Hirnforschung .................................... 47 SCHNITT GEGEN SCHNITT Naserian wurde mit zwölf beschnitten. Jetzt will sie ihre Weiblichkeit zurück ................................... 54 NACH DEM BR A ND Ein Haus brennt nieder. Die Bewohner müssen weiterleben ......................................... 58 „ICH H A BE DIE A NGST BESIEGT“ Pater Mertes deckte Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche auf. Und blieb ihr dennoch treu ........... 64 DIE UNSOU V ER Ä NEN Sie lehnen den Staat ab, gegen jede Vernunft. Ein Besuch im Königreich Deutschland ................................ 70 NUR NOCH FÜNF MINUTEN Vom Kampf gegen den Wecker ............................................ 74

20 W E I T E R WA C H S E N I C H K A N N WA S , WA S D U N I C H T K A N N S T Skurrile Rekorde und Fakten ................................................ 23 VON M AGN ET EN U ND M ET ROPOL EN Lagos, Tokio, Istanbul. Wenn Städte explodieren ................. 24

S. 20 - Deutscher Meister mit Prothese

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SCHÖN ENG Eine Nummer größer, bitte: Auf Kleidersuche für die Generation Wide. Eine Fotostrecke .................................. 52

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WEITER GEBEN FÜR EUCH, K INDER Was für eine Welt hinterlassen wir unseren Nachkommen? Ein Blick in den Spielzeugkasten ............................................ 6 ZWISCHEN STOLZ UND VORU RTEIL Kinder prominenter Eltern erzählen von der Suche nach der eigenen Identität ............................... 8 „ICH H A BE NIE DIE BÜHNE G E WÄ H LT “ Aino Laberenz führt das Erbe ihres Mannes Christoph Schlingensief fort. Ein Gespräch .......................... 12 NIMM DA S! Was Menschen vererben ....................................................... 38

38 WEITER SUCHEN SI E H AT DEN DR EH R AUS Mitten im Bayerischen Wald wird von Professor Schreiber die Welt vermessen. Ein Besuch ............. 16 A LSO SPR ACH DIE ACHTER BA HN Mit Nietzsche im Vergnügungspark ....................................... 28 E I N E WA H R H E I T F Ü R A L L E 20 Jahre nach Srebrenica: Forensiker geben Vermissten ihre Identität zurück .......................................... 30 PLÖTZLICH WIEDER IM LEBEN Zehn Jahre saß Adam Schulz im Gefängnis. Jetzt ist er frei – und erkennt die Welt nicht wieder ............................. 44 DE R A LT E M A N N U N D DI E M A S C H I N E Josef Neumair forscht an einem Perpetuum mobile. Über ein unmögliches Projekt .............................................. 48 DIE ZU K U NF T IM RÜCK EN Wie wir Zukunft anders denken können ................................. 51

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WA RU M S C H U F T E ST DU ? Unsere Arbeit: Ein ganz normaler Wahnsinn ........................ 62 KUNST KOCHT IM L A BOR Wie werden wir in Zukunft essen? Künstler haben sich Gedanken gemacht ................................ 68

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FÜR EUCH, KINDER T E X T E VA CAS PE R

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Sprachen Wissenschaftler gehen von bis zu 6.500 lebenden Sprachen weltweit aus, von denen in diesem Jahrhundert circa 2.000 verschwinden werden.

FOTO EROL GURIAN

CO2 Wir pumpen es in die Atmosphäre und die Erde wird immer wärmer. Bis zum Jahr 2100 schätzungsweise um 5° Celsius. Die Folgen sind ein steigender Meeresspiegel, extreme Wetterlagen und das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten.

Abholzung Derzeit verschwinden jährlich etwa 13 Millionen Hektar Waldfläche weltweit. 35 Fußballfelder pro Minute. Dadurch steigt die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre und die Bodenerosion nimmt zu.

Weltraumtechnologie Leben auf dem Mars? Technisch ist die Auswanderung der Menschheit auf einen neuen Planeten möglich. Die NASA plant ab 2024 eine dauerhafte Basis auf dem Mond. Von dort aus soll die erste bemannte Reise zum Mars starten.

Schulden Deutschland hat derzeit 2036 Milliarden Euro Schulden. 26.345 Euro pro Kopf. 1.556 Euro kommen jede Minute hinzu. Die Bevölkerung müsste zehn Monate arbeiten, um sie abzuzahlen.

Essen für den Notfall Auf Spitzbergen werden 4,5 Millionen Pflanzensamen gelagert. Sie sollen der Menschheit nach einer Katastrophe einen Neuanfang ermöglichen.

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Internet

Erneuerbare Energien

Drei Milliarden Menschen sind über das Netz miteinander verbunden. Nachrichten erreichen mit einem Klick jeden Winkel der Erde. Das Internet ist ein schier endloser Wissensspeicher. Die aufkommende Datenmenge von nur einem Tag entspricht bereits dem 2.500-fachen aller Bücher, die je geschrieben worden sind.

Sie decken bereits 20 Prozent des Energiebedarfs in der Welt, hinterlassen kein CO2 und keine radioaktiven Abfälle.

Waffen Rund 650 Millionen Kleinwaffen gibt es heute weltweit. Damit hat jeder zehnte Mensch eine Waffe. Es werden zehnmal mehr Waffen produziert als zerstört.

Müll Wir hinterlassen täglich 3,5 Millionen Tonnen. Damit könnte man eine 5.000 Kilometer lange Kolonne von Müllautos befüllen – eine Strecke von Berlin bis Teheran.

Medizinischer Fortschritt

Artensterben

Pocken, Tuberkulose, Durchfall – früher bedeuteten diese Krankheiten oft den Tod. Die Lebenserwartung ist von 1900 bis heute um fast 40 Jahre gestiegen. Bei Männern beträgt sie 77 Jahre, bei Frauen 82 Jahre. Und unsere Kinder werden wahrscheinlich noch älter.

Jährlich verschwinden bis zu 58.000 Arten. Der Mensch ist damit für das größte Artensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier verantwortlich.

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Z W I S C H E N STO L Z U N D V O R U RT E I L

Ihre Eltern sind bekannte Offi ziere, Fußballprofis oder Politiker. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Pascal Köpke und Claudia Stamm haben den gleichen Beruf wie ihre Mutter oder ihr Vater. Und hinterlassen doch eigene Spuren.

Pascal Köpke Fußballprofi

Seit ich denken kann, habe ich mit dem Ball gespielt. Und seit ich Fußball spiele, habe ich den Traum, es professionell zu machen. Mein bisher schönster sportlicher Moment war sicher der Seitfallzieher-Treffer bei meinem Profidebüt im November 2013. Und auch mein erstes Länderspiel für die U20-Nationalmannschaft im letzten Jahr war sehr besonders für mich. Ich hoffe, dass es weiter so gut läuft. Wenn ich meine Leistung abrufe, kommt der Rest von selbst. Mein Vater ist da mein Vorbild. Er hat immerhin fast alles erreicht: Als Spieler wurde er 1996 Europameister, als Torwarttrainer 2014 Weltmeister. Er gibt mir sehr wertvolle Tipps, zum Beispiel in welcher Situation ich besser einen anderen Laufweg genommen hätte. Oder wann ich ruhiger am Ball sein sollte. Als Belastung empfi nde ich das nicht – im Gegenteil. Für mich ist das eine große Hilfe.

„IM TOR WAR ICH RICHTIG SCHLECHT“

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rüher haben wir oft zusammen im Garten Fußball gespielt, mein Vater und ich. Er stand dann jedes Mal im Tor, ich ihm gegenüber. Anfangs hat er die Bälle, die ich geschossen habe, absichtlich reingelassen, um mich gewinnen zu lassen. Ein paar Jahre später hat sich mein Vater dann ernsthaft Mühe geben müssen, meine Bälle zu halten. Irgendwann hat er es nicht mehr geschafft. Da hatte ich einfach mehr Kraft im Fuß.

Was ich an meinem Vater besonders schätze, ist, dass er immer für mich da ist. Und: Dass er meinen Traum ein Stück weit mitlebt. Wenn ich meinen Vater beschreiben würde, kämen auf alle Fälle die Adjektive bodenständig, humorvoll und ehrgeizig vor. Ich glaube, charakterlich bin ich ihm sehr ähnlich. Ich möchte jedes Mal gewinnen. Diesen enormen Ehrgeiz hatte ich schon immer, ganz egal ob im Fußball oder bei Brettspielen.

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PROTOKOLL SINA OJO UND SEBASTIAN GROSSER

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Trotzdem ist es nervig, wenn ich in jeder Spielzusammenfassung als „Sohn von Andreas Köpke“ bezeichnet werde. Auch wenn ich es nicht anders kenne, so bin ich aufgewachsen und daran habe ich mich gewöhnt. Das Gute ist ja, dass mein Vater Torwart war und ich Stürmer bin. Man kann uns also eigentlich nicht vergleichen. Dabei habe ich mich nie bewusst für die Stürmer-Position entschieden, um mich abzugrenzen. Ich habe nur sehr früh gemerkt, dass ich lieber Tore schieße. Im Tor war ich richtig schlecht. Bis jetzt habe ich meine Berufswahl nicht bereut. Ich bin froh, dass ich Fußballer sein darf. Meine Eltern fanden

meine Entscheidung gut. Meine Mutter und mein Vater haben mir aber auch vermittelt, dass ich immer auf dem Boden bleiben und weiter Gas geben soll und dass Fußball nicht alles, sondern der Schulabschluss mindestens genauso wichtig ist. Das würde ich meinen Kindern wohl auch sagen. Und natürlich, dass die Familie immer an erster Stelle steht. Pascal Köpke, 19, steht seit 2013 bei Fußball-Drittligist SpVgg Unterhaching unter Vertrag, für die er in der Saison 2014/15 bis Redaktionsschluss elf Treffer erzielte. Sein Vater Andreas Köpke ist Bundestorwarttrainer.

Berthold Schenk Graf von Stauffenberg Generalmajor a.D.

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eine ersten Erinnerungen beginnen zwischen 1936 und 1938 in Berlin, als mein Vater auf der Kriegsakademie war. Zum Beispiel, wie der Zeppelin über Berlin geflogen ist und mir mein Vater gezeigt hat, wie ein Punkt, der immer größer wird, auf unser Haus zufl iegt. Oder wie wir mit dem Motorboot über den Wannsee gefahren sind. 1938 sind wir nach Wuppertal gezogen, ein Jahr später begann der Krieg. Mein Vater war dann nur noch zu Kurzurlauben da. Das heißt, wir hatten kein Normalverhältnis. Wenn er da war, war das toll. Die Zeit, als unser Vater zu Hause war, haben wir Kinder genutzt. Meine Mutter hat sich dann beklagt, dass wir so brav sind, wenn der Vater da ist. Dabei war ich immer einer von der ruhigen Sorte. Mein Vater hingegen war berühmt für sein fröhliches Lachen. Das hat mir noch keiner gesagt. Soweit ich weiß, war mein Vater stets ein kritischer Geist, hat gerne widersprochen. „Die Nazis glaubten, er sei gegen sie. Und die Anti-Nazis glaubten, er sei für die Nazis“, hat meine Mutter mir später gesagt. Dabei hatte sich mein Vater einfach dazu entschieden, erst der Republik und nun auch dem neuen Staat zu dienen. Er war bereit, ihm eine Chance zu geben. Als ich von dem gescheiterten Attentat auf Hitler gehört habe, dachte ich zunächst: „Schrecklich! Wie kann ein Mensch den Führer umbringen wollen?“ Damit kam ich nicht zurecht und fragte mich: Warum hat mein Vater das gemacht? Auf der anderen Seite dachte ich,

„ICH WAR STOLZ AUF MEINEN VATER“

dass er schon einen Grund gehabt haben musste. Ich habe mich nie von meinem Vater abgegrenzt. Warum sollte ich auch? Ich war stolz auf ihn. Allerdings habe ich mich nur für den Beruf des Soldaten entschieden, weil ich mir dachte, das würde gut zu mir passen. Ich wusste um die Risiken, die damit verbunden waren. Bei allem, was ich gemacht habe, haben die Leute versucht, mich mit meinem Vater zu vergleichen. Da wir denselben Beruf hatten, war das unausweichlich. Da kam es darauf an, Eigenständigkeit und eigenen Wert zu beweisen. Es stört mich ein bisschen, dass ich oft als „Sohn des Hitlerattentäters“ vorgestellt werde. Zu Manfred Rommel habe ich gesagt: „Wir beide haben eines gemeinsam: Je älter wir werden, desto mehr werden wir der Sohn unseres jeweiligen Vaters. ➳

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Claudia Stamm Politikerin

„FORTAN HABE ICH GRÜN GEWÄHLT“

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in politischer Mensch war ich schon immer. Ich habe die Politik quasi mit der Muttermilch eingeflößt bekommen. Als ich ein Kind war, gab es genügend Situationen, in denen meine Eltern wollten, dass ich mich für die CSU engagiere. So musste ich CSU-Flyer verteilen oder sie wollten, dass ich bei einer Veranstaltung mit Franz Josef Strauß da bin. Allerdings bin ich dann bei der Bayern-Hymne nicht aufgestanden. Ich war ganz kurz in der Schüler-Union, habe aber schnell gemerkt, dass das nicht mein Zuhause ist. Im Freundeskreis und in der Verwandtschaft waren sehr grün-affi ne Menschen, die mich geprägt haben. Ich habe dann fortan immer Grün gewählt – mit einer Ausnahme. Mein Vater war bei der Vermittlung von Werten sehr prägend. Er war viel für mich da, hat teilweise Mutteraufgaben übernommen, in einer sehr katholischen Stadt zu sehr katholischen Zeiten. Gleichzeitig war ihm sehr wichtig, dass ich CSU-Mitglied werde. Ich glaube, dass ich jetzt

nicht darum bemühen, sie zu verstehen, zumal ich viel zu nah dran bin. Mein Standpunkt ist: Die öffentliche Ehrung meines Vaters ist eine Sache der Öffentlichkeit, nicht der Familie. Wenn es nicht manifest falsche Aussagen sind, dann ist das Teil der freien Meinungsäußerung. Jeder hat das Recht, meinen Vater zu bewerten, wie er will. Die Familie pflegt das Andenken auf ihre Weise. Wie wir das tun, geht niemanden etwas an. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, 80, ist Generalmajor a.D. der Bundeswehr. Sein Vater Claus Schenk Graf von Stauffenberg war Teil des Militärischen Widerstandes gegen Adolf Hitler am 20. Juli 1944.

für die Grünen im Landtag sitze, macht ihn auf der einen Seite stolz. Auf der anderen Seite bezeichnet er mich immer mal wieder despektierlich als „Die Grüne“. Da will er sich dann distanzieren. Das Verhältnis zu meiner Mutter ist auch sehr gut, aber anders. Wir haben in unserem Arbeitsleben miteinander zu tun. Da gibt es oft Reibungspunkte. Inzwischen reden wir aber seltener über Politik. Wenn wir uns im Landtag begegnen, kommen wir schnell auf familiäre Dinge zu sprechen. Als ehemalige Journalistin wäre es vollkommen naiv von mir zu glauben, dass Menschen keine Verbindung zu meiner Mutter herstellen. Ich glaube, dass nirgendwo sonst Mutter und Tochter aus unterschiedlichen Parteien im gleichen Parlament sitzen. Natürlich war es in der Pubertät sehr unangenehm, mit „Barbara“ angesprochen zu werden. Ich reagierte schon darauf. Zwar hatte ich auch überlegt, ob ich den Namen meines Mannes annehmen soll.

Aber wenn man in die Politik gehen will, wäre man dumm, „Stamm“ aufzugeben. Man kann damit tolle Wortspiele machen: Stamm-Wählerin oder StammTisch. Für mich gehört mein Nachname zur Identität. Wenn sich meine Kinder für die Partei meiner Mutter entscheiden würden, müsste ich es wohl akzeptieren. Momentan bin ich sicher, dass sie nicht in die Politik gehen, weil sie abgeschreckt sind. Ab und zu sagen sie: Die Partei von der Oma ist viel besser. Oder: Den Horst Seehofer mag ich. Keine Ahnung, ob sie das sagen, um mich zu ärgern. Sie sind sieben und zwölf Jahre alt. Bis sie wählen können, hoffe ich, dass sie für ihre Mutter stimmen. Falls ich dann noch in der Politik bin. Claudia Stamm, 44, sitzt seit 2009 für Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag. Ihre Mutter Barbara Stamm ist die Präsidentin des Bayerischen Landtags.

FOTO S : JA N SC H M I DB AU E R / PR E S SE FOTO B A R B A R A STA M M

Was wir selbst gemacht haben, interessiert keinen mehr.“ Obwohl wir beide ein ansehnliches Berufsleben vorweisen können. Was mein Vater zu meiner Bundeswehr-Karriere gesagt hätte, weiß ich nicht. Manchmal denke ich mir: Was wäre gewesen, wenn bestimmte Dinge anders gelaufen wären? Eine Frage, über die man stundenlang nachdenken und reden könnte. Das Ergebnis wäre trotzdem noch sehr hypothetisch. Mein Vater ist mit 36 Jahren gestorben und ich bin nun schon mehr als doppelt so alt. Ich hatte die Gelegenheit, andere Sachen zu lernen und internationale Erfahrungen zu machen. Die öffentliche Bewunderung für meinen Vater nehme ich zur Kenntnis. Ich werde mich aber

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FOTO S : JA N SC H M I DB AU E R / PR E S SE FOTO B A R B A R A STA M M

R PO RE ORTE TER R OHN NE GREN NZE ZEN E. ZEN E V. V - WWW WW..REP PORTE TER R-O OHN HNEE GR EG EN ENZE ZEN. ZE N.DE N. D DE SPEN SP NDE DENK NKON NK O TO ON O IBA BAN: DE26 DE26 DE 2 10009 00 0000 000 566 6677 77 7770 70 80 - BIC:: BEVOD DEBB B

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[ 20 JAHRE RE ]

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FOTO: N ICK JAUS SI

– WEITER ALS JE ZUVOR –

Aino Laberenz ist eigentlich Kostümbildnerin. Doch seit dem Tod ihres Mannes Christoph Schlingensief verwaltet sie auch seinen Nachlass

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ICH HABE NIE DIE BÜHNE G E WÄ H LT Ein Operndorf in Afrika – das war die letzte Vision des Künstlers Christoph Schlingensief. Seine Frau Aino Laberenz sorgt noch fünf Jahre nach seinem Tod dafür, dass dieser Traum Wirklichkeit wird. Ein Gespräch.

TEXT CHRISTINA HERTEL UND SINA OJO

FOTO: N ICK JAUS SI

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er Regisseur Christoph Schlingensief starb 2010 an Lungenkrebs. Seine Frau, die Kostümbildnerin Aino Laberenz, führt sein Erbe fort. Sie hat eine Biografie über ihn herausgegeben, organisiert Ausstellungen und verwirklicht seine letzte Vision: das Operndorf in Burkina Faso. Damit wollte Schlingensief zeigen, was die Kunst leisten kann, und dass das Verhältnis zwischen Menschen das größte Kunstwerk ist. Viele seiner Pläne sind heute Realität. Im Interview spricht die 34-Jährige über ihre Arbeit in Westafrika, den Traum ihres Mannes und ihre Angst zu scheitern. Nehmen Sie das Operndorf eigentlich als Ihr eigenes Projekt wahr? Ich habe es nie nur als Christophs Projekt oder als meines gesehen. Wir

„ER IST MEHR ALS NUR VORHANDEN“ haben es zusammen entwickelt. Ich habe es ja nicht einfach irgendwann übernommen. Sonst hätte ich es auch nicht machen können. Das Projekt bestimmt einen Großteil meines Lebens. Ich könnte es nicht machen, wenn ich nicht dahinter stehen oder versuchen würde, Christophs Rolle zu spielen. Mir bedeutet das Operndorf alles. Wie präsent ist Christoph Schlingensief heute noch in dem Dorf? Er ist natürlich der Gründer, der Visionär des Projektes. Er ist mehr als nur vorhanden, sowohl bei den Menschen,

die ihn kennengelernt haben, als auch bei denen, die ihn nicht mehr kennenlernen konnten. Christoph Schlingensief wollte ja nie als der klassische Entwicklungshelfer angesehen werden. Was ist dann die Idee hinter dem Operndorf? Helfen war noch nie ein Ansatz. Es ging um den kulturellen Austausch. Wir versuchen, so wenig wie möglich vorzugeben und den Menschen nicht irgendetwas aufzustülpen, sondern mit ihnen gemeinsam etwas zu erarbeiten. Mein Ziel ist, dass das Operndorf langfristig eigenständig wird und dass die Verantwortung nach Burkina Faso übergeht. Mit der Krankenstation haben wir das geschaff t, mit der Schule sind wir dabei. Außerdem geht es uns darum, andere Bilder von Afrika zu vermitteln. ➳ Welche?

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Christoph hat es gestört, dass wir immer die gleichen Vorstellungen von Afrika im Kopf haben, zum Beispiel Krieg und Armut. Von burkinischer Kunst wissen wir wenig. Deshalb soll das Operndorf auch in Deutschland eine Art Fenster werden. Wir wollen eine Kunst zugänglich machen, die man sonst nicht sehen würde. Nicht alle waren begeistert. Christoph ist auf Skepsis gestoßen und hat Irritationen verursacht. Viele Menschen hat der Begriff Operndorf gestört. Dabei hatte die Idee nie etwas

„CHRISTOPH WÜRDE ALLES ANDERS MACHEN“ mit Oper im klassischen Sinn zu tun. Es ging ihm darum, unseren starren Blick auf die Kunst zu erweitern. Bei seinen Projekten gab es immer große Diskussionen. Egal, ob bei seinen Filmen oder den Theaterstücken. Vielleicht, weil er anderen oft den Spiegel vorgehalten hat. Trotzdem hat er sich nicht von seinen Ideen abbringen lassen. Im Operndorf

ließ er zuerst die Schule bauen, nicht die Bühne. Wieso? Ihm war immer wichtig, mit den Kindern zu beginnen, weil er dachte, dass wir von dem unvoreingenommenen Blick eines Kindes etwas lernen können. Genauso wie er glaubte, dass wir auch von Afrika lernen können. Der zweite Schritt war die Krankenstation. Auch die ist mittlerweile fertig. Irgendwann kommt sicher die Bühne. Ich halte mich an die Bauphasen, die sich Christoph überlegt hat. Es ist aber auch wichtig, auf die Menschen vor Ort einzugehen. Ziemlich ehrgeizig. Können Sie das so einfach mit Ihrem Beruf als Kostümbildnerin vereinbaren? Damit verdiene ich mein Geld. Ich kann am Theater aber nicht eine Produktion nach der anderen machen. Dafür spannt mich das Operndorf zu sehr ein. Je nachdem, was anfällt, fl iege ich drei- bis viermal im Jahr nach Afrika. Und selbst wenn ich Kostüme entwerfe, muss ich auch ins Büro und dann zur Theaterprobe. Zusätzlich verwalten Sie den Nachlass. Was bedeutet das? Ich berate bei Ausstellungen, kuratiere, helfe beim Auf bau – das kommt auf die Anfragen an. Außerdem müssen alle Filme und Bilder archiviert werden und es gibt wahnsinnig viel

In der Schule lernen 200 Kinder (oben). Auf der Krankenstation (unten) werden im Monat 150 Patienten behandelt

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Aino Laberenz (oben) besucht das Operndorf etwa viermal im Jahr

Textmaterial. Ich überlege, was man davon veröffentlicht. Ich will, dass Christoph lange sichtbar in seiner Arbeit weiterlebt. Ist es schwer, sich nicht in dem Nachlass zu verlieren? Das mache ich nicht. Ich bin ein eigenständiger Mensch. Christoph war eine Rampensau, ich nicht. Ich habe nie die Bühne gewählt und würde das immer noch nicht tun. Aber ich habe gelernt, dass man nach vorne treten kann, wenn es um wichtige Dinge geht. Das Operndorf ist so eine Sache. Haben Sie Bedenken, dass manche Ihrer Entscheidungen nicht in seinem Sinn sein könnten? Es gibt Dinge, die er auf eine bestimmte Weise haben wollte. Daran halte ich mich. Trotzdem weiß ich, dass Christoph immer alles anders machen würde. Das ist seine Art. Gleichzeitig hat er mir sehr vertraut. Sind Sie momentan zufrieden damit, wie sich alles entwickelt? Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der mit nichts zufrieden ist. Wenn ich zufrieden wäre, würde ich stehenbleiben. Das ist gar nicht negativ gemeint, sondern hat eher etwas damit zu tun, dass ich in Bewegung bleiben will. Wie schwierig war es, ohne Ihren Mann weiterzumachen? Ich persönlich werde für immer etwas

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verloren haben. Aber Christoph hat so einen guten Zugang zu den Leuten in Burkina geschaffen. Ich spüre das heute noch und profitiere davon. Er hatte die Fähigkeit, Menschen für sich einzunehmen, ohne ihnen etwas aufzudrängen. Trotzdem ist das Projekt nicht an eine Person gebunden. Aber natürlich ist es auch sehr schwer! Beim Operndorf, aber auch bei dem Nachlass. Lassen sich auch ohne diesen prominenten Namen Unterstützer finden? Vor Ort ist das kein Problem. In Deutschland wird es immer schwieriger, an staatliche Gelder und Spenden zu kommen. Wir leben in einer Ge-

sellschaft, die permanent etwas Größeres, Neueres und eine HighlightMeldung nach der nächsten braucht. Hier in Deutschland ist es keine Nachricht wert, dass in Burkina Faso Kinder nach drei Jahren immer noch regelmäßig in eine Schule gehen können. Haben Sie je überlegt, das Operndorf nicht fortzuführen? Nein. Es ist ein Projekt, bei dem niemand wusste, wie es sich entwickeln würde. Mir war trotzdem immer klar, dass ich das durchziehe. Das heißt nicht, dass alles rosig und immer gut ist. Natürlich gibt es Phasen, in denen man denkt, es geht nicht weiter. Ich habe auch Ängste.

Zum Beispiel? Angst vor dem Scheitern. Ängste, dass man das Operndorf fi nanziell nicht sichern kann. Ganz existenzielle Ängste. Normale Ängste, glaube ich. Wie, glauben Sie, sieht Ihre Zukunft aus? Das weiß ich nicht. Ich war nie ein Mensch, der sich ein Leben zusammengebastelt hat. Und nach all dem, was ich erlebt habe, mache ich das immer weniger. Aber ich habe durchaus Träume. Nur, ob das in fünf oder zehn Jahren passiert – keine Ahnung. Welche? Ich wünsche mir, dass das Operndorf nicht nur überlebt, sondern lebt. ➳

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF - EIN MANN, DER POLARISIERTE Aktionskünstler, Theater- und Opernregisseur, Filmemacher, Provokateur. Bis zu seinem Tod mischte Christoph Schlingensief den Kulturbetrieb auf. Bekannt wurde er als Regisseur Anfang der 90er Jahre. Doch Schlingensief wirkte weit über die Kulturszene hinaus. Mit Aktionen wie „Bitte liebt Österreich“ sprengte er die Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit. Wie in der Fernseh-Show Big Brother konnten die Zuschauer Asylbewerber aus einem Container herauswählen. Bei den Wagner-Festspielen inszenierte Schlingensief 2004 den „Parsifal“. Vier Jahre später erkrankte er an Lungenkrebs. Ab dann kreiste seine Arbeit um die Krankheit. Seine letzte Vision war ein Operndorf in Burkina Faso. Mit Arien und Orchester sollte das Dorf aber nichts zu tun haben. Er plante eine Schule, eine Krankenstation und ein Theater. Schlingensief verstarb ein halbes Jahr nach der Grundsteinlegung. Heute besuchen 200 Kinder die Schule, auf der Krankenstation werden 150 Patienten im Monat behandelt.

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S I E H AT DEN DREH RAUS

Die Erde eiert, zumindest ein bisschen. Es ist eine Urfrage: Welche Kräfte bestimmen ihre Bahn? Im Bayerischen Wald sucht ein Physiker nach der Antwort.

TEXT ELISA HARLAN

an den haushohen Radioteleskopen vorbei, die hell in der Sonne leuchten, sein Ziel ist ein mit Gras bewachsener Erdhügel. Dort liegt der Ringlaser in einem unscheinbaren Betonbunker, geschützt von äußeren Einflüssen. Er ist in fünf Metern Tiefe in solides bayerisches Gestein gebaut. Der Besucher muss mehrere schwere Türen durchschreiten,

DIE WELTFORMEL, DIE ALLES LEBEN ERKLÄRT. NUR NICHT DAS WARUM I L LUST R AT ION: BE R N H A R D H I E RGE IST

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arkus Söder ist nicht an allem schuld“, sagt Professor Dr. Dr. Karl Ulrich Schreiber und tippt ungeduldig auf seinem iPad. Das Internet hängt. Für dessen Ausbau ist Söder als bayerischer Minister eigentlich zuständig. Doch den schlechten Empfang im Observatorium würde auch ein Breitbandausbau nicht verbessern. Schuld sind die drei Radioteleskope auf dem Gelände, das von einer Hochfrequenzschutzzone umgeben ist. Die Forschungsstation liegt in Wettzell, einem kleinen Dorf im Bayerischen Wald. Es riecht nach Landleben. Schwarze Tannen, Felder und eine Kapelle, in der verblichene blaue Plastikblumen in einer Vase zu Marias Füßen stehen. An diesem Ort wird die Welt vermessen. Hochmoderne Teleskope und Geräte berechnen hier die Lage der Erde im Weltraum. Schreiber sieht das nur wenig philosophisch, für ihn ist es reine Physik. Seine Aufgabe ist es, dass keine äußeren Einflüsse die sensiblen Messinstrumente stören und nichts anderes als die Rotation der Erdachse gemessen wird. Seit 27 Jahren arbeitet er im Observatorium. Dem 58-Jährigen und seinem Team ist es gelungen, den weltweit stabilsten Ringlaser zu bauen, der die Achsenrotation unmittelbar misst. Der Laser ist wichtig für die Bestimmung einzelner Punkte auf der Erde, etwa für neue Navigationssysteme in Flugzeugen, Autos und die Position von Satelliten. Schreiber geht zügig

um zum Laser vorzudringen. Der Geruch warm gelaufener Computer schlägt ihm entgegen. In der unterirdischen Höhle des Ringlasers sind konstant 12,5 Grad. Jede Änderung der Temperatur beeinflusst die Messungen, deshalb ist im Maschinenraum Stopp. „ Jeder Mensch heizt mit etwa 100 Watt, das würde am Sensor enorme Wellen schlagen“, sagt Schreiber. Seine Forschung will er nicht riskieren. Er deutet auf mehrere Geräte, die wie auf der Intensivstation an den Laser angeschlossen sind. Sie zeichnen Tag und Nacht Kurven, Punkte, Zacken. ➳

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I L LUST R AT ION: BE R N H A R D H I E RGE IST

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Als die Dinosaurier lebten, hatte der Tag nur 22 Stunden. Die Welt dreht sich immer langsamer. Deshalb müssen von Zeit zu Zeit Schaltsekunden eingefügt werden

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Die Zeit der Menschen ist nur eine dünne Seite Papier in der Geschichte des Universums

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Verändert es die Sicht auf die Welt, wenn man sich Vermessung der Erde einen Beitrag leisten.“ Ganz konkret jeden Tag mit der Bewegung der Erdkugel und dem bedeutet das: „Wir kommen morgens zur Arbeit und die Kosmos beschäftigt? Schreiber winkt ab. Nein, auf die Su- Kiste läuft mal wieder nicht richtig.“ Hinter der letzten che nach der Weltformel will er sich nicht begeben. Neben Tür liegt sie, diese Kiste und funktioniert so: Zwei Laserder Theorie tüftelt er gerne an der Technik seines Lasers. strahlen durchlaufen in entgegengesetzter Richtung eine Andere Physiker aber rechnen Zeit ihres Lebens an einer vier mal vier Meter lange, quadratisch angeordnete Bahn mit Spiegeln in den Ecken, die in sich wie in Formel, die alle Vorgänge im Universum einem Ring geschlossen sind. Die Maschine erklären soll. Albert Einstein zum Beispiel ist fest mit dem Boden verankert und dreht wollte, nachdem er seine Relativitätstheorie DER sich mit der Erde mit. Dadurch hat der eine aufgestellt hatte, noch tiefer in die Materie Laserstrahl in der Drehrichtung einen läneindringen: Folgt die Entstehung der Welt RINGLASER geren Weg als der gegenläufige Strahl. Die einem Plan? Bis zu seinem Tod suchte VERMISST Frequenz ändert sich und daraus kann man Einstein nach der Weltformel, umsonst. DIE WELT auf die Drehgeschwindigkeit der Erdkugel Auch Schreiber ist sich sicher, dass sie schließen. Schreiber geht aus der Höhle des existiert. „Unsere Schöpfung wird bestimmt Ringlasers, entlang an den riesigen Schüsnicht in einen elektromagnetischen und einen quantenmechanischen Teil unterschieden. Alles seln, die sich alle drei Minuten drehen und Strahlungen muss zusammenhängen“, sagt er. Doch seine ganze Auf- von weit entfernten Objekten einfangen, den Quasaren. merksamkeit gilt der Ringformel. Er sieht das nüchtern: Diese Galaxien, in deren Mitte ein Schwarzes Loch ist, be„Wir beschäftigen uns nicht mit Grundlagenforschung.“ fi nden sich am Rande des beobachtbaren Universums, Schon seit den 90er-Jahren befasst sich Schreiber mit der endlos im Abstand, weit zurück in der Zeit. Die Ergebnisse Ringlasertechnik. „Ich dachte, es wäre doch nett, einfach des Ringlasers stimmen mit jenen der Radioteleskope in den Keller zu gehen und dort die Rotation der Erde zu überein, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Lage der messen“, sagt er. Er betont aber auch, dass er mit seiner Erde im Raum vermessen. Damit sind systematische FehForschung niemals ein Weltbild verändern wird. Weltver- ler nahezu ausgeschlossen. Mit diesen Quasaren als Fixbesserer will er sich schon gar nicht nennen. „Ich baue halt punkte berechnen die Teleskope die Position der Erde im gerne bessere Laser“, sagt er. Und: „Wir wollen bei der Weltraum und erfassen damit auch ihre Drehung. „Quasa-

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DER DREHIMPULS IST SCHULD, DASS WIR UNS IMMER WEITERDREHEN

re sind über Milliarden von Lichtjahren hinweg noch zählt er. Voraussagen kann der Ringlaser das nächste wahrnehmbar. Das sind Mordsstrahler, da ist richtig was Beben aber nicht. „Wenn die Erde bebt, ist der Laser so gut geboten“, sagt Schreiber. Was exakt ein Quasar ist, weiß wie das umkippende Bücherregal“, sagt er. Weil die Erde aber keiner wirklich, sie sind zu weit weg. sich langsamer dreht, muss Schreiber sich noch mit einer Der Ringlaser zeigt, dass die Erde wie ein Kreisel ei- weiteren Dimension beschäftigen: der Zeit, die mit der Geert. Unsere Kugel ist nicht perfekt rund, die Massenvertei- schwindigkeit der Erde verbunden ist. Da die sich unregellung ungleichmäßig. Die Lage ihrer Rotationsachse mäßig schnell dreht, werden immer wieder Schaltsekunden schwankt im Raum, weil die Kräfte von Sonne und Mond in die Uhrzeit eingebaut. Nichts Menschengemachtes, an ihr zerren. Die Achse zieht einen Kreis von einem Me- nicht mal mehrere Atombomben könnten die Erde aus ihter – wenn man direkt auf dem Nordpol steht. Dazu kom- rer Bahn bringen. „Mehr Angst muss man vor einem Memen zwei andere Effekte: „Chandler Wobble“ nennt man teor oder einem Kleinplaneten haben, der in die Erde reindie Bewegung der Pole durch Ozeanbewegungen, Wind rumpelt“, sagt Schreiber. Die Erdkugel ist kein und Luftdruck. Das Phänomen ist benannt nach seinem Leichtgewicht, sie besteht aus sechs Trillionen Tonnen Entdecker Seth Carlo Chandler. Der „Annual Wobble“ Kruste, Gestein und einem festen Eisenkern. Trotzdem hingegen entsteht, weil die Erde auf einer elliptischen sausen wir mit 1.667 Kilometern pro Stunde, einmal pro Bahn um die Sonne düst. Zudem treten Neigungen der Tag um unsere eigene Achse. In Deutschland bewegen wir Erdoberfläche auf. Diese werden in Nanoradiant berech- uns mit 200 Metern nach Osten – pro Sekunde. Dass uns net, das sind winzige Einheiten. „Würde man Deutschland kein tosender Wind um die Ohren fegt, liegt daran, dass an der Zugspitze festhalten und Flensburg um einen Milli- sich die Atmosphäre mit uns dreht. meter anheben, so hätte man die Bundesrepublik um ein Zurück in den Büroräumen des Wissenschaftlers. In Nanoradiant verkippt“, sagt Schreiber. Durch diese Kräfte den Regalen physikalische Fachliteratur, schwere Bände beeinflusst, rotiert die Erde pro Jahr etwa 0,02 Millisekun- mit Goldschrift, dünne Hefte mit bunten Grafi ken von den langsamer. Dinosaurier hatten demnach einen schwarzen Löchern, vereintes Wissen über das Leben. Der 22-Stundentag. Die Erdkugel bremst fast unmerklich ab, Urknall, die Evolution, alles ist physikalisch erklärbar. Was aber stehenbleiben wird sie nie, da ist Schreiber sich sicher. aber ist, wenn man noch weiter zurückgeht: Warum gab es Ihre Drehung folgt einem physikalischen Grundgesetz, das den Urknall? Das Zurückschreiten ins Unendliche einer besagt, dass der Drehimpuls erunendlichen Kette, infi niter Rehalten bleiben muss und nur gress. Die Phase der Menschheit durch eine Einwirkung von außen als eine dünne Seite Papier im gestört werden kann. Diesen Imendlos aufgetürmten Stapel des puls hat sie bei der Entstehung des Universums. Jetzt wird Schreiber Sonnensystems bekommen. Wenn doch noch ein bisschen philososie sich nun langsamer dreht, geht phisch: „Es wird niemals eine letzkeine Energie verloren: Was die te Theorie geben“, sagt er. Die Erde an Geschwindigkeit verliert, Naturwissenschaft sei noch voller gewinnt der Mond hinzu. Auch Baustellen, die Forscher immer große Verschiebungen auf der Erauf der Suche nach dem Widerde, die durch Erdbeben oder Gletspruch, ohne den es keinen Fortscherschmelzen ausgelöst werden, schritt geben kann. Der Prozess können die Drehgeschwindigkeit der immer weiter getriebenen beeinflussen. Am 11. März 2011 Verfeinerung fi ndet in der Physik zeigten sich Erdbebenwellen auch kein Ende. auf den Wettzeller Monitoren. Aber die Frage nach dem Schreiber staunte über die Daten, großen Warum bleibt. Schreiber die der Ringlaser ausspuckte. sagt dazu: „Wir kennen die Wirk„Dann haben wir die Nachrichten lichkeit nicht, sondern nur Modelangemacht und gesehen: In Fukule der Wirklichkeit. Aber die sind Professor Schreiber kennt jede Schraube seines Ringlasers „G“ shima gab es ein Erdbeben“, ernicht schlecht.“ ➳

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„Hätte ich den sechsten oder siebten Platz gemacht, hätten wahrscheinlich alle gesagt: Ein tolles Zeichen für die Inklusion“

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V E R B OT E N G U T Mit 14 verlor Markus Rehm seinen rechten Unterschenkel. Heute bricht er als Weitspringer Rekorde. Seine Leistungen sind eine Sensation – und ein Problem.

TEXT JAN SCHMIDBAUER

FOTO: JA N SCH M I DBAU E R

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ls Markus Rehm bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm aus der Kuhle hüpft, sich den Sand abschüttelt und zur Anzeige blickt, muss er gleich noch mal hinsehen. Er wusste, acht Meter sind drin, wenn es gut läuft. Training vor der Arbeit, nach der Arbeit, am Wochenende. Aber 8,24 Meter? Deutscher Meister im Weitsprung? Der 26-Jährige mit den gegelten Haaren und den eisblauen Augen lächelt, wenn er das erzählt. Er lächelt sowieso fast immer. Wie Animateure im Club-Urlaub. Nur nicht so aufdringlich. Sein Titelgewinn im Sommer 2014 war eine Sensation. Er wurde bejubelt, bestaunt, saß noch am selben Abend im Sportstudio. Trotzdem waren andere Athleten verärgert. Er habe einen Vorteil, sagten sie. Weil er beim Springen eine Carbon-Prothese trägt. Dort, wo mal sein rechter Unterschenkel war. Rehm arbeitet neben dem Sport als Orthopädietechniker im rheinischen Troisdorf, halbtags. Er hat noch einen Termin vor dem Feierabend, mit Iwan, einem kräftigen Mann mit Arbeiterhänden. Der plaudert viel, klagt über den Stau auf der A3 und erzählt von seinem neuen Hund. „Ein riesiges gelbes Vieh mit schwarzer Fresse.“ Iwan kommt extra wegen Markus Rehm hierher, so wie viele andere auch, seit seinem Sieg in Ulm. Rehm ist 14 Jahre alt. Er hängt am Motorboot seines Vaters und fährt Wakeboard auf dem Main, bei Würzburg. Nach einem Sprung muss er die Leine loslassen und stürzt ins Wasser. Als er auftaucht sieht er, dass ein Boot auf ihn zufährt. Der Kapitän bemerkt ihn nicht. Rehm versucht , auszuweichen. Doch die Schiffschraube erfasst seine Beine. Tagelang versuchen die Ärzte, sie zu retten. Schließlich müssen sie den rechten Unterschenkel wegen einer Blutvergiftung amputieren. Rehm war gezwungen, sich mit Prothesen zu beschäftigen. Aber er war auch neugierig, machte ein Praktikum im Sanitätshaus. Inzwischen hat er seinen Meister. Jetzt steht er in der Werkstatt und bessert Iwans Prothese aus, die zu locker sitzt. Es riecht nach Gips und Klebstoff. Rehm füllt den Schaft des hautfarbenen Kunststoffbeins mit einem Harz. Als das Material ausgehärtet ist,

schleift er die Oberfläche glatt. Dann bringt er sie zu Iwan. Der steckt seinen Stumpf in die Prothese und grinst. Passt. Rehm muss nun nach Leverkusen zum Training. Er ist spät dran, steht mal wieder im Stau, Feierabendverkehr. „Wir müssen uns ein bisschen beeilen.“ In der Umkleide wuchtet Rehm seine Tasche auf die Bank, nimmt seine Alltags-Prothese ab und montiert das gebogene Stück Carbon an seinen Oberschenkel, über das seit letztem Sommer so viel gesprochen wird. Es ist extrem leicht und trotzdem steinhart. Gehen ist schwer damit. Auf dem Weg zur Tartanbahn liegt ein grüner Teppich, der ihm Halt gibt. Rehms Carbonfeder ist ein Standardteil. Jeder kann es kaufen. „Das ist mir auch extrem wichtig“, sagt er. Die bes-

REHM SPRINGT EINEN METER WEITER ALS DIE ANDEREN - WELTEN ten Weitspringer im Behindertensport springen alle mit dieser Feder. Und trotzdem hat er keine Konkurrenz. Rehm springt mindestens einen Meter weiter als die anderen Sportler mit Handicap. Welten im Weitsprung, einer Sportart, in der Rekorde oft jahrelang bleiben. So wie der weiteste Sprung aller Zeiten: Mike Powell, 8,95 Meter, Tokio 1991. Vielleicht ein Sprung für die Ewigkeit. Ein sonniger Frühlingsabend. Trainiert wird draußen. Diskuswerfer, Speerwerfer, Sprinter, überall im Stadion Athleten von Bayer Leverkusen. Auf den Bänken diskutieren drei Jungs über Alufelgen, ein Ghettoblaster spielt amerikanischen Westküsten-Hip-Hop. Rehm trainiert heute nur Sprints. Weitsprung ist für ihn wichtiger. Aber das Sprinten ist eine gute Ergänzung. Mit drei anderen Sportlern will Rehm in der 4x100 Meter-Staffel paralympisches Gold holen. Er spurtet mit dem Staffelstab los. Die ersten Schritte sind lang, dann werden sie kürzer und schneller. Mit klackernden Geräuschen krallen sich ➳

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die Spikes seiner Carbonfeder in die Tartanbahn. Je mehr Tempo er aufnimmt, desto runder ist sein Lauf. Die Feder funktioniert wie ein Fußgelenk. Sie gibt die Energie, die auf sie einwirkt, zurück. In der Kurve spurtet er auf den zweiten Läufer zu. Die Übergabe gelingt. Seine Trainerin ist Steffi Nerius, ehemalige Weltmeisterin im Speerwurf. Sie ist wie Sportlehrerinnen in der Schule: streng aber fair, eine Hand immer an der Stoppuhr. Rehm fühlt sich wohl bei ihr. Nerius bremst ihn auch mal ein, wenn es ihm schlecht geht. Er braucht das. Rehm ist Perfektionist, nie zufrieden. Beim Wettkampf neulich in Dubai gewann er wieder. Nur die acht Meter packte er nicht. Da war er „total am Ausfl ippen“. Er will noch weiter springen, obwohl im Behindertensport sowieso keiner an ihn rankommt. Im Sommer 2014 dann die Chance, endlich eine Herausforderung: Deutsche Meisterschaften. Der Verband will ihn dabeihaben. Es soll ein Experiment sein. Die erste Teilnahme eines Sportlers mit Handicap bei einer Meisterschaft der Nichtbehinderten. Und dann passiert etwas, womit eigentlich keiner gerechnet hat: Rehm gewinnt. Christian Reif, der Favorit, wird nur Zweiter, obwohl er bei jedem Versuch weiter als acht Meter fl iegt. Der Triumph von Markus Rehm wird gefeiert und bestaunt. Doch am selben Abend gehen die Diskussionen los: Hat er durch die Prothese einen Vorteil? Geht das überhaupt: Inklusion im Profisport? Die Debatte war von Anfang an aufgeladen. Für die Skeptiker war es auch nicht leicht. Kritik an einem behinderten Sportler: ein Tabubruch. Sebastian Bayer, einer der Favoriten auf den Meistertitel, beschwerte sich nach dem Wettkampf über Rehm und seine gebogene Carbonfeder: „Ich weiß nur, dass die Prothese gefühlte 15 Zentimeter länger ist als das andere Bein. Mein Sprungbein ist genauso lang wie das andere.“ Es folgte: ein Shitstorm. Nach den Deutschen Meisterschaften änderte der Leichtathletik-Ver-

„ICH DACHTE: KANN ICH JEMALS WIEDER SPORT MACHEN?“ Manchmal besucht er Patienten im Krankenhaus und spricht mit ihnen über den neuen Begleiter, die Prothese. „Viele sagen zwei Wochen nach ihrer Amputation, dass sie das schon abgehakt haben.“ Für Rehm ist das falscher Stolz. Es gab Fragen, die konnte ihm keiner beantworten. „Ich hab gedacht: Kriege ich überhaupt noch eine Freundin? Kann ich jemals wieder Sport machen?“ Unbegründete Sorgen, sagt er heute. Doch es gibt Menschen, die zerbrechen an ihren Zweifeln. Er will ihnen Mut machen. Seit seinem Meistertitel ist Rehms Terminkalender noch voller. Urlaub gab es lange nicht mehr. Aber er liebt das, was er macht. Wenn er darüber spricht, was nach dem Sport kommen könnte, ist da keine Wehmut. Er will dann in Vollzeit als Orthopädietechniker arbeiten. Vor ein paar Tagen war ein Junge da. Rehm baute ihm seine erste Sportprothese. Der Junge probierte sie an, lief los, dann weinte er. Rehm sagt: „Ein 11-Jähriger, der ➳ wieder rennen kann, das ist doch das Allergeilste.“

FOTO: SEBASTIAN HÄNEL

Markus Rehm will weiter springen, obwohl er im Behindertensport keine Konkurrenz hat

band das Reglement. Sportler mit Handicap können an Wettkämpfen mit Nichtbehinderten teilnehmen, werden aber separat gewertet. Rehm darf seinen Meistertitel behalten. Die Sprünge in Ulm wurden zwar von Biomechanikern analysiert, doch bislang konnte keine Studie zweifelsfrei beweisen, dass er einen Vorteil hat. Wenn das so wäre, würde er auch gar nicht gewertet werden wollen, sagt er. „Ich möchte nur die Wahrheit wissen.“ Rehm kann mit der Situation leben. Ehrgeizig trainiert er für die Paralympics in Rio 2016. Und doch nagt etwas an ihm. Vielleicht hat er wirklich keinen Vorteil und ist eben einer der besten Weitspringer. Es stört ihn, dass seit seinem Sieg alle über die Prothese reden statt über seine sportlichen Leistungen. „Hätte ich den sechsten oder siebten Platz gemacht, hätten wahrscheinlich alle gesagt: Ein tolles Zeichen für die Inklusion.“ Rehm will nicht provozieren. Das passt nicht zu ihm. Er ist kein kühler Taktiker. Sein Ziel ist, dass der Behindertensport mehr wahrgenommen wird. „Bei uns werden auch TopLeistungen gebracht“, sagt er. Rehm will zeigen, dass man viel erreichen kann, auch mit einer Behinderung. Rehm spricht über die ersten Wochen nach der Amputation. Er weiß noch wie das war. „Man ist einfach verzweifelt.“ Die Rehaklinik war weit weg von seinem Elternhaus bei Stuttgart. Er hatte Zeit, haderte, fragte sich: Wie geht es weiter? Das war im Nachhinein gut, sagt er. Sowas könne man eigentlich nur mit sich selbst ausmachen.

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T EARL W C HZ SUEVNO R – – – W– EW I TEEI R S A JE

I C H K A N N WA S , WA S D U N I C H T K A N N ST Länger, weiter, absurder. Sechs skurrile Rekorde zum (Nicht-)Nachmachen.

ZUSA M MENGESTEL LT VON SINA OJO

W EITER DR EHEN Können Sie einen Basketball auf Ihrem Zeigefi nger drehen? Michael Kopp alias B. Magic kann das und mehr. Der Freestyle-Basketballer aus Hamburg nahm den Kopf einer Zahnbürste in den Mund und balancierte auf deren Ende einen Basketball 26 Sekunden lang. Damit übertraf Kopp den bisherigen Rekord um über zwölf Sekunden.

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WEITERLACHEN „Treffen sich zwei. Kommt einer nicht.“ Zugegeben, der Witz zerreißt einem nicht gerade das Zwerchfell. Darum ging es aber auch gar nicht. Zumindest für Clive Greenaway. Dem Briten kam es auf Quantität an. Er erzählte einen mehr oder minder guten Einzeiler nach dem anderen. Am Ende waren es 26 in einer Minute. Weltrekord.

FOTO: SEBASTIAN HÄNEL

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WEITERFAHREN Sportlich, sportlich! Im März 2012 stellte sich die ehrgeizige amerikanische Ziege Happie auf ein Skateboard und fuhr 36 Meter weit. Erst ein Bordstein stoppte das Tier. Den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde sicherte sich Happie trotzdem. WEITERFORSCHEN Britische Wissenschaftler haben ein WC entwickelt, das sehr umweltschonend und kostengünstig arbeiten soll. Und zwar mit: Urin. Das Ganze funktioniert mittels Brennstoffzellen, die den Urin zersetzen und so Strom erzeugen. Was sich seltsam anhört, hat eine ernste Absicht. Der Strom soll zur Beleuchtung in Flüchtlingshäusern eingesetzt werden.

400 WEITERSPRINGEN Bei einer Körperlänge von nur ein bis vier Millimetern können Flöhe bis zu 35 Zentimeter weit springen. Würde ein Mensch im Verhältnis die gleiche Leistung erbringen wollen, müsste er 400 Meter zurücklegen.

WEITERLIEBEN In Deutschland werden jährlich etwa 170.000 Ehen geschieden. Über diese Zahl hätten der US-Amerikaner Herbert Fisher und seine Frau Zelmyra sicher nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Denn die beiden hielten sich sehr lange die Treue. Stolze 86 Jahre und 290 Tage waren sie verheiratet. Im Februar 2011 starb Herbert mit 105 Jahren, Zelmyra dann 2013, ebenfalls im Alter von 105 Jahren.

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26 Witze in einer Minute? Ein Klacks! Wir haben einige kuriose Rekorde nachgestellt. Die Videos der Klasse finden Sie unter www.klartext-magazin.de/53K/rekorde

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VON MAGNETEN UND METROPOLEN

Lagos, Tokio, Istanbul: Sie ziehen Millionen Menschen an. Und kommen an ihre Grenzen. Wie Städte in verschiedenen Regionen wachsen.

KONZEP T SEBASTIAN GROSSER UND JULIA LEY

LAGOS

GR AFIK BENJAMIN PROBST

Die größte Stadt Afrikas. Die nigerianische Hafenstadt gehört zu den am schnellsten wachsenden Städten der Welt. 70 Prozent der Bewohner von Lagos leben in großer Armut. Die meisten sind Flüchtlinge, die vor Boko Haram in den reichen Süden fliehen. Von dem Ölreichtum Nigerias profitiert aber nur ein Bruchteil der Bevölkerung. Der Unterschied zwischen Arm und Reich prägt das Stadtbild: Auf der einen Seite die großen Slums mit ihren provisorisch errichteten Blechhütten, auf der anderen die luxuriösen Neubauten, ein Zeichen von Nigerias wachsender Wirtschaftskraft.

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Mehr Bewohner, mehr Fahrzeuge, mehr Abgase. Meist alte Autos aus Europa

Nur 3,9 Millionen Menschen gehen einer geregelten Arbeit nach

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Viele Bewohner der Slums haben keinen Zugang zu Wasser oder Strom

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TOKIO

– WEITER WACHSEN –

Die größte Metropolregion der Welt. Mehr als 37 Millionen Menschen leben im Großraum Tokio dicht gedrängt zusammen. Trotzdem gilt die japanische Hauptstadt als eine der sichersten und saubersten Metropolen weltweit. Gute Organisation, modernste Technologie und die Erwartung, dass der Einzelne sich für das Gemeinwohl zurückstellt, ermöglichen ein reibungsloses Miteinander. Doch die Bewohner Tokios werden immer älter. Neue Stadtviertel werden deshalb altersgerecht angelegt: Barrierefreie und kurze Wege, zum Beispiel ins Krankenhaus, sind maßgebend.

Platz ist in Tokio rar. Auf einem Quadratkilometer leben 4.750 Menschen

Über 19 Millionen Mensch haben Arbeit, Platz 2 hinter Chongqing (China)

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Legende auf Seite 26

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ISTANBUL

– W – EWI TE EI TR E A R LW S AJ C E HZSUEVNO –R –

Die Weltstadt zwischen Orient und Okzident. Istanbul war jahrelang Hauptstadt eines Weltreichs. Die Regierung Erdoğan will daran anschließen und hat große Pläne. Zum Beispiel den größten Flughafen der Welt oder einen U-BahnTunnel unter dem Bosporus. Auch ein zweiter Kanal zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer ist in Planung. An den Ufern sollen Wohnungen für bis zu 500.000 Menschen entstehen. Doch Großprojekte wie diese sind umstritten, wie die GeziProteste im Sommer 2013 zeigten. Weil die Regierung einen der letzten grünen Parks im Herzen Istanbuls in ein Einkaufszentrum verwandeln wollte, gingen im ganzen Land Menschen auf die Straße.

J S IS

tung r war e s n e L e b h r e n) f a Ko p (i n J pro h c r a u h r) a verb rgie oule / J e n f E j a g Ko p i pro t (in G k du spro land n i o tt Bru f Ko p p r o r) e h c e et nflä Grü uadratm f Q Ko p n i ( pro h c u a e r b r / J a h r) r ser v Wa s e k t o l i t e m (in H hstu swac g n ru ) ö l ke B ev illionen (i n M stoß ) Aus / Jahr 2O en C n n o (in T

Der Bosporus ist Wirtschaftsfaktor, aber auch Lebensraum. Viele Bauten sind illegal und nicht erdbebensicher errichtet

Q U E L L E N: U N , O E C D , W E LT B A N K , S I E M E N S , T H E E C O N O M I S T, B RO O K I N G S

Istanbul boomt. 2014 stieg die Beschäftigung um 6,5 Prozent auf 4,9 Millionen

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6 To

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Q U E L L E N: U N , O E C D , W E LT B A N K , S I E M E N S , T H E E C O N O M I S T, B RO O K I N G S

Sehr starker Kopfschmerz

Lähmung, Taubheitsgefühl

Sprach- und Sprachverständnisstörung

Schwindel mit Gangunsicherheit

Wir danken für den kostenlosen Abdruck

JEDER SCHLAGANFALL IST EIN NOTFALL

Sehstörung

6FKODJDQIDOO LVW GLH GULWWKlXÀ JVWH Todesursache in Deutschland.

Spendenkonto Sparkasse Gütersloh IBAN: DE80 4785 0065 0000 0000 50 BIC: WELADED1GTL

Wir setzen uns dafür ein, dass weniger Menschen daran sterben.

Weitere Informationen: Tel.: 05241 9770-0 schlaganfall-hilfe.de

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ALSO SPRACH DIE ACHTERBAHN Alles wiederholt sich im Leben, alles war schon einmal da und manchmal tut es sogar weh. Trotzdem machen die Menschen weiter. Wo könnte man diesem Phänomen besser nachgehen als in einer Achterbahn?

TEXT BERNHARD HIERGEIST

•••

ILLUSTR ATION VICTORIA STEINER

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ie Ersten seien schon gestern Abend mit dem Wohn- muss auch Aufschluss über das Leben geben. Life is a rollermobil gekommen, sagt die Frau im Kassenhäus- coaster, sagte mal ein anderer großer Philosoph. chen. Aus Österreich. „Wir haben einige ganz groEs ist ein kühler Tag, der Frühling kämpft noch mit ße Fans“, sagt sie und schiebt mir das Wechselgeld dem Winter, Saisonstart im Bayernpark. 40 Hektar Vergnühin. „Und Sie? Sind Sie ganz alleine da?“ gungspark bei Reisbach in Niederbayern. Dort, wo die Nein, nicht ganz. Ich bin mit Nietzsche da. Menschen nicht „meinetwegen“ sagen, sondern „zwecks Also sprach Zarathustra steckt in der Innentasche meiner Ja- meina“. Draußen rattern Traktoren auf den Feldern, drincke, ein gelbes Reclam-Bändchen. Gleich neben dem Blut- nen im Park rattert der Freischütz, ein 24 Meter hohes druckmesser. Nietzsche gab den Anstoß, er trieb mich in schwarz-grünes Ungetüm und der ganze Stolz des Parks. den Freizeitpark. Oller Nietzsche, denken Der Freischütz ist eine Katapult-Achteralle, Philosoph, Deutscher, Gott ist tot und bahn, das heißt, der Wagen wird keinen so. Dass er auch ein Spaßmacher war, wisLifthügel hinaufgezogen, sondern durch DAS LEBEN IST sen nur wenige. ein Magnetfeld hochgeschossen. Von 0 Im Zarathustra schrieb er: Die Welt ist auf 80 km/h in zwei Sekunden, direkt in EIN KREISLAUF, ein Kreislauf, der „sich unendlich oft beden ersten Looping, die sogenannte SAGTE NIETZSCHE. Schreigrampfreim, zu Deutsch: „Schreireits wiederholt hat und der sein Spiel in infi nitum spielt.“ Ewige Wiederkunft des krampf-Kurve“. Alle Windungen haben LIFE IS A Gleichen also. Diese Einsicht würde die solche einheimischen Namen. Es gibt den ROLLERCOASTER, Menschheit erlösen: Wer weiß, dass nichts Hoiwaden Iwakopfstea („Halbe ÜberkopfSAGT EIN ANDERER Neues mehr kommt, kann sich mal eben kurve“), das Dradingsl („Dreh-Irgend„selbst segnen“ und das Leben bejahen, was“) oder den Ganz da zwer (?). Für die PHILOSOPH das heißt annehmen als „ein Werden, das 483 Meter lange Strecke und fünf Überkein Sattwerden, keinen Überdruß, keine schläge braucht die Bahn 30 Sekunden. Müdigkeit kennt“. Hatte er recht? Gemeinsam mit einer Handvoll Heute werde ich das herausfi nden. Heute werde ich etwa 150 Zentimeter großer Mädchen steige ich ein. Und sehen, was die Menschen im Innersten antreibt. Warum sie dann geht die Fahrt los. Und das Geschrei. Wir rauschen immer weiter laufen, immer weiter arbeiten. Wo sich im den ersten Looping hoch, oben wird die Bahn unerträglich Leben doch alles nur wiederholt, alles wiederkehrt. Immer langsam. Die Mädels werden kurz still, neben mir sagt jeund immer wieder. mand leise „Scheiße“ – dann geht es wieder bergab. Um das zu verstehen, muss man Achterbahn fahren. Und wieder bergauf. Und wieder bergab. HaarDenn die ist stupide Wiederholung. Warum steigt man frei- schöpfe flattern im Wind. Jemand, vermutlich ein Niederwillig ein zweites Mal ein, wo man doch schon alles kennt? bayer, schreit „Oh Gott, oh Gott, oh...“ - dann kommt eine Warum fahren Kinder immer wieder? Die Antwort darauf Kurve. Ab durch die Wolfsschlucht, durch die Schicksalskurve

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das sagt. An meiner These mag ich nicht mehr festhalten. Nichts ist so, wie man das gerne hätte. Ich stehe da wie ein Totengräber, dem man die Schaufel weggenommen hat. Ich will jetzt allein sein und steige in die königliche Schmusebahn, eine Bootsfahrt auf einem schmalen Kanal. Lautsprecher säuseln Feelgood-Walzer. Ständig stoße ich mich an, in einer fi nsteren Grotte erschreckt mich ein winkender König-Ludwig-Roboter zu Tode. Also zurück zum Freischütz? Im ganzen Park hört man die Schreie der Menschen, die gerade fahren. Irgendwie hab ich ihn liebgewonnen. Die Achterbahn ist brutal, aber sie ist auch das einzig Ehrliche, das einzig Wahre in diesem Park. Sie verbirgt ihr Wesen nicht. Die Mongdratzer und Iwakopfstea sind von Weitem erkennbar. Ehrwürdig steht sie da, fest gemauert nach deutschen Industrienormen, und also sprach die Achterbahn: „Siehe, ich bin die Achterbahn. Mich zu fahren, kostet einen Teil von dir. Aber du wirst Erquickung und Freuden erhalten.“ Ich weiß, dass mein Körper nach der Fahrt eine schlabbrige Hülle sein wird. Dass ich einen Puls von ERR haben werden und Muskelkater im Hirn (sofern das möglich ist). Ich weiß, was kommt. Das Leben dagegen denkt sich immer neue Iwakopfstea und Mongdratzer aus, auf die man nie vorbereitet wird. Und manchmal geht es selbst dann nicht bergauf, wenn es schon lange bergab ging. Damit ist auch klar: Life is not a rollercoaster. Nein. Nie gewesen. Die Achterbahn ist nicht das Leben, sie ist anders: Sie verläuft auf Schienen und man weiß, wann es runter geht. Und wenigstens einmal zu wissen, wie die Sache ausgeht, ist unbezahlbar. Drum fahre ich noch einmal. Mir ist schlecht, aber ich bin versöhnt mit der Welt. Habe ich mich wirklich gerade von einer Achterbahn trösten lassen? Fast überhöre ich die Frage des Wärters: „Noch mal?“ In seinem Blick liegt kein Hohn. Ich steige trotzdem aus. „Wow! Ich bin jetzt 13 Mal!“, ruft eine Zahnspange mit Bobfrisur ihrer Freundin zu. Die hat draußen gewartet. „Zwölf Mal waren‘s“, sagt sie. „Tun wir Wasserbahn?“ Die beiden hopsen davon. Und ich kehre zurück in die echte Welt. Dahin, wo es wirklich gefährlich ist. ➳

und den Mongdratzer („Appetitanreger“). Mein Puls: 90, Blutdruck: 124. War doch gar nicht so schlimm. „Du siehst aus, als könntest du noch eine Fahrt vertragen“, sagt der Wärter. Ich hüpfe im Sitzen. Nietzsche freut sich mit mir. Ich spüre das Reclam-Büchlein über meinem Herzen. So schön kann Wiederholung sein. Ich merke schon ein bisschen was von der ewigen Freude. Es scheint was dran zu sein an seinen Gedanken von der Lebensbejahung. Aber dann, während der dritten Fahrt, sehe ich zum ersten Mal kleine Sternchen. Bei der vierten Fahrt wird mir übel. Bei der fünften beginnt mein rechtes Augenlid zu zucken. Nach der sechsten zeigt der Blutdruckmesser „ERR“ an, nach der siebten pulsiert eine Ader an meiner Schläfe. Der Rekord im Achterbahn-Dauerfahren liegt bei sechs Stunden – jeweils an 192 Tagen in Folge. Ich habe das leise Gefühl, dass das für mich unerreichbar bleibt. Ich habe keinen Puls mehr. Oder fi nde ich ihn nicht? Zwischenfazit: Ewige Wiederkunft des Gleichen? Check . Vollste Lebensbejahung? Nein. Auf jeden Fall nicht bei mir. Die Kinder kreischen. Wer würde sich denn absichtlich so fertig machen? Ich bin kein Stück klüger als zuvor, im Gegenteil. Ich muss hier raus. Außerdem kann man Nietzsches Gedanken von der Wiederholung doch auch anderswo testen. Zum Beispiel in der Raupenbahn. Die fährt auch im Kreis und die erforderlichen 100 cm Körpergröße bringe ich mühelos auf. Ich sitze drin, zücke Block und Stift, denke über Nietzsche und meine Reporterehre nach. Nächste These: Nicht Lebensbejahung treibt den Menschen an, sondern Lust an der Sinnlosigkeit. Verkommenheit. Dummheit. Im Wagen hinter mir sitzen zwei Schwestern. Klein, blond, irgendwie das Alter, in dem man jeden Gedanken ausspricht, der einem in den Sinn kommt. Kurz werde ich hellhörig, als sie mit ihren Mädchenstimmen FC Bayern, Stern des Südens anstimmen. Und in dem Moment – es ist die Wahrheit – bricht zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne durch die Wolken. Es ist 15 Uhr 17. Der Vater der Mädchen wartet draußen und zeigt jedes Mal, wenn wir an ihm vorbeifahren, den ausgestreckten Daumen. Ich bin schlecht gelaunt und hätte gern, dass er betrunken ist, raucht, kifft, oder zumindest debil grinst. Aber er lässt mich im Stich. Er ist ein geduldiger Vater, einfach so, nicht weil Nietzsche

Wer sich nicht auf den Freischütz traut, kann erst mal online mitfahren: www.klartext-magazin.de/53K/achterbahn

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EINE WA H R H E I T FÜR ALLE Sie öffnen Massengräber und geben Vermissten ihre Identität zurück. 20 Jahre nach dem Bosnienkrieg suchen Forensiker noch immer nach Opfern. Für die Angehörigen und gegen das Leugnen.

TEXT UND FOTOS ALEX ANDER SAROVIC UND MARIA CAROLINE WÖLFLE

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rst hoffte sie, dass er wieder auftaucht. Dann hoffte sie, dass wenigstens jemand seine Überreste fi ndet. 13 Jahre lang quälte Amra Begic die Frage, was mit ihrem Vater geschehen war. Jetzt steht sie am Fenster ihres Büros in der Gedenkstätte Potocari, wo sie seit zehn Jahren arbeitet. Sechs Kilometer entfernt liegt Srebrenica. Wenn die 37-Jährige aus dem Fenster blickt, sieht sie den Hang des Friedhofs. Tausende Menschen liegen dort begraben. Jedem gehört einer der Grabsteine, die wie weiße Pfeile aus der Erde ragen. Einer davon Resid Fazlic, ihrem Vater.

Begic stammt aus Srebrenica. Als 1992 der Bosnienkrieg begann, brachten ihre Eltern sie zu einer Tante nach Tuzla, im Norden des Landes. Und gingen selbst zurück. „Dass ich meinen Vater nicht wiedersehen würde, der Gedanke kam mir überhaupt nicht“, sagt Begic. Sie atmet schwer, während sie erzählt. Immer wieder macht sie Pausen, zieht die Stirn in Falten, Tränen. 2008 rief die Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP) bei Begic an. Der Vater war in einem Massengrab beim kleinen Ort Snagovo gefunden worden, zwischen Srebrenica und Tuzla. Neben ihm lagen

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Ob ihr Vater Angst hatte, ob er weinte, woran er in seinen letzten Momenten dachte, das wird Amra Begic nie erfahren

Eine unscheinbare Halle am Stadtrand von Tuzla. Aus weißem Wellblech, so groß wie ein Festzelt. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren öff net die Tür. Sie trägt mintgrüne OP-Kleidung, wie eine Ärztin auf der Intensivstation. Dragana Vucetic ist forensische Anthropologin bei der ICMP. Sie fügt die Skelette, die die Archäologen aus Massengräbern in ganz Ostbosnien heben, zusammen und identifi ziert sie. Sonnenstrahlen fallen durch die heruntergelassenen Jalousien in den Arbeitsraum. Die 35-Jährige beugt sich über Knochen, die auf einem Aluminiumtisch ausgebreitet sind. Eine Schädeldecke, durchbrochene Ober- und Unterschenkel, Ellen und Speichen, Beckentrümmer; in drei Reihen angeordnet, sorg-

WAS MANCHE NICHT SEHEN WOLLEN, IST ÜBERALL SICHTBAR fältig durch hellgrüne Bänder voneinander getrennt. „Dieses Skelett ist schon sehr alt, es ist nicht aus Srebrenica“, sagt Vucetic. Kein Opfer des Bosnienkriegs. Vucetic schlägt ein Buch mit Fotos von Kleidungsstücken auf, die in den Massengräbern gefunden wurden: „Fotografie Nr. 0657 – Hemd – Trikot – kurzärmelig – blau-weiße und rote Farbe.“ Die Bilder helfen den Forensikern bei der Identifi zierung der Skelette. Bei den meisten wird aber mithilfe von DNS-Tests festgestellt, wer die Opfer sind. 2002, im Jahr der Einführung der Tests, stieg die Zahl auf 516 – von 52 im Vorjahr. Von den rund 8.000 Männern und Jungen, die nach dem Srebrenica-Massaker vermisst wurden, haben Vucetic und ihre Kollegen knapp 6.500 identifi ziert. Als die Forensikerin das Arbeitszimmer verlässt und eine schwere Tür auf der anderen Seite des Flurs öff net, durchdringt ein modriger Geruch die Luft. Kein Gestank, der zuerst in die Nase und dann in das Hirn schießt, sondern ein Geruch, der sich langsam im Rachen festsetzt, der die Stimmbänder reizt und einem das Gefühl von Heiserkeit gibt. In der Halle ist es dunkel und kalt. Sie hat nichts von Krimiserie. Es gibt keine eigene Liege für jeden toten Körper, keinen Leichensack mit Reißverschluss. Stattdessen lange Regalreihen, jeweils sieben Fächer übereinander, weiß lackierte Gestelle und einen etwas verloren wirkenden Gabelstapler. In jedem Fach, in weißen und blauen, gelben und roten Tüten: die Quelle des Geruchs. Menschliche Überreste. Auf die Tüten wurden mit der Hand Nummern geschrieben, jede Nummer ein Skelett. Manche mehr, manche weniger vollständig. Viele sind identifi ziert und werden am 11. Juli, dem Jahrestag von Srebrenica, auf dem Gedenkfriedhof beigesetzt. Nummern, die darauf warten, wieder zu Menschen zu werden. Zu Menschen, um die Angehörige trauern können. „Wir raten den Familien davon ab, zur Identifi zierung herzukommen“, sagt Vucetic. „Die sind meist ent-

FOTO UNTEN RECHTS: ULI REINHARDT / ZEITENSPIEGEL

die Knochen von Hunderten anderen. Begic und ihre Familie waren erleichtert. Ob er Angst hatte, ob er weinte, woran er dachte in seinen letzten Momenten im Sommer 1995, das wird Begic nie erfahren. „Aber wir wussten so wenigstens, was mit ihm geschehen war.“ Er starb durch einen Kopfschuss. Die Fahrt von Srebrenica nach Tuzla dauert zwei Stunden. Es ist die Fahrt zu den Menschen, die Resid Fazlics Knochen einen Namen gaben und einen Grabstein auf dem Friedhof in Potocari. Rechts neben der engen Straße verläuft der Fluss Drina, der Bosnien von Serbien trennt. Links steile Hügel. Auf die wenigen Vorsprünge an den Hängen haben die Bauern Ziegelsteinhäuser mit unverputzten Fassaden gebaut. Weiter oben ist dichter Wald. Es riecht verbrannt, die meisten hier heizen mit Holzöfen. Die gelben Ortsschilder sagen dem Reisenden gleich zweimal, wo er ist. In lateinischer Schrift, für die muslimischen Bosniaken. Und in kyrillischer, für die Serben. In diesem Teil Bosniens gibt es zwei Schriftarten, zwei Geschichtsschreibungen, zwei Wahrheiten. Noch heute weigern sich viele Serben, unter ihnen der Präsident der serbischen Landeshälfte Bosniens, Milorad Dodik, das Massaker von Srebrenica einen Völkermord zu nennen. Dabei ist das, was sie nicht sehen wollen, hier überall sichtbar. Denn neben der zweispurigen kurvenreichen Straße nach Tuzla, in den umliegenden Wäldern und Maisfeldern, wurde vor 20 Jahren ein Pfad ausgetreten. Auf diesem Pfad heben die Mitarbeiter der ICMP seit 1996 immer wieder Massengräber aus, zuletzt im April 2013. Die Einheimischen nennen ihn „put smrti“, Todespfad. 11. Juli 1995. Nach drei Jahren Belagerung durchbrechen die bosnisch-serbischen Truppen die Verteidigungslinien und nehmen die muslimische Enklave Srebrenica ein. Sie setzen die Frauen und Kinder in Busse, die sie in von Bosniaken kontrolliertes Gebiet bringen. Die Männer flüchten. Tausende von ihnen bilden eine Kolonne, 15 Kilometer lang. Die Wälder um Srebrenica herum sind vermint, jeder tritt in die Fußstapfen des Vordermanns. 3.500 von ihnen erreichen nach fünf Nächten Tuzla und bringen sich in Sicherheit. Andere werden auf dem Weg von Kugeln und Geschützen getötet, wieder andere gefangen genommen und bei Massenexekutionen hingerichtet. Insgesamt ermorden die serbischen Truppen in und um Srebrenica etwa 8.000 muslimische Männer und Jungen.

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FOTO UNTEN RECHTS: ULI REINHARDT / ZEITENSPIEGEL

Tausende Knochen liegen in der Lagerhalle der ICMP in Tuzla. Der Gestank der Skelette überlagert alles. Seit 2004 arbeitet die Foren sikerin Dragana Vucetic hier

täuscht, wenn sie die Knochen sehen. Sie erwarten, die Person auf dem Tisch so zu sehen, wie sie vor 15 Jahren ausgesehen hat.“ Vucetic stammt aus der serbischen Stadt Sabac auf der anderen Seite der Drina. „Ich kam direkt nach dem Studium nach Tuzla. Ich wusste nicht viel darüber, was in Srebrenica passiert war.“ Seit 2004 arbeitet sie täglich mit Bosniaken zusammen. Wegen ihrer Herkunft habe sie nie Probleme gehabt – weder mit ihren Arbeitskollegen noch privat. Vucetic betont, dass die ICMP nur die Toten identifi ziert. Es sei Sache der Behörden und Gerichte, nach den Tätern zu suchen. Die Arbeit der Forensiker habe keine politische Dimension. Doch wie hält man diese Art von Arbeit frei von Politik? Die ICMP identifi ziert in ganz Bosnien und Herzegowina Tote. Sie befreit Angehörige wie Amra Begic von der Ungewissheit, die sie quält. Knapp drei Viertel aller nach dem Krieg vermissten Personen wurden inzwischen gefunden und identifi ziert; 8.000 Menschen werden noch immer vermisst. Doch was für die einen Gewissheit bedeutet, ist für die anderen etwas, das sie nur zu gerne vergessen würden. Zudem sind 55 Prozent aller Bosnier der Meinung, dass die ICMP zu einseitig nach Toten einer der ethnischen Gruppen suche. Das ergab eine Umfrage der Organisation im Jahr 2011.

20 Gehminuten von der Lagerhalle entfernt, in einem anderen Stadtteil Tuzlas, befi ndet sich die zentrale Koordinierungsstelle für Identifi kation der ICMP. Hier, in einem alten Sportstadion, laufen alle Informationen über die Vermissten zusammen. Die Sonne scheint auf die Fenster, in Pakiza Colos Büro ist es stickig, trotz der Klimaanlage, die im Hintergrund rauscht. Die 43-Jährige ist die stellvertretende Chefi n der Koordinierungsstelle. Seit 1996 sucht sie nach Vermissten aus dem Krieg, seit 2000 ➳

Skelette in einem Massengrab bei Cerska, in der Nähe von Srebrenica. Es wurde im Juli 1996 geöffnet

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arbeitet sie hier. „Anfangs hatten wir nicht viel Erfolg“, sagt Colo. „Vor allem, weil die Vermissten von den Mördern wieder ausgegraben und in andere Gräber gebracht worden waren. Mehrfach.“ Colo, groß, füllig und in Schwarz gekleidet, hat hier oft Besucher. Dieses Jahr, zum traurigen Jubiläum, werden noch viele kommen. Trennwände teilen einen einzelnen Raum in kleine und große Séparées. Colo führt zu einem, das durch Glasscheiben vom Flur getrennt ist. Darin sitzen

KNOCHEN, BLUT UND DNS KENNEN KEINE NATIONALITÄT zwei Frauen in weißen Kitteln, mit OP-Hauben, Handschuhen und Mundschutz. Sie scannen die Barcodes von Karteikarten mit je vier roten Flecken. Es sind die Blutproben von Angehörigen der Vermissten. Die Frauen versehen jede mit einer Nummer. „Niemand braucht zu wissen, zu wem sie gehören“, sagt Colo. Die ICMP begann im Jahr

2000 damit, diese Proben zu sammeln. Heute sind mehr als 91.000 davon in der Datenbank. Je vier Tropfen Blut von Müttern, Söhnen, Töchtern, Großeltern. Knochen, Blut und DNS kennen keine Religion, keine Nationalität. Die ICMP gibt allen eine Antwort. Das ist wichtig für die Aussöhnung im Land. Es ist schwer, Morde zu leugnen, wenn Knochen auf dem Tisch liegen. Opfer und Täter lassen sich in Bosnien nicht nach Ethnie trennen, es gab sie auf allen Seiten. „Ein Vermisster ist ein Vermisster“, sagt Colo. „Wir fragen nicht, ob das ein Soldat war, ein Muslim, Kroate oder Serbe. Sie sind alle tot.“ Rund 18.000 Vermisste haben die Mitarbeiter in den letzten 15 Jahren in ganz Bosnien identifi ziert. Auch die von Vucetic entnommenen Knochenstücke werden hier kodiert, um sie für die Analyse ins Labor nach Sarajevo zu schicken. 99,99999 Prozent. Im Büro von Zlatan Bajunovic und seinen Mitarbeitern leuchtet diese Zahl von einem großen Bildschirm, der an der Wand hängt. Sie erscheint immer dann, wenn die DNS aus den Knochen mit der aus einer der Blutproben übereinstimmt. Bajunovic wertet so aus, ob und welche der DNS-Profi le von Vermissten und Angehörigen zusammenpassen. Wen er fi ndet, weiß er nicht. Alles ist anonymisiert. Auch Bajunovic arbeitet seit 2000 für die ICMP. „Hinter jeder Übereinstimmung steckt eine Geschichte“,

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Der Friedhof in Potocari. Jedes Jahr am 11. Juli werden hier die neu identifizierten Opfer des Massakers in Srebrenica beigesetzt

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KINDER DES KRIEGES

100.000 Menschen starben im Bosnienkrieg. 20 Jahre später gibt es in Bosnien und Herzegowina zwei Landeshälften mit drei Präsidenten, drei Sprachen und drei Schulsystemen. Wie leben Bosniaken, Serben und Kroaten in diesem Land zusammen? Unsere Autoren Maria Caroline Wölfle und Alexander Sarovic sind nicht nur nach Srebrenica und Tuzla gereist, sondern auch nach Sarajevo und Mostar. Sie haben Menschen gefunden, die alte Gräben überwinden wollen. Und auf neue Hindernisse stoßen. Mehr über die Bosnien-Reise erfahren Sie in der Web-Reportage der 53K unter

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www.klartext-magazin.de/53K/bosnien

sagt er. Viele dieser Geschichten hat er gehört, an manche erinnert er sich besonders gut. „Die Mutter eines Vermissten hat mir mal erzählt, dass sie selbst nach 15 oder 20 Jahren noch hoff t.“ Jedes Mal, wenn das Telefon läutet oder die Türklingel, denkt sie: „Das ist er“. Obwohl sie weiß, dass es nicht sein kann. „Die Familien brauchen endlich Gewissheit. Ohne die können sie mit ihrem Leben nicht weitermachen.“ In der Lagerhalle am Stadtrand macht sich Dragana Vucetic bereit für den Feierabend. Als sie vor mehr als zehn Jahren bei der ICMP anfi ng, war sie froh, Arbeit gefunden zu haben. „Meine Kollegen und ich machen es nicht nur wegen des Gehalts“, sagt sie heute. „Wir denken auch an die Menschen, die nach ihren Angehörigen suchen.“ Sie glaubt, mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag

zur Aufarbeitung der Vergangenheit im Land geleistet zu haben. Denen, die noch immer versuchen, zu leugnen, was in Srebrenica passiert ist, begegnet sie gelassen: „Sie können es leugnen, aber wir haben Beweise.“ Amra Begic ist nach dem Krieg zurückgekehrt nach Srebrenica, wo heute Bosniaken und Serben zusammenleben. Sie sitzt in ihrem Büro in der Gedenkstätte, hinter ihr das Fenster zum Friedhof. An der Wand neben dem Schreibtisch hängt ein Foto ihrer siebenjährigen Tochter. „Ihre beste Freundin ist Serbin“, sagt Begic. Sie sagt das so dahin, als sei es das Normalste der Welt. Und doch: Begic will nicht, dass ihre Tochter später einen Serben heiratet. „Ich würde mich immer fragen, ob sein Vater oder Großvater einer der Mörder in Srebrenica war. Vielleicht sogar meinen eigenen Vater getötet hat.“ ➳

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DER DIE DAS D E RL, IDEIBE E, D A S LIEBE Tim will als Frau leben. Seine Freundin steht auf Männer. Doch noch gibt sie die Beziehung nicht auf.

T E X T U N D I L L U S T R AT I O N S O F I A FA LT E N B AC H E R

*NA M E N VON DE R R E DA KT ION GE Ä N DE RT

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ls Anja* im Urlaub an der Nordsee ins HotelzimAnja nimmt ihr Handy vom Tisch und zeigt ihm Fomer kommt, sieht sie, wie ihr Freund heimlich ihre tos aus der Kleinstadt, in der sie am Tag zuvor ein KlavierUnterwäsche anzieht. Die 19-Jährige ist so per- vorspiel hatte. „Die war süß“, sagt sie und zeigt ihm das plex, dass sie im Türrahmen stehen bleibt und Bild einer alten schmiedeeisernen Straßenlaterne. Auf ihlacht. Am Ende der Ferien fragt Tim* sie: „Wür- ren Reisen nach Köln, Hamburg und Düsseldorf haben sie dest du mit mir zusammenbleiben, wenn ich ein angefangen, schöne Laternen zu fotografieren. Er lächelt Mädchen wäre?“ und streichelt ihr über den Oberschenkel. Vier Monate später. Tim trägt einen grauen KurzVor eineinhalb Jahren kamen Tim und Anja zusammantel, darunter ein fl iederfarbenes Hemd. Seine Lippen men, damals probten sie für ein vierhändiges Klavierkonsind dezent rot geschminkt, man sieht Abdeckstift, der et- zert. Sie verliebte sich in die Eleganz seiner Hände. Seine was zu dunkel für seinen Hautton ist. Er Finger sind lang, die Nägel feilt er. Er ist ein Jahr älter als Anja und studiert verliebte sich in ihre weiblichen Formen, Physik. Gerade waren die beiden in der ihre Lippen und ihre Brüste, die er selbst ER DRÄNGTE, Oper, jetzt sitzen sie in einem Burgerlaso gerne hätte. „Ich könnte nur davon den. Sie essen und teilen sich eine Fanta. träumen, einen Körper zu haben wie DAS CAFÉ ZU Anja trägt ein schwarzes Kleid, die blonsie“, sagt Tim. VERLASSEN, den Haare hat sie nach oben gesteckt. Nach den Klavierstunden redeten „In Clubs oder Bars willst du ja nicht“, sie stundenlang. „Er ist sehr einfühlsam, ALS EINE sagt sie und zieht an ihrem Strohhalm. einfach besonders“, sagt Anja. Ihr fiel GRUPPE Es klingt ein bisschen trotzig. Sie würde auf, dass er oft über Machogehabe gerne mit ihrem Freund tanzen gehen, „RÜPELHAFTER schimpfte. Einmal drängte er, das Café aber zwischen Muskeln und Alkohol zu verlassen, als eine Gruppe „rüpelhafFUSSBALLfühlt er sich nicht wohl. ter Fußballjungs“ hereinkam. Ein Detail, JUNGS“ Schon als Kind merkte Tim, dass das ihn nur noch süßer machte. In Drosein Körper und seine Selbstwahrnehgerien testeten sie Cremes und Düfte. HEREINKAM mung nicht zusammenpassen. Seit der „Frauen haben eine weichere Haut“, sagt ersten Erektion ekelt er sich vor seiner Tim. „Das versuche ich mit Produkten Männlichkeit. Als es für ihn unerträgauszugleichen.“ Sein Parfüm, einen Herlich wird, fängt er an, seine Unterarme mit einem Messer renduft, hat Anja ausgesucht. „Es soll ihr gefallen.“ zu verletzen, später auch seinen Penis. „Er ist wie eine Anja ist seine erste Freundin und der einzige Mensch, Krankheit, wie ein Tumor. Er gehört nicht zu mir.“ mit dem er trotz der Scham für seinen männlichen Körper

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geschlafen hat. „Sex ist schön“, sagt Tim. „Aber mein Körper ist mir peinlich.“ Anja atmet laut durch die Nase aus. „Peinlich ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, sagt sie. „Du wolltest dich lange überhaupt nicht vor mir ausziehen.“ Seine Statur, sein verhasster Körper gefällt Anja. „Ich habe mich in ihn als Mann verliebt. Die sexuelle Anziehung bricht weg, wenn er sich operieren lässt.“ Es stört sie, dass Tim aufgehört hat, Sport zu machen und dafür ungesund isst, weil Frauen einen höheren Körperfettanteil haben. „Ich verstehe nicht, warum er seinen schönen Körper verändern will“, sagt sie. „Es fühlt sich an, als wollte er etwas kaputt machen.“ Tim schaut seine Freundin nicht an, er zittert. Ein Salatblatt, das er gerade aus der Burger-Box genommen hat, fällt ihm aus der Hand und landet auf dem Tablett. Nicht nur wegen Anja ist es schwer für ihn, die Geschlechtsangleichung zu beginnen. Er hat Angst, danach immer noch männlich auszusehen. „Ich würde mir vorkommen wie ein missratener Versuch“, sagt er, „wenn jeder sehen könnte, dass ich biologisch nicht immer eine Frau war.“ Sein nächster Satz klingt wie auswendig gelernt, er hat ihn wohl schon oft gedacht: „Am liebsten würde ich einen Schalter umlegen und ein Mädchen sein.“ Die Angleichung von Mann zu Frau beginnt mit der Hormontherapie. Die Haut wird weicher, Brüste wachsen. Die Genitalien werden in mehreren Schritten operiert. Zwischen den Eingriffen sollte mindestens ein halbes Jahr vergehen. Tims Stimmlage werden die Hormone nicht verändern. Deshalb macht er logopädischen Übungen, um höher zu sprechen. Anja hat er davon bisher nicht erzählt. Ihm ist unangenehm, dass er so viel für einen weiblichen Körper tun muss. Auch seine Eltern wissen von solchen Details kaum etwas. Mit ihnen sprach Tim erst, nachdem er sich eine Therapeutin gesucht hatte und zu Beratungsgesprächen bei Ärzten und Chirurgen ging. „Lächerlich“ fi ndet sein Vater den Wunsch, in einem weiblichen Körper zu leben. „Er hat gesagt, ich sei keine Frau und würde auch nicht denken wie eine.“ Seine Therapeutin hat Tim bestärkt und mit ihm Termine bei einer Hormonspezialistin vereinbart. Sie hat ihm erklärt, dass die Krankenkasse das psychologische Gutachten prüft und dann die Kosten der Angleichung übernimmt. Mit Anja hat Tim in den letzten Wochen über weibliche Vornamen gesprochen. „Liebe ist nicht abhängig vom Geschlecht“, sagt Anja. „Aber es wird eine andere Beziehung. Eher wie zu engen Verwandten oder einer guten Freundin.“ Sie hat ein halbes Dutzend Namensbedeutungen für ihn nachgeschlagen. Er hat sich für Annika entschieden. ➳ Annika, die Anmutige. ➳

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NIMM DAS! Auf der ganzen Welt verraten Erbstücke viel über die Familien, die sie weitergeben. Eine Reise.

LUGANO (SCHWEIZ) Irgendwann wird Robin Bervini den 1974er MG B seines Vaters erben. „Das Auto steht für meinen Vater als jungen Mann“, sagt Robin. „Beim Fahren bin ich ihm ganz nah.“ Er freut sich auf den Tag, an dem er den Wagen selbst an seine Kinder weitergeben kann.

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TEXT SEBASTIAN GROSSER, JULIA HÄGELE UND BERNHARD HIERGEIST

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PRÄFEKTUR TOYAMA (JAPAN)

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Von ihrer Mutt er hat Saya Senda (24) Puppen geerbt. Die werden in Japan jedes Jahr beim Hanamatsuri („Mädchenfest“) auf einer mehrstufigen Platt form aufgestellt. Die mit Kimonos bekleideten Puppen stellen die kaiserliche Hofgesellschaft dar. Ganz oben sitzen Kaiser und Kaiserin.

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MELBOURNE (AUSTRALIEN) In Jacob Lawrence‘ Familie sind alle Musiker. Er selbst studiert in Melbourne Klassischen Gesang. Mit ihrem Chor tourt die Familie gemeinsam durch die ganze Welt. Jacob wird später die Orgel erben, die im Büro der Mutt er steht.

TEL AVIV (ISRAEL)

F OTOS: L I Z A N DE R SON (AUST R A L I E N ), A BDU L K A DI R SA NC A K DA ROGLU ( T Ü R K E I ), C H R I S T I A N S T E U R I ( H AWA I I ) , S H M U E L H A L E V I ( I S R A E L )

Shir Halevi wird ein chinesisches Teeservice erben. Es stammt von ihrer Urgroßmutter aus Rumänien, die im Holocaust umkam. Shirs Eltern, Shmuel und Ett y Halevi, leben heute in Safed, im Norden Israels.

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F OTOS: L I Z A N DE R SON (AUST R A L I E N ), A BDU L K A DI R SA NC A K DA ROGLU ( T Ü R K E I ), C H R I S T I A N S T E U R I ( H AWA I I ) , S H M U E L H A L E V I ( I S R A E L )

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HAWAII (USA) Stephanie Steuri ist amtierende Miss Hawaii und spricht auch Schwyzerdütsch. Ihre Familie ist einst aus Grindelwald in der Schweiz ausgewandert. Die meisten Andenken an die Vergangenheit liegen in einem Museum. Nach Hawaii geschaff t hat es nur das Bergführer-Buch von Stephanies Urgroßvater – aus dem Jahr 1894.

ISTANBUL (TÜRKEI) Fatih Özdemirs Taschenkalender ist keine nützliche Sache. Mit etwas Aufwand zeigt das kleine Gerät das Datum an, aber nur zwischen 1996 und 2045. Özdemir mag trotzdem nicht darauf verzichten. Bekommen hat er das Gerät von einem Onkel, der ein paar Monate später bei einem Autounfall starb. Der Onkel sagte: „Denke die nächsten 50 Jahre an mich, wenn du damit rumspielst.“

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SEOUL (SÜDKOREA) Kinder hat Tale Kwon noch keine, aber wenn er etwas weitergeben wird, dann seine E-Gitarre. „Zum Geldverdienen habe ich einen Bürojob, aber die Musik ist das Wichtigste in meinem Leben.“ Vor zehn Jahren ging er nach der Arbeit in ein Einkaufszentrum in Seoul. Es war Liebe auf den ersten Blick. „Diese Gitarre ist wie ein guter Freund für mich, der mich bis an mein Ende begleitet.“

Einen rostigen Handquirl und andere Bilder gibt es online unter www.klartext-magazin.de/53K/vererben

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ASCHAU (DEUTSCHLAND) Vor 30 Jahren kam Tom Wimmer aus Osnabrück nach Bayern. Am Chiemsee wurde Andi sein Nachbar und Freund. Nachdem Andis einziger Sohn gestorben war, schenkte Andi Tom den Großteil seines eigenen Trachtengewands. Für einen eingefleischten Oberbayern der größtmögliche Freundschaft sbeweis. Tom sagt, wenngleich der Preuße in ihm sich nicht verleugnen lasse, sei er doch „emotional ein echter Bayer geworden“.

JA E H Y U NG A N (SÜ DKOR E A), GA BR I E L E H E R ZOG - SCH RÖDE R ( YA NOM A M I )

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SÃO PAULO (BRASILIEN) Ingrid Schrijnemaekers‘ Vorfahren waren Holländer. Darum liebt sie alles, was sie an das ferne Land erinnert. Holländische Siedler brachten den Vorhang vor langer Zeit nach Brasilien. „Gekriegt habe ich ihn, weil jeder weiß, dass ich Holland liebe“, sagt die 54-Jährige. Vererben will sie den Vorhang auch. Denn ihre Liebe zu Holland sei für sie wie eine Flamme. „Ich möchte, dass sie weiter brennt.“

NORDAMAZONISCHER REGENWALD

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JA E H Y U NG A N (SÜ DKOR E A), GA BR I E L E H E R ZOG - SCH RÖDE R ( YA NOM A M I )

Dass Erbstücke in Ehren gehalten werden und damit auch liebe Verwandte, zieht sich als Konstante durch viele Kulturen. Ganz anders ist das bei den Yanomami. Das Volk aus dem nordamazonischen Regenwald gedenkt seiner Verstorbenen nicht. Im Gegenteil: Sie werden als bedrohlich empfunden. Deshalb vernichten die Yanomami im Verlauf der komplexen Bestatt ungsriten sämtliche Besitztümer der Toten. „Jede Möglichkeit des Andenkens an die Toten soll ausgelöscht werden. Erbstücke kann es also gar nicht geben“, sagt Gabriele Herzog-Schröder, Professorin für Ethnologie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Herzog-Schröder hat im Laufe der vergangenen 30 Jahre immer wieder bei den Yanomami gelebt. „Der Sinn der Trauer besteht darin, die Erinnerung auszulöschen und die geliebten Toten dezidiert zu vergessen“, sagt sie. „Dass wir in Europa Dinge vererben, ist eine kulturelle Variante.“

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P LÖ T Z LW I EI DCEHR

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Adam Schulz tötete beinahe einen Menschen. Dafür saß er zehn Jahre im Gefängnis. Jetzt ist er frei und sucht einen Platz in einer Gesellschaft, die er nicht mehr wiedererkennt.

TEXT UND FOTOS CHRISTINA HERTEL

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rühling 2004. Adam Schulz bekommt Besuch in seinem Atelier. Von einer Freundin und einem Fremden. Alle sind auf Heroin. Alle sind ausgelassen. Dann zieht der Fremde ein Messer aus seinem Stiefel. Er geht auf Schulz‘ Bilder zu, zerschlitzt eines nach dem anderen. Schulz rennt in die Küche, holt ein Messer aus der Schublade. Er rammt es dem Mann in den Hals. Überall ist Blut. Schulz läuft weg. Noch in der gleichen Nacht wird er in der Wohnung eines Freundes gefasst. Heute liegen Adam Schulz‘ Bilder in einem Keller, irgendwo in München. Er will sie nicht mehr sehen, vielleicht schmeißt er irgendwann alle weg. Im Gefängnis beschloss er, nie mehr einen Pinsel in die Hand zu nehmen. Eigentlich heißt Schulz anders, doch er will nicht, dass sein echter Name hier erscheint. Er will neu anfangen, ein neuer Mensch sein. „Und das ist gar nicht so leicht“, sagt er. Es ist viel passiert in den letzten zehn Jahren und Schulz war nicht dabei. Es hallt ein bisschen, wenn er spricht, denn seine Wohnung ist praktisch leer. Nur ein weißes Regal steht an der Wand. Darin Nietzsche, Platon, Heidegger. Bücher, für die man viel Zeit braucht. Winter 1998, Brasilien. Adam Schulz ist zum Malen nach Rio gekommen. Dort hat er seine Ruhe und genug Platz. Er bleibt ein halbes Jahr und malt jeden Tag abstrakte Bilder, stundenlang. Er fi ndet bei einer Freundin ein Buch über die Renaissance. Er studiert die Arbeiten von Michelangelo und Leonardo da Vinci. Schulz will so malen wie sie. Es gelingt ihm nicht. Einen Tag vor seinem Rückflug verbrennt er alle seine Bilder. Wieder zu Hause in München geht er nachts durch den Englischen Garten. Er sieht eine Gruppe von Menschen, spricht sie an. Sie verkaufen Heroin. Er will es probieren. Für ihn hat Heroin nichts von Bahnhofsklo. Für ihn ist es Bohème und Geniekult. Schulz‘ Bilder werden jetzt von Tag zu Tag dunkler, irgendwann sind sie komplett schwarz. Es wird immer schwerer, Käufer zu fi nden. Schulz fängt an, mit Heroin zu dealen. Seit einem halben Jahr ist Schulz draußen. Er ist heute Ende 40. Seine schwarzen Haare werden an den Schläfen langsam grau. Trotzdem wirkt er jünger. Sein Gesicht ist faltenlos und glattrasiert. Schulz sitzt zurückgelehnt auf einem Polsterstuhl, hält eine Zigarette in der Hand, selbst gedreht. „Ist es okay, wenn ich Musik anmache?“, fragt er. Kurz darauf schallen dunkle Töne aus seiner Stereoanlage, drückend elektronisch. „Ist das nicht

geil? Ich hab‘ das so vermisst.“ Im Gefängnis hatte er nur ein Radio. Stundenlang saß er davor und notierte alle Lieder, die er in Freiheit kaufen wollte. Gleich nach seiner Entlassung läuft er zu einem Plattenladen. Doch dort haben sie kein einziges Album, das auf seiner Liste steht. „Haben Sie kein Spotify?“, fragen ihn die Verkäufer. Schulz hat noch nie davon gehört, dass man Musik im Internet hören kann. Er will einfach nur die CDs haben. Seit Schulz draußen ist, läuft er jeden Tag drei, vier, manchmal fünf Stunden durch München. Was er sieht, verwundert ihn. „Die Menschen gehen durch die Straßen, als

„ICH FÜHLE MICH MIT DEN MENSCHEN NICHT MEHR VERBUNDEN“ hätten sie Scheuklappen auf.“ Keiner sieht den anderen an, keiner zwinkert oder lächelt. In der Tram tippen alle auf Bildschirmen herum, haben Stöpsel in den Ohren. „Ich fühle mich mit den Menschen nicht mehr verbunden“, sagt er. Im Gefängnis war das anders. Dort kennt jeder jeden. Es ist wie ein Dorf. Für Schulz war das oft belastend. Heute fehlt ihm manchmal der Kontakt zu den Menschen. „Hier war mein Atelier drin. Da ist es auch passiert.“ Schulz deutet auf einen Altbau mit grünlichem Putz, sieben Stockwerke hoch. Das ganze Haus war voller Ateliers, Clubs, kleiner Kinos und Menschen, die sich verwirklichen wollten. „Es war echt wild da drin.“ Heute ist das Gebäude renoviert und Anzugträger gehen ein und aus. Traurig ist Schulz darüber nicht. „Ich bin kein sentimentaler Mensch. Die Dinge gehen eben weiter.“ Ihn stört mehr, dass er die Wirklichkeit nicht mehr zu fassen bekommt. Im Internet fi ndet er zu jeder Nachricht eine Gegennachricht. Ist Putin böse oder nicht? Schulz googelt stundenlang. Danach ist er nicht schlauer als zuvor. Nachrichten sind für ihn wie Tausende Splitter, die sich zu keinem Bild zusammensetzen lassen. Frühling 2005. Schulz bekommt sein Urteil. 15 Jahre. Versuchter Mord. Sein Opfer verlor mehrere Liter Blut und überlebte nur knapp. „Wenn ich ihn getötet hätte, hätte ich mich umgebracht“, denkt Schulz. Er wird nach ➳

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Straubing gebracht, wo Bayerns Schwerverbrecher sitzen. Sein Vater räumt sein Atelier aus. Er schmeißt alles weg. Nur die Bilder, die Schulz schon vorher in den Keller gebracht hatte, bleiben übrig. Im Gefängnis studiert Schulz Kulturwissenschaften. Er schreibt seitenweise Papier voll, oft bis spät in die Nacht. Zuerst mit der Hand, und wenn es ihm die Wärter erlauben, tippt er es an einem Computer ab. Internet gibt es im Gefängnis nicht. Einen Fernseher hat er nicht. Schulz will den anderen nicht beim Leben zuschauen. Nach zehn Jahren wird er entlassen. Es ist Herbst, einer der letzten sonnigen Tage im Jahr. Ein Freund holt ihn mit einem Lieferwagen ab. Gemeinsam tragen sie kistenweise Bücher aus seiner Zelle.

wieder dazugehören. Und alle anderen sind beschäftigt. Schulz weiß nicht, wie er eine Arbeit fi nden soll. In der Zeitung stehen fast keine Anzeigen mehr. Im Arbeitsamt vermittelt ihm die Zentrale eine Ansprechpartnerin. Er soll ihr eine Mail schreiben, bekommt aber keine Antwort. Nach ein paar Tagen fragt er sich, ob sie angekommen ist. Können E-Mails verloren gehen? So wie Briefe? Schulz weiß es nicht. Es gibt kein Gegenüber mehr, keine Mimik oder Stimme, die er deuten kann. Für ihn ist alles ein großes Rätsel. Seine Gedanken schreibt Schulz auf. Er dreht die Wörter hin und her, überlegt, was sie bedeuten. Was heißt Freiheit? Was bedeutet Gefangenschaft? Zur Zeit beschäf-

W E LT HEKTISCHER I ST D I E

GEWORDEN

ODER ER

LANGSAMER Jetzt sitzt Schulz auf einer Bank in der Sonne und dreht sich eine Zigarette. Er kann seine Tat nicht vergessen. Schulz ist froh, dass er als voll schuldfähig eingestuft wurde, auch wenn er bei der Tat zugedröhnt war. Er will keine Ausreden. Er will nach vorne gucken, aber das fällt ihm schwer. Wenn er Freunde trifft, sagen sie immer, dass sie gerade wahnsinnig viel zu tun hätten. „Ich verstehe nicht, dass plötzlich keiner mehr Zeit hat.“ Ihm kommt es wie ein Ritual vor, das er nicht versteht. Im Gefängnis hatte er unendlich viel Zeit, um über alles Mögliche nachzudenken. Jetzt ist er im Rhythmus der Welt draußen noch nicht angekommen. Sind die anderen hektischer geworden oder er langsamer? Schulz weiß es nicht. Er hat noch keine Arbeit gefunden, würde aber jeden Job annehmen. Er will

tigt ihn vor allem das Wort „scheitern“. Er fi ndet, dass es viel zu oft gebraucht wird. Er liest von gescheiterten Staaten, Freunde erzählen ihm von gescheiterten Ehen und gescheiterten Karrieren. „Selbst, wenn gerade etwas gut ist, muss mitschwingen, dass es böse ausgehen könnte.“ Er hat das Gefühl, dass das früher anders war. Trotzdem hat er lange überlegt, ob er selbst gescheitert ist. Als Mensch, als Künstler. Doch für Schulz ist etwas erst gescheitert, wenn es für immer kaputt ist. „Ich glaube, man sollte sich eingestehen, dass manches nicht geklappt hat“, sagt er. „Und dann sollte man mit etwas anderem weitermachen.“ ➳ Auszüge aus Adam Schulz‘ Texten gibt es online zu hören: www.klartext-magazin.de/53K/adam

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DIE D U R C H H A LT E F O R M E L Warum machen wir weiter? Bei widrigen Umständen, gegen den eigenen Schweinehund oder wenn andere schon längst aufgegeben hätten? Die Antwort liefert unsere Schaltzentrale: das Gehirn.

TEXT UND ILLUSTR ATION SIMONE STERN

Belohnung gezielt aufschieben können. Die also die Ziellinie absichtlich herauszögern, um zum Weitermachen zu motivieren. Wie die Karotte, die dem Gaul zwar immer vor der Nase baumelt, aber unerreichbar ist, bis sich der Reiter erbarmt und die Mühen doch noch entlohnt. Man kann also besser im Weitermachen sein als andere. Es läuft eben nicht jeder Marathon. Willenskraft, davon geht die Psychologie heute aus, ist eine Frage d des Arbeitsgedächtnisses. Das ist der Teil des Gehirns, der die Informationen bereithält, die wir in diesem Moment brauchen. Die Uhrzeit der Nachmittags-Besprechung mit dem Chef zum Beispiel. Das Arbeitsgedächtnis sorgt aber auch dafür, dass man sich auf Inhalte und auf Ziele fokussiert. Der leere „Speicherplatz“ ist bei jedem anders, und je größer er ist, desto besser ist man im Durchhalten. Um die eigenen Kapazitäten und damit die Willenskraft zu erhöhen, gibt es verschiedene Wege. Man sollte sich realistische Ziele setzen. Sich zum Beispiel erstmal nur für den Halbmarathon anmelden. Und Störfaktoren beseitigen. Zu viel Ablenkung bringt den Fokus ins Wanken. Oder aber man widmet sich einem Hobby, das das Hirn extrem fordert. Schach oder ein Instrument spielen. Am besten fünfmal die Woche. Man müsste sich nur aufraffen können. ➳

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as unterscheidet eigentlich einen „Ich sollte mal wieder Joggen gehen“-Läufer vom MarathonAbsolventen? Die Fitness. Und das Durchhaltevermögen. Denn wer 42,195 Kilometer in weniger als zweieinhalb Stunden rennt, kommt garantiert mehrfach an den Punkt, an dem der Körper nicht mehr will oder kann. Aber trotzdem weiter einen Fuß vor den anderen setzt. Der Motor, der dabei immer weiter er treibt und den Fokus auf ein Ziel festnagelt, gelt, ist unser Kopf. Das gilt auch für Top-Manager, Nobelpreis-Wissenschaftler nschaftler und alle anderen, die nicht aufgeben, wenn sie auff Hürden stoßen, stolpern oder der stürzen. Aber wie macht acht das Hirn das eigentlich? h? Dass ein Mensch einer Sache immer weiter nachjagt, hat mitt dem Neurotransmitter Dopamin zu tun. Einem „Glückshormon“. Es sorgt dafür, dass wir uns gut fühgar wie im len, manchmal sogar n wird imRausch. Dopamin ischen System mer dann im limbischen hüttet, wenn ein des Hirns ausgeschüttet, Bedürfnis befriedigt wurde. Das kann der Döner am Schnellimbiss sein, das Schulterklopfen des Vaters oder das Ende der Nachtschicht. Doch wenn man sich durch einen ganzen Marathon quält, braucht es auch etwas anderes: Beharrlichkeit. Dafür gibt es zwar keine extra Neurotransmitter. Aber es gibt Netzwerke im Frontalhirn, die die Dopamin-

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DER A LT E M A N N UND DIE MASCHINE Sein Leben lang forscht Josef Neumair an einer Maschine, die es eigentlich nicht geben kann – sagen Experten, Erfahrungen und die Physik. Warum er trotzdem nicht aufgibt.

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Neumair. Ein Bekannter hat die Scheiben für ihn ausgefräst. „Er hat mich nicht verstanden“. Er spricht langsam und leise. Alle Teile mussten einzeln angefertigt werden. Er bekam zwei linke Scheiben geliefert, brauchte aber eine rechte und eine linke. Die Rillen waren falsch platziert. Warum, weiß er nicht. Auf den Nachbardächern spiegeln die PhotovoltaikAnlagen das Sonnenlicht. Neumair hätte auch eine auf seine Scheune bauen können. Aber davon hält er nicht viel. Wenn es neblig oder bewölkt ist, könne man sich noch nicht einmal einen Kaffee kochen. Es bräuchte doch etwas, was immer läuft. Immer Strom produziert, für alle. „Es ist die Pfl icht von jedem, für seine Mitmenschen etwas Gutes zu tun“, sagt er. Schon als Kind betrachtete Neumair in seinem Heimatort in Bayern die Wassermühle, die das kleine Dorf mit Strom versorgte. Er stellte sich eine Maschine vor, die auch ohne Wasser läuft. Als die Alliierten die Bombenangriffe auf die nahe Schießpulverfabrik flogen und der Bevölkerung das Licht abgedreht wurde, wusste er, was es heißt,

FOTO: J U L I A H ÄGE L E

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n der Scheune neben Traktor und Mofa steht das, was Josef Neumair seit seiner Kindheit nicht ruhen lässt. Der 78-Jährige läuft über den Kies seines Bauernhofs in Aichach bei Augsburg und öffnet das Scheunentor wie einen Bühnenvorhang. Zum Vorschein kommt eine Maschine, die aussieht wie ein mannshohes Kreissägeblatt. Josef Neumair zieht die Folien herunter, vier verschiedene Lagen. Eine fünfstellige Summe hat er investiert. Alles für seinen Traum eines Perpetuum mobile, einer Maschine, die ewig läuft, ewig Strom produziert ohne Kohle, Atome, Wasser, Wind oder was Menschen sonst noch nutzen, um Kaffee zu kochen oder Auto zu fahren. Allein die Bodenplatte des Mobile wiegt eine Tonne. Die beiden Scheiben nochmal jeweils 50 Kilo. Dazwischen kleine Zylinder, die für Antrieb sorgen. Alles aus Metall. Josef Neumair schiebt das Rad an. Die Zylinder tanzen zwischen den Scheiben. Ein Knacken und Knirschen. Fünf Sekunden, zehn Sekunden. Dann ziehen die Zylinder nach rechts, schaukeln, bremsen. Das Rad bleibt stehen. „Die Verlagerung vom Drehpunkt ist das Problem“, sagt

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keinen Strom zu haben. Damals entstand das Perpetuum mobile in seinem Kopf. Dort drehte es sich immer weiter, bis heute. Neumair war Metzger, Zimmermann, Landwirt, Maurer und arbeitete in einer Landmaschinenfabrik. Hier lernte er das technische Zeichnen. „Immer, wenn ich in etwas richtig gut geworden war, habe ich etwas Neues angefangen“, sagt er. „Es hat mich einfach alles interessiert.“ Er erneuerte den gesamten Bauernhof, den seine Frau geerbt hatte, baute seinen drei Kindern Häuser, den Nachbarn eine Treppe. Alles funktioniert, alles steht noch. Nur das Perpetuum mobile, das will einfach nicht gelingen. Schon Leonardo da Vinci zeichnete Konstruktionen einer Maschine, die sich ewig bewegen soll. Er zweifelte am Ende an der Machbarkeit. Jedes Kraftwerk braucht einen Antrieb: Wärme, Wasser oder Wind. Energie aus dem Nichts zu produzieren, ist physikalisch unmöglich. Hermann von Helmholtz formulierte das 1847 im Energieerhaltungssatz, der dem Perpetuum mobile den wissenschaftlichen Totenschein ausstellte. Patentämter lehnen

heute jede Erfi ndung mit Verweis auf die Naturgesetze ab. Neumair ist trotzdem hingegangen. Immer wieder. Zweimal hat er Beschwerde eingereicht. Ohne Erfolg. Er will nicht unbedingt Energie aus dem Nichts erschaffen. „Es reicht ja auch ein Gerät, das einfach mehr Strom produziert, als verbraucht wird.“ 600 Watt hineingeben, 3.000 Watt wieder herausbekommen. Aber auch das geht physikalisch nicht. Energie wandert von einem

SCHON LEONARDO DA VINCI VERZWEIFELTE AM PERPETUUM MOBILE System in ein anderes. Von der Kohle in die Stromleitung. Von der Steckdose in den Mixer. Aber die Menge an Energie bleibt dabei immer gleich. Nichts geht verloren, ➳

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nichts kommt hinzu. Wenn man Energie in eine Maschine gibt, kommt am Ende die gleiche Menge wieder heraus. Naturgesetz. Unumstößlich. Niedergeschrieben in Hunderten Physikbüchern. Aber Neumair liest keine Physikbücher. „Da steht ja eh nur drin, dass es nicht geht“, sagt er, „und auch Leonardo da Vinci hat sich mal geirrt.“ Er will es zumindest versuchen. Im Wohnzimmer liegt ein Stapel Mappen voll mit Zeichnungen. Durchnummeriert, mit Name, Datum und Adresse. Bleistiftkreise, die sich irgendwann einmal drehen sollen. Artikel über andere Erfi nder, die auch an der Maschine aller Maschinen arbeiten. Wenn er wieder eine Idee hat, holt er seinen Zeichenblock raus und die Lineale:

„LASS ES BLEIBEN, PAPA. ES FUNKTIONIERT NICHT“ Kreise, Dreiecke, Ellipsen. Dann setzt er sich an den Wohnzimmertisch. An jeder Wand ein Engel oder Jesus. Wo hat es beim letzten Mal gehakt? „Ich bin da zu hoch hinaus und da zu tief gegangen“, sagt er und fährt mit seinem Fingerstumpf über das Foto eines früheren Modells. Die Kuppe von seinem Zeigefi nger hat er bei Sägearbeiten verloren. Er hatte mal ein kleineres Modell bauen lassen, 70 Zentimeter hoch, ein paar Tausend Mark. Als er es bei der Firma abholen wollte, war es weg. Er vermutet, ein Mitarbeiter hat es gestohlen, aber er konnte niemanden verdächtigen, nichts beweisen. Er klagte nicht. Ab dann wurde alles groß und schwer. Nichts, was man schnell stehlen konnte. Ein Sattelschlepper mit Anhänger brachte die fertige Maschine. Ein Rad mit Zylindern, wie abstehende Haare. Sie lief mehrere Stunden, aber nicht ewig. „Da wollte ich das erste Mal wirklich aufgeben.“ Dann las Neumair einen Artikel über eine Maschine, die schon seit einer Woche durchlief und angeblich mehr Strom produzierte, als sie verbrauchte. Neumair fass-

te neuen Mut. Zeichnete neue Entwürfe, kratzte neues Geld zusammen. Der Sohn ist genervt: „Lass es bleiben, Papa. Es funktioniert nicht.“ Aber der Vater bleibt stur. Es gibt eine Abmachung in der Familie Neumair: Wegen des Mobiles, wie sie sagen, wird nicht gestritten. Neumairs Frau Brigitte ist klein und freundlich, ihr Händedruck zart. „Ich lass ihm sein Mobile.“ Auch wenn die Nachbarn ihn für verrückt halten, aufhören will Neumair nicht. Zweifel, Häme und Lacher machen ihm nichts aus. „Ich hab‘s versprochen“, sagt er mit dem feierlichen Stolz eines Kindes, das einen Schwur geleistet hat. „Ich hab Jesus versprochen niemals aufzugeben.“ Neumair hat den Krieg überlebt, eine Bombe, die nur 15 Meter entfernt von ihm explodierte. Zwei schwere Autounfälle. „Aber es ist immer gut ausgegangen“, lacht er. Eigentlich lacht er immer. Josef Neumair ist dankbar für sein Leben, möchte etwas zurückgeben. Mitte der Neunzigerjahre ging er nach Kroatien, um dort nach dem Krieg beim Wiederaufbau zu helfen. Baute Kirchen und Notunterkünfte, half den Menschen. Und mit dieser Maschine – könnte er da nicht allen Menschen helfen? Keine Umweltverschmutzung mehr, keine teuren Stromrechnungen, die manche nicht bezahlen können. Bei denen wird dann der Strom abgedreht und es wird dunkel, als wäre wieder Krieg. Was ist da schon eine fünfstellige Summe? „Ich mache mir nichts aus Geld“, sagt Neumair. Auf dem Tisch liegen die Fotos aus Kroatien. Eines zeigt ihn beim Holzhacken. Auf der Rückseite steht in blauer Schrift: „Wir leben nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere.“ Er hat schon wieder einen Entwurf in Arbeit. Nur das Geld für die Umsetzung hat er nicht. Wenn wieder welches da ist, wird es in die Entdeckung des Perpetuum mobile fl ießen. „Oder es fi ndet sich vielleicht ein Investor.“ Brigitte Neumair bleibt verständnisvoll. „Aber ein paar Mal in den Urlaub gefahren wäre ich schon ganz gern.“ ➳ Ein Video von Neumairs Maschine gibt es unter www.klartext-magazin.de/53K/perpetuum-mobile

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Von der Skizze bis zum fertigen Modell ist es ein weiter Weg und ein teurer

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DIE ZUKUNFT IM RÜCKEN Nach gestern und heute kommt das Morgen. Vielleicht aber auch nicht. Wie man Zukunft anders denken kann.

TEXT MARIA CAROLINE WÖLFLE

Vorstellungen von Zukunft können aber auch zyklisch sein: Hindus etwa glauben an den Kreislauf des Lebens, an Wiedergeburt. Für die Aborigines in Australien verläuft Zeit nicht von A bis Z, nicht vom Anfang bis zum Ende. Sie verstehen ihr Leben als zeitlos und als Teil einer kontinuierlichen Schöpfungsgeschichte – so als sei Gott am Ende des siebten Tages nicht fertig gewesen. Auch die Gegenwart kann bestimmen, wie wir uns das vorstellen, was kommen mag. Der kenianische Science-Fiction-Film „Pumzi“ handelt beispielsweise von einer Welt, in der alles vertrocknet ist. Weil es in Kenia schon jetzt zu immer mehr Dürren kommt. Konzepte von Zukunft unterscheiden sich auch innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur. Sie sind weder statisch noch kann man pauschal von der einen Zukunftsvision sprechen. Und sie können sich verändern. Trotz all dieser unterschiedlichen Arten, Zukunft anders zu denken, hat sich die Idee einer linearen und beeinflussbaren Zukunft globalisiert. Weil sich in vielen Gesellschaften die Vorstellung von Fortschritt und Modernisierung durchgesetzt hat. Den totalen Gegensatz dazu fand der Ethnologe und Soziologe Pierre Bourdieu Ende der 1970er Jahre bei den Kabyle. Bei dieser Berbergruppe in Nordalgerien gilt: Wer versucht, die Zukunft zu beeinflussen, handelt unmoralisch. Die Welt würde aus dem Gleichgewicht geraten. ➳

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ie Aymara zeigen nach hinten, wenn sie über Zukunft sprechen. Weil sie ungewiss ist, sie liegt hinter dem, was wir sehen können. Sprechen die Menschen des Anden-Volks von der Vergangenheit, zeigen sie nach vorne. Die kennen sie ja schon. Wie wir uns Zukunft vorstellen und wie wir über sie sprechen, ist kulturell geprägt. Während die Aymara nach hinten zeigen, schauen wir in Deutschland nach vorne. Bei uns heißt Zukunft Modernisierung und Wachstum, und unsere Vorstellung von Zeit ist linear: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Wir betrachten die Zukunft als ungewiss, offen und anders als das, was gestern war. Trotzdem wollen wir sie – durch das, was wir heute tun – beeinflussen. Warum sonst der Bausparvertrag und die Zusatzversicherung? Wie wird es weitergehen? Diese Frage treibt uns um. Dabei ist es egal, ob wir an den Weltuntergang glauben oder an den stetigen Fortschritt – Zukunft ist für uns selbstverständlich. Für die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim gibt es in westlichen Gesellschaften einen „Zwang zu Zukunft“. Wir müssen über sie nachdenken, und manchmal ist sie wichtiger als die Gegenwart. Nur so lässt sich der Gedanke der Nachhaltigkeit erklären – wenn uns das Morgen wichtiger ist als das Heute. Man kann Zukunft aber auch anders denken. Was wir uns vorstellen, hängt nicht nur von der Kultur ab, sondern auch von Religion. Für radikal-religiöse Gruppen wie den Islamischen Staat etwa liegt die Zukunft in der Vergangenheit. Sie wollen zurück zum „Goldenen Zeitalter“, ein Leben wie es Mohammed nach ihrer Interpretation im 7. Jahrhundert führte. Das Paradies-Konzept im Islam verspricht den Dschihadisten aber auch 72 Jungfrauen. Gläubige Christen hoffen darauf, ins Himmelreich zu kommen und nicht in die Hölle. Danach richten sie ihr ganzes Leben aus. Und für Atheisten ist Zukunft schlicht endlich. Nach dem Tod kommt für sie nichts mehr.

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Pump it: Um mehr als sieben Zentimeter ist der durchschnittliche Brustumfang deutscher Männer seit 1980 gewachsen. Damals waren es 98,8 Zentimeter, 2009 schon 106,1 Zentimeter. Einen erstaunlich großen Zuwachs obenrum zeigen auch die italienischen Frauen: fast zwölf Zentimeter in 25 Jahren.

Eine Nummer größer – aber bitte für alle. Wir sind breiter geworden.

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QU E L L E N: SI Z E GE R M A N Y - DI E DEU T SC H E R E I H E N M E S SU NG/SI Z E I TA LY - DI E I TA L I E N I SC H E R E I H E N M E S SU NG/ H U M A N SOLU T ION S GM BH

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Jetzt stark sein: Der Taillenumfang deutscher Frauen ist in den letzten 20 Jahren um vier Zentimeter gewachsen. Einige Hersteller haben ihre Größen deshalb angepasst und schneidern die Klamotten weiter. Modemacher mit junger Zielgruppe ziehen nicht mit. Sie verwenden ihre eigenen Maßtabellen.

Weiter geht‘s unter www.klartext-magazin.de/53K/breiter 53

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er CD-Player spielte afrikanische Musik. Vor einem Jahr tanzte Naserian im rosa Nachthemd über den Flur der Klinik Waldfriede in Berlin Zehlendorf. Damals ließ sie sich dort ihre Genitalien chirurgisch rekonstruieren. „Diese Klinik ist mein zweiter Geburtsort.“ Heute ist sie wieder gekommen, mit Rosen für An, eine junge Freundin, die gerade aus der Narkose aufwacht. Dass Naserian auf die 50 zugeht, sieht man ihr nicht an. Dass sie mal gemodelt hat, schon. Sie trägt Stiefel, ein Minikleid aus braunem Samt, einen bordeauxroten Blazer, lange Rastazöpfe, orangefarbenen Nagellack und silberne Teller-ohrringe. Der pinke Lippenstift auf den dunklen, vollen Lippen wird erst auf dem Weiß des Kaffeebechers richtig sichtbar. Ihre Geschichte will Naserian erzählen, ihren echten Namen aber nicht nennen. Ihre Familie hätte ihre Entscheidung nicht verstanden. Naserian ist 1967 in Kenia geboren. Als sie zwölf war, entfernte ihr eine Krankenschwester den sichtbaren Teil ihrer Klitoris. Die Beschneidung weiblicher Genitalien ist in einigen afrikanischen und manchen asiatischen Ländern Tradition. Die Mädchen werden in der Vorstellung dieser Gesellschaften so zu vollwertigen Frauen. Es ist

aufgeschnitten werden, wenn ein Paar Sex haben will und ein Kind geboren werden soll. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation haben etwa 140 Millionen Frauen weltweit verstümmelte Genitalien. „Alle elf Sekunden kommt ein neues Mädchen hinzu“, sagt Cornelia Strunz. Sie ist Chirurgin und ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Center Waldfriede, wo sich Naserian behandeln ließ. Es bietet genitalverstümmelten Frauen seit September 2013 medizinische und psychologische Hilfe. Je nach Grad der Verstümmelung braucht es verschiedene Fachärzte wie Urologen, Enddarmspezialisten oder Gynäkologen. Schirmherrin ist Waris Dirie, die mit ihrer Autobiografie „Wüstenblüme“ das Problem der weiblichen Genitalverstümmelung in die Medien brachte. Strunz berät die Frauen, die sie „Sister“ nennen, und organisiert die medizinischen Eingriffe. In ihrem Büro hängt eine Karte von Afrika. Naserian sitzt dicht neben „Sister“ Strunz. Sie lacht oft auf, erklärt mit großer Gestik und lauter Stimme. Wenn es um Intimes geht, wird ihre Stimme leiser, der Blick fi xiert sich im Nichts. Mehr als eine Stunde lang lässt Naserian die Hand der Oberärztin nicht los, während sie über ihr Schicksal spricht.

Naserian war zwölf, als sie beschnitten wurde. 35 Jahre lang fühlt sie sich nicht vollwertig. Dann hört sie vom Desert Flower Center. T E X T U N D I L LU ST R AT ION J U L I A H ÄG E L E U N D E VA CAS PE R

ein Ereignis. „Ich habe mich so lange minderwertig gefühlt, weil es kein Beschneidungsfest für mich gab“, sagt Naserian. Der Vater vom Stamm der Samburu hatte die Mutter, eine Massai, verlassen, weil sie keinen Sohn gebar. Nach der Trennung gab es für die Familie keinen Grund mehr, im Dorf zu feiern. Im Nachhinein sei das fehlende Fest ein großes Glück gewesen, sagt Naserian. „Wenn man es zu Hause macht, schneiden sie oft alles weg.“ Beschneiderinnen genießen hohes Ansehen. Die alten Frauen sehen oft schlecht und arbeiten unter unhygienischen Bedingungen mit alten Messern, Rasierklingen oder Glasscherben. Naserian wurde in einem Krankenhaus beschnitten. Ihr wurde dort „nur“ der äußere Teil ihrer Klitoris entfernt. In der Kategorisierung der Weltgesundheitsorganisation fällt Naserian unter Typ I von vier Verstümmelungstypen. Zusätzlich können die inneren Schamlippen abgeschnitten werden, bei der krassesten Form werden auch die äußeren Schamlippen bis auf ein winziges Loch zum Urinieren und Menstruieren zugenäht. Die Verstümmelungen werden zumeist ohne Narkose durchgeführt. Ein körperliches und seelisches Trauma für die Frauen. Die Mädchen und jungen Frauen bekommen oft Infektionen, sind anfälliger für Scheiden- und Analfisteln. Sie verlieren schlimmstenfalls durch die Fisteln Stuhl über die Scheide. Eine zugenähte Vagina muss erst wieder

Mit 16 lernt sie einen Weißen in einer Disco in Nairobi kennen, geht mit ihm nach England und heiratet ihn. Das geht, weil in ihrem Pass steht, dass sie 1965 geboren wurde, also schon 18 sei. Jede Nacht schläft sie mit ihrem Mann. „Ich wusste, eine gute Hausfrau muss hier etwas fühlen“, sagt sie. „Aber ich habe nichts gefühlt.“ Sie spielt die Freude am Sex vor, acht Jahre lang. „Das hat mich kaputt gemacht.“ In Deutschland, wo sie und ihr Mann aus berufl ichen Gründen hinziehen, wird sie als Model entdeckt. Als die Ehe kaputtgeht, zieht sie nach Berlin, lernt einen reichen Mann kennen. „Ich konnte mir alles kaufen. Dann kam die Frage auf, was ist wirklich mit mir los?“ Herausgeputzt, aber innerlich leer, beginnt Naserian ihre Wurzeln zu suchen. Und geht für zehn Jahre zurück nach Kenia. Dorthin, wo es kein Bewusstsein dafür gebe, dass „Beschneidung ein Problem ist“. Wieder in Deutschland, hört sie im Radio erstmals vom Desert Flower Center. Sie ruft Strunz sofort an. Wenig später behandelt Uwe von Fritschen Naserian. Der plastische Chirurg nimmt die Rekonstruktionen im Desert Flower Center vor. Europaweit gibt es nur eine Handvoll Ärzte, die weibliche Genitalien rekonstruieren, denn das ist nicht Teil der medizinischen Ausbildung. Von Fritschens Spezialgebiet ist eigentlich die Transsexuellen-Chirurgie. ➳

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„Bei einer Rekonstruktion tragen wir zunächst das Narbengewebe ab und bringen die Klitoris wieder nach außen“, sagt er. „Hier wird sie an der ehemaligen Position befestigt.“ Das zur Verfügung stehende Gewebe werde so modelliert, dass es der ursprünglichen Form so nah wie möglich kommt. Wenn die Narben weg sind und die Klitoris wieder frei liegt, empfi nden die Frauen oft erstmals in ihrem Leben sexuelle Lust. „Die Frauen wollen durch die Operation in erster Linie ihre Weiblichkeit zurückerlangen. Nicht alle erhoffen sich eine sexuelle Empfi ndung, zumal sie nicht wissen, was das bedeutet“, sagt Strunz. Die meisten seien im frühesten Kindesalter verstümmelt worden, also bevor sie erstmals sexuellen Kontakt hatten. Wenn Strunz den Frauen in der Sprechstunde einen Spiegel in die Hand gibt und fragt, ob sie ihre Genitalien anschauen wollen, zögern viele. Sie erklärt dann geduldig, wie die weibliche Anatomie normalerweise aussieht, wo die

harmlosend „Beschneidung“ nennen, gehört zum kulturellen Fundament, auf dem die Frauen stehen. Menschenrechtsverletzung hin oder her. Auch Naserian steht auf diesem Fundament und sagt: „Bis jetzt, Gott vergib mir, sind die Beschneidungsfeste schöne Kindheitserinnerungen für mich“, und fragt: „Ist das böse?“ Bei der Beschneidung ihrer älteren Schwester kam das ganze Dorf zusammen, es wurde getanzt und gesungen. Mit der Rekonstruktion gerät dieses Fundament ins Wanken. Sogar Naserians Schwester in Kenia weiß nichts von ihrer Entscheidung. „Ich habe ihr erzählt, dass ich noch mal beschnitten wurde.“ Für andere Frauen da zu sein, hilft Naserian bei ihrem Heilungsprozess. Sie hat mit Strunz eine Selbsthilfegruppe für verstümmelte Frauen gegründet. Zur 29-jährigen An, die von Fritschen und Strunz heute morgen operiert haben, hat Naserian ein besonderes Verhältnis. An kommt auch aus Kenia, ist in einem Slum aufgewach-

Klitoris hingehört und dass sie auch noch da ist, dass nur eine Narbe sie verdeckt. Die meisten Frauen haben sich im Intimbereich noch nie angeschaut. „Noch heute muss ich mir erlauben, mich dort anzufassen“, sagt Naserian. Narbengewebe, Scheiden-Darm-Fisteln und Schließmuskelverletzungen lassen sich im OP schnell behandeln. Viel schwieriger ist es für Naserian, einen Bezug zu ihrem Körper herzustellen. Und einen Mann zu fi nden, der versteht, dass die Wunde, die ihr vor 35 Jahren zwischen den Beinen zugefügt wurde, ihr ganzes Leben beeinflusst. Probleme, Männer kennenzulernen, hat Naserian keine. Wenn es aber darum geht, sie an sich heranzulassen – körperlich und seelisch – wird es komplizierter. Auch im Moment hat sie einen Verehrer, der unbedingt mit ihr schlafen will. Aber sie ist noch nicht bereit. Seit der Eröffnung des Desert Flower Center haben sich hier fast 30 Frauen ihre Genitalien rekonstruieren lassen. „Die Leute machen sich keine Vorstellung davon, wie mutig diese Frauen sind“, sagt Naserian. Denn was sie ver-

sen, kann weder lesen noch schreiben. Erst mit 24 wurde sie beschnitten. „Sie trägt eine solche Wut in sich“, sagt Naserian, „weil sie weiß, wie es vorher war.“ In Naserians Leben hat sich nach der OP viel verändert. Sie studiert Schauspiel, schreibt Lieder, macht Bewegungstheater. Und sie singt wieder. Das hat sie als Kind gerne gemacht. „Nach meiner Beschneidung ging es nicht mehr.“ Wie es mit dem nächsten Partner sein wird, weiß ➳ Naserian nicht. „Ich will langsam wachsen.“ Uwe von Fritschen und Cornelia Strunz im Desert Flower Center Waldfriede

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Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG Hans-Gerd Bode Leiter Kommunikation Porscheplatz 1 D-70435 Stuttgart-Zuffenhausen

AOK Bayern – Die Gesundheitskasse Michael Leonhardt M.A. Pressesprecher Tel. +49 89 62730 -146 presse@by.aok.de www.aok.de

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Thüga Aktiengesellschaft Christoph Kahlen Leiter Öffentlichkeitsarbeit Nymphenburger Str. 39 80335 München Tel.: +49 89 38 197-1215 christoph.kahlen@thuega.de www.thuega.de

Hirmer Verlag Eva-Maria Neuburger Pressesprecherin Tel. +49 89 12 15 16 63 presse@hirmerverlag.de www.hirmerverlag.de

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Dr. Georg Schreiber

Medien2015 preis Die Gesundheitsreform sieht vor, dass künftig alle gesetzlichen Krankenkassen insolvenzfähig sind. Auch für die landesunmittelbaren Krankenkassen, die ser derzeit noch als insolvenz unfähig gelten, soll die Insolvenzfähigkeit hergestellt werden. Gleichzeitiges werden die noch bestehenden Bundesverbänden als solidarische Haftungsverbünde der jeweiligen Kassenart aufgelöst. Die Haftungsgebäude der Landes- und Spitzenverbänden passen nicht mehr in die von der Politik gewünschte neue Struktur mit einem GKV-Dachverband. Die Haftungsaufgaben gehen allerdings nicht auf den Spitzenverband über. Den Krankenkassen droht damit im Falle einer dauerhaften Leistungsunfähigkeit die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Die Spitzenverbände sind zur Zeit der Schlussstein in dem Gebäude der Absicherung der Krankenkassen, ohne diese

Die Deutsche Journalistenschule dankt allen Inserenten und Förderern dieses Abschlussmagazins unserer Zeitschriftenausbildung der Klasse 53K herzlich für die Unterstützung

n, tmedie ür Prin nd Internet! f b r e w u Wettbek, Fernsehen n u f r ö H

Zugelassen sind Beiträge junger Journalistinnen und Journalisten bis einschließlich 35 Jahre zu den Themen Gesundheit und Soziales, die zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2015 in einer in Bayern erscheinenden Zeitung oder Zeitschrift veröffentlicht oder von einem Rundfunksender mit redaktionellem Sitz bzw. einem Landesstudio in Bayern ausgestrahlt worden sind. Zugelassen sind entsprechend auch speziell für das Internet produzierte Beiträge auf allgemein zugänglichen Webadressen. Beiträge aus den elektronischen Medien außerhalb Bayerns müssen einen thematischen Bezug zum Freistaat haben. Im Printbereich wird zudem ein bundesweiter Sonderpreis ohne Altersbeschränkung vergeben. Der Medienpreis ist mit insgesamt 30.500 Euro dotiert. Informationen und Anmeldung: Internet: www.aok-medienpreis.de e-mail: medienpreis@by.aok.de Telefon: 089 62730-184 AOK Bayern, Zentrale, z. Hd. Frau Andrea Winkler-Mayerhöfer Carl-Wery-Str. 28, 81739 München Ausgeschrieben von der AOK Bayern in Zusammenarbeit mit den Nachwuchsjournalisten in Bayern e.V. (NJB) - unterstützt von der Deutschen Journalistenschule München e.V. (DJS).

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NACH DEM

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Rosalinde Meininger in der Ruine. Unter ihren Füßen liegt die abgebrannte Haustür

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Eine Familie tut alles, um unter einem Dach zusammenleben zu können. Dann kommt das Feuer. Wie macht man weiter, wenn man alles verloren hat?

TEXT UND FOTOS JOHANNA ROTH

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insatzdatum: Donnerstag, 8. Januar 2015, 14:32 bis 19:30 Uhr. Einsatzort: Grünbach bei Neuschönau. Alarmierung über ILS Passau um 14:34:53 Uhr. Einsatzgrund: B3 – Wohnhausbrand. Der zweite Einsatzbericht der Freiwilligen Feuerwehr Neuschönau im neuen Jahr ist lang. Er listet genau auf, wie viele Feuerwehren beteiligt waren (zehn) und wie viele verletzte Personen es gab (eine), wer die Einsatzleitung hatte und wie die Schlagzeile in der Lokalpresse lautete („Auf Knall folgt Feuer“). ER ERZÄHLT VOM SCHNELLEN STERBEN eines Hauses, aber nicht vom Leben darin. Wie es, heruntergekommen und baufällig, 1988 wiederaufgebaut wurde. Mit eigenen Händen, von einem glücklichen Ehepaar, das ein Zuhause für seine Kinder suchte. Wie dieses Paar es fast wieder verloren hätte, weil er schwer krank wurde und sie den Kredit nicht mehr bedienen konnte. Er erzählt nicht, dass sechs Menschen ihre Kindheit darin verbrachten. Und auch nicht, wie Rosalinde Meininger im Feuer alles verlor, was sie sich über Jahrzehnte erarbeitet hatte. Ihr Zuhause, ihren Besitz, ihren Alltag, ihre Familie. Neuschönau ist ein Nest im Bayerischen Wald, 2.000 Einwohner, Naturpark, Touristenpfade. Alfons Schinabeck ist seit vergangenem Jahr Bürgermeister, er macht das ehrenamtlich neben seiner Metzgerei. In seiner Bürgersprechstunde empfängt er heute, acht Wochen nach dem Feuerwehreinsatz, Rosalinde Meininger. Seit ihr Haus niedergebrannt ist, kommt sie oft her. Rosalinde – Witwe, fünf Kinder, eine Enkelin, müdes Gesicht und blassrote Strubbelfrisur – sagt jedes Mal „Herr Bürgermeister“, wenn sie ihn anspricht. Irgendwann ruft Schinabeck sie lachend zur Ordnung, sie möge doch wieder „Du“ sagen. Er ist stolz auf seine Leute und die schnelle Hilfe für die Familie. Am Tag nach dem Brand kamen gleich 1.000 Euro für das Nötigste: Unterwäsche, Hygieneartikel, Windeln für das Kind. Für alles weitere sorgt eine Gemeindestiftung. Mittlerweile ist eine ganze Wohnungseinrichtung zusammengekommen, dazu Kleidung und Spielzeug. Rosalinde träumt davon, das Haus wieder aufzubauen. Im Moment fehlt schon das Geld für die Entsorgung des Asbests in der Ruine. Ein Fotoalbum, Hochglanz und Pink, ist das Einzige, was geblieben ist, geschützt unter einem Sofa. Darin, fein

säuberlich eingeklebt: Rosalinde und ihr Mann beim Balkenschleppen, auf dem Gerüst vor dem Haus, lachend. Die jüngste Tochter Frieda ist gerade geboren. Rosalinde arbeitet in der nahen Konservenfabrik, bis ihr Mann schwer krank wird. Sie pflegt ihn, bis er 2002 stirbt. ALLEIN MIT FÜNF KINDERN wird das Geld schnell knapp. 2003 muss Rosalinde das Haus der Bank überschreiben. Die Familie spart und knausert, um sich ihr Heim zurückkaufen zu können. Die Kinder verzichten auf Klamotten, Ausgehen, Reisen. Alles, was sie in diesen Jahren verdienen, stecken sie ins Elternhaus. Es gibt Zeiten, da bleiben nur hundert Euro im Monat zum Leben. Trotzdem, so erzählt es der Bürgermeister, beteiligen sich auch die Meiningers, als das neue Asylbewerberheim in Neuschönau Sachspenden benötigt. Im Mai 2014 kaufen sie das Haus zurück, endlich. Die Kinder denken nicht daran auszuziehen. Sie richten sich neu ein: Rosalinde unten, Frieda und ihre zweijährige Tochter Mia haben zwei Zimmer oben, die Zweitälteste Michaela hat ihre Räume, ebenso Markus, der einzige Sohn. Unten in der Wohnküche sitzen alle zusammen. Sie kaufen Möbel und träumen von einer neuen Treppe. Freunde, Familie, Nachbarn – die schönste Zeit verbringen sie auf der Eckbank in der Küche oder auf der Terrasse, während Mia auf ihrer neuen Schaukel quietscht. Sie wissen nicht, dass es in Deutschland keine Brandschutzversicherungspfl icht mehr gibt. Der 8. Januar 2015 ist ein Donnerstag. In Neuschönau liegt noch Schnee. Rosalinde ist bei der Arbeit, Michaela und Frieda sind schon zuhause. Frieda macht oben ein Mittagsschläfchen mit Mia, das machen sie immer so, wenn Frieda von der Arbeit kommt. Plötzlich knallt es. Der alte Holzofen im Erdgeschoss, mit dem das Haus geheizt wird, ist explodiert. Überall Flammen, Rauch quillt nach oben. DEN FRAUEN BLEIBEN NUR SEKUNDEN. Frieda greift sich ihre Tochter und springt mit ihr aus dem Fenster, einfach so, ohne nachzudenken. Erst Wochen später wird sie zusammenbrechen. Michaela schafft es noch, Lucky zu retten, den kleinen Yorkshire-Terrier ihrer Mutter. Mit einem Schock und verbrannter Schulter kommt sie ins Krankenhaus. Die Polizei wird später ermitteln, dass die Abgase aus dem Holzofen nicht abziehen konnten. ➳

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Später sitzt sie an ihrem neuen Küchentisch und raucht. Es ist Samstag, sie hat frei. Seit mehr als zehn Jahren putzt sie in der Grundschule im Ort, um ihre Rente aufzustocken. Auch Frieda und Michaela putzen, in einer Mutter-Kind-Klinik in der Stadt. Markus, der einzige Sohn, ist Maurer. Er wohnt mit seiner Mutter, Frieda und Mia in der neuen Wohnung, obwohl er nur auf dem Sofa Platz hat. „Ich kann die Weiber doch nicht alleine lassen“, sagt er. Michaela wohnt bei ihrem Freund. Ein paar Sachen hatte sie da immerhin schon. Ob sie sonst auch irgendwann ausgezogen wäre? „Vielleicht.“ Sie ist dreißig Jahre alt.

Ein Fotoalbum ist das Einzige, was der Familie geblieben ist

Vielleicht wurde der Kamin nicht richtig gewartet, vielleicht war der Ofen zu alt, es ist müßig, jetzt darüber nachzudenken. Viel wichtiger eine Zahl: 130.000 Euro. So beziffert man den Verlust der Familie. Das Haus, die neugekauften Möbel, sie müssen sich an jeden Kauf erinnern: Babybett, Handys, Fernseher. Damit sie bei Stiftungen nach Spenden fragen können, muss der Bürgermeister ihnen eine Bestätigung schreiben, dass es wirklich gebrannt hat, wie eine Entschuldigung in der Schule. Rosalinde knetet ihre Hände, als sie sagt, dass sie „sehr sehr dankbar“ sei für die Hilfe aus dem Ort. Je mehr sie spricht, desto ausgeprägter wird das Niederbayerische aus ihrem Mund. Die Kinder souffl ieren, wenn sie stockt. Sie wissen, die Mutter möchte nur eines: zurück nach Grünbach. Hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie ihre Kinder großgezogen. Nun wohnt sie in der Kreisstadt, ohne Auto meilenweit weg. Zögerlich zählt sie auf, was ihr am meisten fehlt. Vor allem ihr Bett, in dem sie abends immer die Pläne für den nächsten Tag machte. Heute geistern ihr jeden Abend dieselben Vorwürfe durch den Kopf. Hätte sie nicht doch etwas retten können? Warum hat sie sich nicht noch mal nach der Versicherung erkundigt? Später an diesem Tag steigt sie vorsichtig die Steintreppe dahin hinauf, wo früher einmal die Haustür war. Der Bürgermeister ist dabei und passt auf, dass sie nicht in einen der rostigen Stahlträger tritt, die überall herumliegen. Mia tobt den Feldweg neben dem Grundstück rauf und runter. Noch heute wacht das Kind nachts auf, erzählt Rosalinde, panisch, und ruft: „Heiß, heiß!“ ES RIECHT KAUM NACH VERKOHLTEM HOLZ. Der Geruch von Dung und Erde weht aus dem Dorf weiter unten herauf, man schnuppert Nässe und Gras, Schnee auch. Über die rußschwarzen Dachbalken, die hier und da aus den Trümmern ragen, blickt man kilometerweit über Felder und Hügel. „Die Aussicht war sagenhaft“, sagt Rosalinde, während sie durch den Schutt stapft. Als sie sich zum Fenster vorgearbeitet hat, sieht sie das Bild ihrer verstorbenen Mutter, das immer noch im Schlafzimmer hängt, als sei nichts gewesen. Danach sagt sie dann nicht mehr viel.

ES GIBT KAFFEE UND FERTIGKUCHEN, Mia trinkt Saft aus ihrer neuen Lieblingstasse mit Alfred Jodocus Kwak darauf. Vor dem Brand hat sie kaum ein Wort gesprochen. Heute plappert sie unentwegt: „Haus kaputt, Haus kaputt!“ Sie schmatzt so zufrieden, dass alle ein bisschen lachen müssen. Es ist alles da in dieser Küche: Kaffeemaschine, buntes Geschirr, sogar eine Eckbank gibt es wieder. Die Möbel durften sie sich selbst aussuchen von dem Geld, das ihnen eine Stiftung spendete. „Alles auf einmal, das war seltsam.“ Deshalb sieht es ein bisschen so aus, als hätte man ein Möbelhaus in eine Dreizimmerwohnung verfrachtet. Hier und da ein Blumentopf, Deko muss auch sein, fi ndet Rosalinde. In Friedas Zimmer stapeln sich blaue Ikea-Taschen mit Kinderkleidung, Kisten mit Spielzeug, Müllsäcke voller Wäsche. Alles gespendet. Vieles haben sie noch gar nicht ausgepackt, obwohl sie die Zeit eigentlich hätten. Kerstin, die Zweitjüngste, in Deggendorf verheiratet, dirigiert die Spenden, schreibt Briefe und Bitten. Von Stiftungen bis hin zu Einrichtungs-Shows im Fernsehen, nichts lässt sie unversucht. Vor einigen Tagen kam sie mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus. Die anderen versuchen, den Alltag weiterzuleben, ohne daran zu denken, was es vorher gab. Rosalinde und Frieda gehen arbeiten, mit Mias Betreuung wechseln sie sich ab. Den traditionellen Familienspaziergang am Sonntag machen sie hier in der Stadt nicht mehr. Als Rosalinde an jenem Nachmittag im Januar hört, dass es bei ihr brenne, wiegelt sie zunächst ab. Warum sollte es ausgerechnet ihr Haus sein, Neuschönau ist weitläufig, der Rauch könnte von überall her kommen. Dann springt sie aber doch zum Bürgermeister ins wartende Auto. Als sie am Haus sind, muss sie mit Gewalt daran gehindert werden, hineinzulaufen. „Ich wollte nur heim“, sagt sie. NÄCHSTEN MONAT ZIEHT SIE ZURÜCK nach Neuschönau, in eine neue Wohnung. Frieda und Mia kommen mit. Die Kinder haben Angst, dass die Mutter in der gewohnten Umgebung zusammenbricht. „Manchmal würd‘ ich schon gern wissen, warum es mich so hart getroffen hat“, sagt Rosalinde dazu nur. Aber da ist niemand, der ihr das beantworten könnte. Sie fragt ➳ dann auch nicht weiter.

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Oben: Die Meiningers heizten ihr Haus mit einem Holzofen. Niemand ahnte, dass die Abgase nicht richtig entweichen konnten. Links: Rosalinde und ihre Töchter besuchen die Brandruine. Unten links: Mia und ihre neue Lieblingstasse. Dass sie mal eine andere hatte, hat sie längst vergessen. Unten: Alfons Schinabeck, Bürgermeister von Neuschönau, unterstützt die Familie bei ihrem Neuanfang

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WA R U M S C H U F T E ST D U ? Ökonomen haben uns schon vor Jahrzehnten vorausgesagt, dass wir heute weniger arbeiten müssten. Von wegen.

TEXT CHRISTINA HERTEL UND ANA MARIA MICHEL ILLUSTR ATION BERNHARD HIERGEIST

S

ie leuchtet seit mehr als 100 Jahren. Die Glühbirne in der Feuerwache von Livermore bei San Francisco wurde 1901 ans Stromnetz angeschlossen. Viele Glühbirnen könnten so lange brennen, doch ein Kartell legte 1924 die maximale Brenndauer auf 1.000 Stunden fest. Bei Spülmaschinen, Laptops und Smartphones ist es das Gleiche. Sie sind so gebaut, dass sie nur ein paar Jahre halten. Wenn die Wirtschaft den Verschleiß nicht hätte, würde keiner mehr dahin rennen, wo Geiz geil ist. Nur dann klingelt die Kasse, Leute sind beschäftigt, arbeiten und alles bleibt so, wie es ist. Klingt nicht besonders vernünftig? Ist es auch nicht. Der Ökonom John Maynard Keynes hat 1930 vorausgesagt, dass Arbeitnehmer in den entwickelten Nationen im Jahr 2030 reich genug sein würden, um nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten zu müssen. Diese Vision könnte bald Wirklichkeit werden. Theoretisch. Laut einer Studie der Universität Oxford werden bis 2030 in den USA etwa 47 Prozent der Arbeitsplätze durch Technik ersetzt. Der Mensch könnte sich eigentlich freuen, sich zurücklehnen, die Maschinen und Computer die Arbeit machen lassen. Trotzdem sieht es nicht so aus, als ob wir bald weniger arbeiten müssen. Wieso hocken die Deutschen sonst pro Woche 3,8 Stunden extra im Büro? Und zwar unbezahlt. Doch nicht, weil es da so schön ist. Oder die Kollegen so nett sind. Wenn die Arbeitszeit nicht erfasst wird, arbeiten die Leute sogar noch länger. Selbst wenn man es sich mit einem Feierabendbier beim Europa League-Achtelfi nale gemütlich gemacht hat,

kann der Chef jederzeit per Mail fragen, ob die Präsentation für morgen schon fertig ist. Nicht-Antworten ist keine Option. Bezahlt wird man für die Chef-BeschwichtigungsMail, die man auf dem Sofa im Pyjama schreibt, selten. Und lernt man nicht eigentlich nur deshalb am Wochenende Chinesisch, damit man beim Essen mit den Geschäftspartnern aus Hongkong angeben kann? Warum schuften die Menschen so viel? Es ist ganz einfach: Sie können nicht anders. Der Mensch braucht die Arbeit nicht nur für das neueste iPhone, den Burrito in der Mittagspause und um seine 1.500 Euro-Miete für das Ein-Zimmer-Appartement in München bezahlen zu können. Arbeit ist mehr als das. Für viele ist selbst der Job als Office-Manager beim Steuerberater pure Selbstverwirklichung oder zumindest Teil der

WER NICHTS ARBEITET, IST NICHTS WERT Identität. Es gibt keine Party, auf der man nicht gefragt wird: „Was machst du eigentlich so, berufl ich?“ Es reicht nicht mehr, Metzger zu werden, weil der Vater schon Metzger war. Durch die Arbeit gestaltet der Mensch sich und sein Leben. Wer das nicht schafft, gilt als gescheitert. Deshalb lieber nicht drüber nachdenken, sich wichtig fühlen,

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Das Projekt ist das neue Hamsterrad. Wer glaubt, sein eigener Chef zu sein, arbeitet länger, fühlt sich wichtig und gebraucht

Klappe halten und weiterarbeiten. Dann kommt der Sinn schon von alleine. Schon der Schwiegersohn von Karl Marx hatte dazu etwas zu sagen: 1880 schrieb Paul Lafargue in „Das Recht auf Faulheit“ über eine seltsame Sucht, die die Arbeiterklasse beherrscht. „Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit... Statt gegen die geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen.“ Schon Martin Luther erklärte den Müßiggang zur Sünde. Und bis heute gilt: Wer nicht arbeitet, ist auch nichts wert. Trost, Hoffnung, Struktur. Bietet Arbeit nicht alles, was die Menschen früher in der Kirche oder der Familie fanden? Man fühlt sich aufgehoben, gebraucht, verstanden. Das, wodurch sich der Mensch Anerkennung und Aufmerksamkeit verspricht, ist doch immer häufiger nur sein voller Terminkalender. Wer keinen Stress hat, über den er reden kann, leistet nichts.

Für den Soziologen Hartmut Rosa ist die Zeitknappheit ein modernes Lebensgefühl. Den peitscheschwingenden Vorarbeiter gibt es nicht mehr. Der Druck ist subtiler geworden. Die Devise heißt: Büro, Büro, Projekt, Projekt. Alle decken sich mit Arbeit ein, die es gar nicht gibt. So ähnlich hieß es schon 2006 im Album „Das schöne Leben“ der Band Britta. Glaubt nicht auch fast zehn Jahre später noch jeder, sein eigener Boss zu sein? Wer meint, selbstbestimmt arbeiten zu dürfen, arbeitet länger und sperrt sich in sein eigenes Hamsterrad. Zeit ist Luxus, Zeit etwas zu hinterfragen, purer Luxus. Außerdem hat man sonst beim Essen mit den Freunden nichts zu jammern. Das wäre ja fatal. Produkte herstellen, die schnell kaputtgehen, um den Arbeitsplatz zu sichern. In diesem Kreislauf haben wir es uns gemütlich gemacht. Und natürlich freut es die, denen eh schon das Geld aus den Taschen quillt. Dabei löst sich dieser Kreislauf gerade selbst auf, weil die Maschinen die Menschen ersetzen. Doch wer soll die Produkte kaufen, wenn niemand mehr arbeitet und Geld verdient? Die Arbeitswelt muss sich fragen, wie es weitergehen soll. Ende des 18. Jahrhunderts setzten Dampfmaschine und Fließband die Handwerker auf die Straße. Heute sind selbst Kopfarbeit und Dienstleistungen vor den Maschinen nicht sicher. Die Digitalisierung macht sogar Steuerberater, Buchhalter oder Banker überflüssig. Das Geld holt man sich schon lange aus dem Automaten. Wenn man einen Kredit braucht, weiß die Computer-Software, welche Finanzlösung die beste ist. Wie soll die Wirtschaft funktionieren, wenn Maschinen nach und nach alle Arbeitsplätze fressen? Wenn niemand mehr Geld hat, um all die Smartphones und iPads zu kaufen? Es müssen nicht erst noch mehr Roboter und Maschinen kommen. Probleme gibt’s jetzt schon. Arbeit ist ungleich verteilt. Es gibt zu viele, die zu viel arbeiten, und zu viele, die von der saftigen Sahnetorte, die vielleicht nur ein Streuselkuchen vom Vortag ist, nur die Krümel abbekommen. Es wird Zeit, sich etwas zu überlegen. Aussteigen und Gemüse selbst anbauen, kann es doch nicht sein. Wer will das schon, einen neuen spießigen Hippie-Biedermeier? Menschen müssen Geld haben, auch wenn Maschinen ihre Arbeit machen. „Bedingungsloses Grundeinkommen“, rufen die einen. „30-Stunden-Woche“, die anderen. Nur was macht man dann mit dem Rest der Zeit? ➳

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Vor fünf Jahren deckte Pater Klaus Mertes Missbrauchsfälle an einer katholischen Schule auf. Dennoch bleibt er der Kirche treu. Ein Gespräch über Gewissen und Gehorsam.

TEXT JULIA LEY

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s ist Sonntag. Ich stehe unter einem steinernen Bogengang und warte auf Pater Mertes, meinen ehemaligen Lehrer. Von 1998 bis 2004 war ich Schülerin am Canisius-Kolleg. Mertes beendet noch die Mittagsmesse im Dom von St. Blasien. Ich muss an die Andachten meiner Schulzeit denken, in denen er häufig spontan zur Gitarre griff. Es hieß, Mertes hatte mal Rockstar werden wollen. Als Pater und Rektor war er eine Respektperson, als Lehrer sehr zugänglich. Macht war sein großes Thema, schon damals. Er schaute nicht weg, wenn Schüler Schüler mobbten. Und er betonte, dass die „Asymmetrie der Macht” zwischen Lehrer und Schüler gefährlich werden kann. Heute weiß ich, dass er damals bereits begonnen hatte, den „Mythos Canisius” offen zu kritisieren. Die Schule bezeichnete sich selbst als „Elite”, stand für strenge

Pater Mertes, wenn ich an Sie als Klassenlehrer denke, fallen mir drei Adjektive ein: selbstbewusst, willensstark, laut. Laut? Das ist schön. Er lacht. Stimmt ja auch. Sie sind niemand, der sich gern unterordnet. Trotzdem sind Sie mit 23 Jesuit geworden. Warum? Ich hatte schon als Kind eine tiefe religiöse Sehnsucht. Ich war neidisch auf die Jünger, weil die dem auferstandenen Herrn leibhaftig begegnet sind. Irgendwie war mir klar: Für religiöse Erfahrung muss man etwas einsetzen. Ich habe überlegt, in die Wüste zu gehen, Eremit zu werden. Oder eben Mönch. Ich wollte nicht nur von den Geschichten anderer leben. Sie haben damals Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt. Haben Sie die Entscheidung je bereut? Nein, nie. Obwohl ich keine Ahnung hatte, worauf ich mich einließ. Im Nachhinein war es wirklich völlig verrückt. Aber Glauben ist eben ein Akt des Vertrauens. Man wirft sich hinein in die Arme Gottes und vertraut darauf, in guten Händen zu landen. Und ich habe immer geglaubt, dass ich alles, was ich aufgebe, irgendwann anders zurückbekomme. Die Jesuiten verpflichten sich zu Gehorsam gegenüber Oberen und dem Papst. Ist Ihnen das schwergefallen? Unterwerfung hatte für mich immer auch etwas Faszinierendes: Sich vollkommen in den Dienst einer glaubwürdigen Autorität zu stellen. Heute erlebe ich das stärker als ambivalent. Woher kam dieser Wunsch, sich zu unterwerfen? Den hatte ich von Kindesbeinen an.

F O T O : M A RC T I R L / DPA

ICH HABE DIE ANGST BESIEGT

Bildung und christliche Werte. Trotzdem stimmte etwas „atmosphärisch” nicht, wie Mertes es später sagen wird. Es gab Dinge, über die man nicht sprach. Er selbst war ein „lauter Außenseiter.” Als Mertes den Flur heraufkommt, ist er fast wie früher. Sehr bestimmt, sehr energisch, ein Mann, der den Raum ausfüllt. Er grinst herzlich über das ganze Gesicht. Nur sein Haar ist weißer und die Falten um die Augen zahlreicher. Und er wirkt ruhiger, sein Lachen leiser. Wir gehen im Wald spazieren, der hinter der Schule beginnt.

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Ich glaube, dass jeder Menschen damit in seiner Biographie zu tun hat – vielleicht Jungs noch mehr als Mädchen. Man fi ndet Sicherheit und Zugehörigkeit, indem man sich einer Autorität unterwirft. Und diese Bindung besteht fort, auch nach den Missbrauchsvorfällen? Ja, das tut sie. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits begriffen, dass bedingungslose Unterwerfung falsch ist. Auch Autoritäten müssen sich verantworten vor Argumenten. Und sie müssen der Gewissensentscheidung des Einzelnen Raum lassen, gerade in seiner Beziehung zu Gott. Das ging bei den Jesuiten, man konnte sich dort stets mit tausend Fragen kritisch auseinandersetzen. Wie war es für Sie, von den Missbrauchsfällen zu erfahren? Es war ein Schock. Ich war ja früher selbst Schüler einer jesuitischen Schule in Bonn. Die Patres waren meine Vorbilder, durch sie bin ich zum Or-

den gekommen. Mitzubekommen, dass manche von ihnen in den Missbrauch verwickelt waren, war ein Verlust von Geborgenheit. Was bedeutet Ihr Versprechen, dem Papst gegenüber gehorsam zu sein? Nicht, dass ich alles für richtig halte, was er denkt und sagt. Sondern dass er grundsätzlich das Recht hat, mich am Schopf zu ergreifen und zu sagen: Ich brauch dich jetzt hier oder dort. Ein Jahr nach dem Missbrauchsskandal wurden Sie von Berlin nach Sankt Blasien versetzt – tief in die Provinz. Eine Strafe? Nein. Ich bin gebeten worden, nach Sankt Blasien zu gehen, weil mein Vorgänger von dort nach Bonn versetzt wurde. Ich wäre alleine nicht auf die Idee gekommen. Aber in Anbetracht der Gesamtsituation hat es Sinn gemacht. Wie schwierig war es für Sie, den Missbrauch innerhalb der Kirche anzusprechen?

Sehr schwierig. Das war mit großen Ängsten verbunden, aber auch mit einer Veränderung meines Selbstbildes. Als 2010 drei ehemalige Schüler zu mir kamen und mir von den Vorfällen erzählten, habe ich glücklicherweise richtig gehandelt und ihnen geglaubt. Aber dem ging ein langer Prozess voraus, fast 20 Jahre. Worin bestand dieser Prozess? Mir war zum Beispiel lange nicht klar, dass es schwule Priester gab. Bis ich Ende der 90er mal mit einem Mitbruder vor dem Fernseher saß. In der Sendung sagten katholische Würdenträger, dass schwule Priester in der Kirche nicht erwünscht seien. Dem Mitbruder lief eine Träne übers Gesicht. Das war ein Schlüsselmoment. Ich begriff allmählich, wie viel Ausgrenzung und Gewalt es in der Kirche gibt. In Ihrem Buch „Widerspruch aus Loyalität” kritisieren Sie Papst Benedikt XVI. dafür, dass er einen exkom- ➳

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munizierten Holocaust-Leugner rehabilitiert hatte. War das schon eine Feuerprobe? Ja, bestimmt. Eine Woche nach der Entscheidung des Papstes musste ich in Regina Martyrum predigen, einer katholischen Gedenkkirche für die Opfer des Nationalsozialismus. Ich wusste: Wenn ich das Thema in diesem Umfeld nicht anspreche, sage ich damit auch etwas. Es gab dann tumultartige Szenen, einige Zuhörer

konservativen Kreisen. Darin nennt man mich „Verräter“ und „Nestbeschmutzer“. Gelegentlich gab es auch Druck aus der Hierarchie selbst: Ein Pfarrer, der mich zu einem Vortrag eingeladen hatte, musste mich wieder ausladen. Die Jesuiten haben mich aber aktiv unterstützt. Kann man auch ohne die Kirche Christ sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Evangelium ohne eine Institution

Hat sich Ihr Verhältnis zur Kirche durch den Missbrauch geändert? Ja, sogar grundlegend. Für mich ist die Institution als Mittler zwischen mir und Gott, oder mir und meinem Gewissen, in ihrer Bedeutung erheblich gesunken. Ich brauche die Institution nicht mehr so sehr, um mich zu defi nieren. Ich bin heute viel freier. Sind Sie Jesuit geblieben, um die Kirche von innen heraus zu verändern? Ja, die Freiheit habe ich heute. Ich

„ICH LASSE MICH DA NICHT RAUSDRÄNGEN“ überliefert wird. Für mich würde das bedeuten, Charismatikern ausgeliefert zu sein. Institutionen sind dazu da, Schwache vor Starken zu schützen. Sie sind die beste Antwort auf die Frage nach der Kontrolle von Macht. Nur ist in der Katholischen Kirche genau das Gegenteil geschehen: Die Institution hat ihre Macht genutzt, um die Schwachen zu missbrauchen. Deshalb zeigt die Krise der Katholischen Kirche auch, wie geschwächt die Institution ist. Weil die Verantwortlichen nicht richtig reagieren, weil sie informelle Machtzirkel bilden. Um das zu vermeiden, brauchen wir transparente Verfahren. Machtmissbrauch muss geahndet werden können, auch mit Strafverfahren für Verantwortungsträger.

habe nicht mehr viel Angst. Das ist jetzt ein großer Satz, aber in gewisser Weise kann ich sagen: Ich habe die Angst besiegt. Nach vier Stunden gehen wir zurück zum Auto. Ich bedanke mich für die Zeit, die er sich genommen hat. Er lacht: „Ach, ich bin ja irgendwie auch eine Rampensau.“ Plötzlich fällt ihm noch etwas ein: „Es gab noch eine Motivation für meine Entscheidung, den Missbrauch zum Thema zu machen. Neben dem Leid an der Ungerechtigkeit war da auch eine starke religiöse Sehnsucht. Ich wollte erfahren, was Jesus erlebt hatte. Man kann das nicht vergleichen, aber das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Was es bedeutet, gehasst zu werden.“ ➳

F O T O S : P R I VA T; J A N O S C H , „ O H , W I E S C H Ö N I S T PA N A M A“ , B E L T Z & G E L B E R G ; D E N V E R W H I T T I N G T O N

haben geweint, weil endlich jemand das Schweigen brach. Damals hatten ja alle Angst, den Papst zu kritisieren, weil dann die turbokatholische Meute über einen herfiel. Die Predigt gipfelte in der Parole: „Auftreten, nicht austreten.“ Wieso sind Sie bis heute nicht ausgetreten? Das hat etwas mit Verantwortung zu tun – mich nicht zu entziehen, wenn es schwierig wird. Aber es hat auch mit Identität zu tun. Der Orden ist für mich Heimat. Der Weg, den ich bis zu den Missbrauchsfällen gegangen bin, wäre ohne die Jesuiten nicht möglich gewesen. Dort habe ich gelernt, kritisch zu fragen und Verantwortung für Fehler zu übernehmen. Gibt es einen Punkt, an dem die Institution für Sie so untragbar wäre, dass Sie trotzdem austreten würden? Ich sehe diesen Punkt nicht. Ich sage es ungern, aber: Ich lasse mich da nicht rausdrängen. Es gibt eine Geschichte aus den Exerzitien von Ignatius, dem Gründer des Jesuitenordens: Der Versucher steigt einem Prediger, der gerade eine Predigt hält, auf die Schultern und flüstert ihm zu: „Du bist wirklich ein toller Prediger.“ Der antwortet dem Versucher: „Wegen dir habe ich nicht angefangen, wegen dir werde ich auch nicht aufhören.“ Auch ich sage denen, die mir mit Hassgefühlen entgegenkommen: „Wegen dir bin ich nicht in der Kirche, wegen dir trete ich auch nicht aus.“ Gab es Versuche, Sie zum Schweigen zu bringen? Ja. Ich erhalte bis heute Hassmails aus

Pater Klaus Mertes wurde am 18. August 1954 in Bonn geboren. Als Diplomatensohn lebte er die ersten elf Lebensjahre in Marseille, Paris und Moskau. 1977 trat er in den Jesuitenorden ein, 1986 wurde er zum Priester geweiht. Er studierte Philosophie und Theologie in Sankt Georgen und München, 1994 wurde er Lehrer am Canisius-Kolleg in Berlin. Ab 2000 war er als Rektor der geistliche Leiter der Schule. Seit 2011 ist Mertes Schulleiter am Kolleg Sankt Blasien im Hochschwarzwald. Vom Missbrauchsskandal am Canisius-Kolleg erfuhr Mertes 2010 von drei ehemaligen Schülern. Diese waren in den 1970er und 1980er Jahren von zwei Patres missbraucht worden. Mertes schrieb einen Brief an 600 ehemalige Schüler, in dem er seiner Erschütterung Ausdruck verlieh und um weitere Hinweise bat. In Folge des Briefes wurden weitere Vorfälle bekannt. Schon bald breitete sich der Skandal auch auf evangelische und reformpädagogische Institutionen aus.

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S U C H , B A BY, S U C H Jeder ist auf der Suche nach etwas. Viele geben irgendwann auf. Manche nicht.

TEXT JULIA HÄGELE

DER VERLORENE HUND

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Carlie hatte sich im Sommer 2014 in München aus dem Staub gemacht. Nach einem Beinahe-Unfall rannte die Hündin weg und kam nicht wieder. Bis heute. Bine Alff sucht seither ihr Haustier, mit dem sie zuvor 24 Stunden am Tag zusammen war. Anfangs lief Alff noch panisch durch die Parks, dann gibt sie der Suche System. Carlie bekommt eine Homepage und eine Facebook-Gruppe. Alffs Wohnung gleicht einem Ermittlerbüro. Großer Stadtplan, viele Fähnchen. Etwa 270.000 Flyer und Plakate fliegen durch die Stadt. „Wenn ich ein Tier halte, bin ich auch dafür verantwortlich.“ Das Schlimmste sei die Ungewissheit. „Ich wünsche mir wirklich nicht, dass Carlie tot ist. Aber erst wenn ich das sicher weiß, höre ich auf, zu suchen.“

DAS LAND, DAS NACH BANANEN DUFTET Eigentlich geht es dem kleinen Bären und dem kleinen Tiger prächtig in ihrer WG unten am Fluss. Bis eine Kiste mit der Aufschrift „Panama“ vorbeischwimmt. Panama ist bestimmt viel schöner, denken sie. „Denn Panama riecht von oben bis unten nach Bananen.“ Sie wissen aber nicht, wo es langgeht. Deswegen bauen sie sich den Wegweiser selbst, stecken ihn in den Boden vor ihrem Haus und machen sich auf die Suche. Die ist lang und anstrengend, aber auch spannend. Sie lernen Fuchs, Hase, Igel und Krähe kennen. Und es hat sich gelohnt, sie kommen ans Ziel. Nach langer Wanderschaft treffen sie auf ein verwittertes Schild: „Panama“. Es steckt im Boden vor einem schönen, alten Haus.

DER GRUND ALLER GRÜNDE Treffen sich zwei Protonen... was klingt wie der Anfang eines mäßigen Witzes, ist das A und O im Kernforschungsinstitut CERN in Genf. In dem 27 Kilometer langen, runden Teilchenbeschleuniger rasen Protonen fast mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander zu. „Wenn sie zusammenstoßen, gibt es ein MiniFeuerwerk“, sagt Pauline Gagnon. Die Kanadierin sucht die kleinsten Teile von Materie, um die größte Frage zu beantworten: Was ist das Universum? 2012 half Gagnon mit, das HiggsBoson-Teilchen nachzuweisen, das „Gottesteilchen“. Die Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, beschreibt Gagnon so: „Hast du meine Cousine gesehen? Ich verrate dir aber nicht, wie sie aussieht, wo sie wohnt oder ihr Alter.“

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K U N ST K O C H T IM LABOR

Die Weltbevölkerung wächst, Ressourcen werden knapper. Die Frage ist: Wie wollen wir in Zukunft essen? Künstler haben sich Gedanken gemacht.

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TEXT ANA MARIA MICHEL

esund, cremig, etwas für die ganze Familie. Das verspricht die Optik der Verpackung. Er könnte so auch im Supermarkt stehen, der Joghurt von Maja Smrekar. Doch „Maya YogHurt“ enthält eine ganz besondere Zutat: Mensch. Die slowenische Künstlerin arbeitet nicht mit Farbe und Pinsel, sondern mit ihrer eigenen DNS. Genauer gesagt, mit einem eigenen Enzym. Um es aus ihrem Körper und in den Joghurt zu bekommen, braucht Smrekar die Hilfe der Gentechnik. Aus ihrem Blut isoliert sie ein bestimmtes Gen. Dieses verschlüsselt ein Enzym, das im Körper Milchsäure produziert. Dann wird es kompliziert: Smrekar verbindet ihr Gen-Material mit der DNS einer Hefe. Der genetisch

transformierte Mikroorganismus produziert menschliche Milchsäure. Aus dieser stellt Smrekar ihren Joghurt her. Den bewahrt sie nicht hinter Panzerglas auf. Wer möchte, kann ihn kosten. Für Smrekar ist es jedoch nicht wichtig, ob die Leute „Maya YogHurt“ probieren oder nicht. Sie sagt: „Es geht um die Entscheidung, die jeder einzelne für sich treffen muss, wenn er überlegt, ob er das Produkt konsumieren will.“ Smrekar denkt heute darüber nach, wie wir morgen essen wollen. Und sie hat allen Grund dazu. Die Weltbevölkerung wächst immer weiter, 2050 dürften 9,6 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Schon jetzt werden 70 Prozent der Agrarfl ächen der Welt dafür genutzt, Futter für Tiere zu produzieren.

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„Künstler wie Maja Smrekar machen Kunst nicht nur um ihrer selbst willen“, sagt Sabiha Keyif vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe. Dort fi ndet von Mitte Juni 2015 bis Mitte April 2016 die Ausstellung „Exo-Evolution“ statt, wo man Smrekars Joghurt probieren kann. Nicht nur Smrekar macht Kunst lieber im Labor als im Atelier. Bio Art heißt der neue Trend, der genau genommen gar nicht so neu ist. Schon Anfang der Neunziger hängte Suzanne Anker Metallskulpturen von Chromosomen ins Museum. Etwas später ließ der brasilianische Künstler Eduardo Kac das Albino-Kaninchen Alba durch Gentechnik neongrün leuchten. Heute ist auf dem Feld der Bio Art deutlich mehr möglich. Die Künstlerin Diemut Strebe hat 2014 mit genetischem Material eines Nachfahren von Vincent van Gogh und einem 3D-Drucker das berühmte abgeschnittene Ohr des Malers rekonstruiert. Ein Häppchen Kanye West gefällig? Probieren kann man Doch das Projekt von Maja Smrekar die „Celebrity Cubes“ noch nicht. Den Joghurt mit dem Enzym geht noch weiter. Es trifft die Menschen dort, von Künstlerin Maja Smrekar (links) aber schon wo sie sich sicher fühlen: am Esstisch. Was wäre, wenn Joghurt morgen nicht nur Fett, Zucker und Geschmacksverstärker enthalten würde, son- revolutionieren. Haben die technischen Möglichkeiten die dern auch ein bisschen Mensch? Kunst schon jetzt überholt? Nein, denn sie kümmert sich Die Massentierhaltung hat Folgen für die Umwelt. um eine wichtige Frage: Wollen wir das essen? Die Landwirtschaft ist in Deutschland die größte EmissiDas fragt auch das niederländische Künstlernetzonsquelle für Methan, das vor allem die vielen rülpsenden werk Next Nature um den Philosophen und Künstler Kound pupsenden Rinder an die Atmosphäre abgeben. Wenn ert van Mensvoort mit „The In Vitro Meat Cookbook“. die Lebensmittelindustrie an ihre Grenzen gerät, werden Das Buch enthält eine Sammlung von Rezepten, die eine die Preise steigen. Kritiker sehen den Fleischkonsum als Zutat gemeinsam haben: Fleisch aus der Petrischale. KoHauptursache für den wachsenden Welthunger. Jeder chen kann man aus diesem Kochbuch nicht. Noch nicht. Deutsche isst laut Fleischatlas 2014 60 Kilo Fleisch pro Rezepte wie die „Dodo Nuggets“ aus der DNS des längst Jahr. 320 Millionen Tonnen werden heute weltweit jedes ausgestorbenen Vogels zeigen, was in Zukunft auf dem TelJahr produziert. 2050 sollen es 470 Millionen sein. ler möglich sein könnte. 2013 hat der Wissenschaftler Mark Post von der „Celebrity Cubes“ heißt ein Rezept, das an Smrekars Maastricht University den ersten In-Vitro-Burger aus den „Maya YogHurt“ erinnert. Stammzellen von Stars wie Stammzellen eines Rinds hergestellt. Geschmacklich soll Kanye West oder Lady Gaga könnten durch Gentechnik er ganz in Ordnung gewesen sein, der Preis war nicht gera- schmackhafte Party-Häppchen werden. Van Mensvoorts de verbraucherfreundlich: Fast 300.000 Euro kostete der Lieblingsgericht heißt „Pig in the Backyard“. „Ich glaube, Burger aus der Petrischale. Das US-Unternehmen Modern es wäre toll, wenn man seinem Kind eine Wurst zu essen Meadow plant, die Fleischindustrie durch Bioprinting zu geben und ihm dann das Schwein zeigen könnte, aus dem diese Wurst gemacht wurde“, sagt er, „lebendig und wohlauf“. Für van Mensvoort ist es nur logisch, dass Künstler überlegen, wie wir in Zukunft essen wollen. „Weil Essen etwas so Intimes und Persönliches ist, müssen wir Technologie und Kultur zusammenbringen.“ Wollen wir Lebensmittel, die aus dem Labor kommen? Wie weit würden wir gehen, um unsere Gewohnheiten aufrechtzuerhalten? Würden wir Produkte essen, die menschliches Material enthalten – nur weil es möglich ist? Die Arbeiten der Künstler beschäftigen sich nicht nur mit der Zukunft. „Bei der Bio Art geht es auch darum, was Kunst leisten kann“, sagt Sabiha Keyif vom ZKM. Die Künstler wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, was durch Gentechnik bereits heute möglich ist. Und sie machen darauf aufmerksam, dass unser Essen schon jetzt nicht viel natürlicher ist als die Möglichkeiten aus dem Labor. ➳

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Benjamin Michaelis, Martin Schulz und Marco Ginzel (v.l.n.r.) mit der offiziellen Flagge des Königreichs Deutschland

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DIE UNSOUVERÄNEN Die Bewohner des „Königreichs Deutschland” führen einen selbstauferlegten Kampf gegen die Behörden. Sie glauben, ihrer Zeit voraus zu sein und machen weiter – gegen jede Vernunft.

TEXT ELISA HARLAN UND JULIA LEY

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s war die vierte Razzia im Königreich. Mitarbeiter der Steuerfahndung, der Polizei und der Finanzaufsichtsbehörde Bafi n trugen Computer, Festplatten, Tische, Stühle und Akten aus dem „Staatsgebiet“, einem ehemaligen DDR-Krankenhaus. Nicht mal einen USB-Stick ließen die Beamten zurück. Über Jahre hatten die Mitarbeiter von König Peter Fitzek daran gearbeitet, ihren selbstgegründeten Staat Wirklichkeit werden zu lassen: Martin Schulz, Marco Ginzel und Benjamin Michaelis hatten Fassaden gestrichen, Seminare vorbereitet, Pressemitteilungen verschickt. Mit jedem Ordner, den die Polizisten hinaus trugen, rückte die Erfüllung ihres Traumes ein Stück weiter weg. Die Razzia liegt jetzt vier Monate zurück. Es ist Ende März und die Sonne scheint warm auf die sanierten Fassaden der Lutherstadt Wittenberg. Ginzel, Schulz und Michaelis sitzen in einem dunklen Nebenraum des „Taj Mahal“ und trinken Mango-Lassi aus Messingbechern. Aus einer Ecke schaut Ganesha, der Elefantengott. Schulz stellt sich als Rechtsberater des Königs vor, er ist der älteste der drei, 28, groß, hager und hat die lockigen dunklen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Früher war er mal bei der Bundeswehr. Ginzel, der Pressesprecher des Königs, ist jung und pausbäckig. Bevor er zum Königreich kam, machte er einen Zwischenstopp bei der PDS und den Piraten. Michaelis, ehemals AirbrushKünstler, ist jetzt Schatzmeister. Er hat feine Gesichtszüge. Seine Mutter hat ihm vom Königreich erzählt, seitdem ist er hier. Alle drei tragen schwarze Stoff hosen und gewienerte Anzugschuhe. Seit mehreren Jahren leben sie beim König in Wittenberg. Das Königreich ist nicht der einzige Scheinstaat in Deutschland. Seit den 1980er Jahren gibt es die sogenannten Reichsbürger. Meist sind das Einzelpersonen, manchmal Gruppen, die behaupten, das Deutsche Reich bestehe fort und die BRD sei kein legitimer Staat. Die Begründungen dafür sind vielfältig: Nicht das Deutsche Reich habe 1945 kapituliert, sondern nur die Wehrmacht, einen Friedensvertrag mit den Siegermächten habe es nie gegeben, das Land sei also noch immer besetzt, die BRD nur eine Firma der Alliierten. Der Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt zählt auch Fitzeks Königreich zu diesen reichsideologischen Gruppen. „Das Königreich“, sagt der Sprecher des Verfassungsschutzes Thomas Krings, „verfolgt die Bildung einer neuen esoterisch-ökologisch ausgerichteten Staatsform mit abwegigen, utopischen Vorstellungen“. Martin Schulz möchte zwar kein Reichsbürger im klassischen Sinne sein, aber ein Königreich zu errichten fi ndet er „völlig völkerrechtskonform“. Andere Reichsbürger meckern ihm zu viel und verändern zu wenig: „Wir sind nie gegen etwas“, sagt Schulz mehrmals, „sondern immer nur für etwas.“ Seit 2009 hat er, zusammen mit König Fitzek und den anderen, mehrere Kranken- und Rentenversicherungen gegründet. Und eine „Königliche Reichsbank“ mit eigenem Geld. Die Institute

fi nanzieren das Reich zum größten Teil. 558 Anleger sollen laut der Finanzbehörde Bafi n bis zu 1,2 Millionen Euro bei der Bank angelegt haben. Weitere 360.000 Euro sollen der König und seine Getreuen mit der Krankenkasse eingenommen haben. Bis die Bafi n ihnen den Betrieb untersagte und immer höhere Bußgelder verlangte. Aktueller Stand: 3,15 Millionen Euro. Weil der König keiner Zahlungsaufforderung nachkam, holte sich die Bafi n ihr Geld schließlich selbst. Im Königreich sieht man die Razzien als reine Schikane. „Wenn ich an etwas glaube, dann höre ich doch nicht bei der ersten Windböe auf “, sagt Michaelis. Doch die letzte Durchsuchung kann man nicht wirklich als Windböe bezeichnen. Eher als Sturm. Und der hat nicht nur das ganze Hab und Gut des Königreichs hinwegfegt, sondern er hat auch einen Großteil der verbliebenen Mitglieder vertrieben: Nur sieben Untertanen leben noch in dem verlassenen Krankenhaus. Wer als Besucher hinein will, muss am Grenzschutz vorbei, einem gelb verputzten Pförtnerhäuschen. Dort kauft man ein Visum für sieben Euro. Auf dem Dach weht eine Fahne mit einer aufgehenden Sonnensichel. Auf dem Nummernschild des blaugrauen 3er BMW, der in der Einfahrt geparkt ist, steht: WB:KD 777 – für Königreich Deutschland. Die Sieben hält man im Reich für eine Glückszahl. Zahlensymbolik gehört zur Ideologie, genauso wie eine Mischung aus Esoterik und Verschwörungstheorien. Die Hartnäckigkeit, mit der Schulz, Ginzel und Michaelis nach jeder Razzia von vorne anfangen, erinnert an Sisyphos. Sie schwanken zwischen Vergangenheit und Zukunft. Einerseits wollen sie etwas ganz Neues schaffen, andererseits rückt sich das Königreich immer wieder in die Nähe des Dritten Reichs: „Deutschland, Deutschland über alles und das Reich wird neu erstehen“, heißt es in der KönigreichHymne. Schatzmeister Michaelis fi ndet das nicht so schlimm: Solche Begriffe müssten „ausgeheilt“, ihr negativer Beigeschmack vergessen werden. Sie glauben, im Königreich ein Modell für die Zukunft gefunden zu haben. Ihre selbstgeschriebene Verfassung sieht eine „basisdemokratische Räterepublik mit konstitutioneller Wahlmonarchie“ vor. Für die jungen Männer ein Beweis dafür, wie innovativ ihr System ist. „Wir nehmen von allen Systemen das Beste“, sagt Schulz. Es soll Wahlen geben, wenn der Staat genügend Personal hat. Im Moment gibt es aber nur einen Herrscher: Fitzek. Bis dahin führt er die Regierungsgeschäfte und lässt sich als „Oberster Souverän“ ansprechen. Alle anderen sind „Souveräne“. Im Grunde wollen sie mehr Mitspracherecht. Aber braucht es dafür gleich einen neuen Staat? „ Ja“, sagt Schulz, „in der Bundesrepublik kann man nichts verändern.“ Gerade 23 Jahre alt war er, als er zum Königreich kam. Er will anders leben: „in einem System, in dem alle gewinnen und keiner verliert“. Keine Schulden, dafür ein Leben im Einklang mit Natur und Mitmenschen – das schwebt ihnen vor. Eigentlich klingen sie wie Ausstei- ➳

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Die Pforte zum Königreich steht jedem offen

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König Peter, Imperator Fiduziar

ger, nur dass die sich lieber selbst regieren. Doch wer ist der mal so Einladungen“, sagt Fitzek und lacht. Für seine Mensch, der die drei jungen Männer über Jahre hinweg Überzeugung würde er sterben, sagt er. von seinen Ideen überzeugt? Für den Politologen Jan Rathje hat das Königreich Im Skype-Fenster erscheint er, Peter Fitzek, ein Ähnlichkeit mit einer Sekte: „Fitzek scheint Menschen ge49-jähriger Mann. Die dunklen Haare hat er zum Zopf ge- ben zu können, wonach sie sich sehnen. Er verbindet das bunden. Fitzek war nicht immer König. Er ist gelernter mit der Figur des Machers und des Provokateurs.“ ZuminKoch, hat ein Tattoo-Studio und eine Kampfsportschule dest auf die jungen Männer scheint das zuzutreffen. betrieben. Er lächelt. Es ist gewinnend gemeint. Sein erster Ginzel, Schulz und Michaelis stehen auf dem überStaatsakt: Er bietet das Du an, „Peter“ ist ihm lieber als wucherten Landeplatz, der hinter dem Krankenhaus liegt. „Herr Fitzek“. Den Nachnamen von Queen Elizabeth ken- Sie phantasieren, wie hier bald die Helikopter des Königsne schließlich auch niemand. Und er hat mal als unabhän- reichs starten werden. Alle drei sind nicht mehr in Wittengiger Kandidat für den Bundestag kandidiert. „Hat nicht berg gemeldet, sagen sie. Keiner ist mehr krankenversigeklappt“, sagt er. Außerhalb der Demokratie hatte er chert, stattdessen zahlen sie in Fitzeks „Neue Deutsche mehr Erfolg: 2012 ließ sich Fitzek vor mehreren Hundert Gesundheitskasse“ ein. Sie erzählen von Projekten: KinMenschen zum König krönen, samt Hermelin, Reichsapfel dergarten, Schule, Universität. Es klingt, als sei es nur und Zepter. In offi zieller Korrespondenz nutzt er den Zu- noch eine Frage der Zeit, bis das alles existiert. Man kann satz „Menschensohn des Horst und der Erika Fitzek“. das idealistisch nennen oder verblendet. Die Abendsonne Seit der Razzia verbringt er seine Tage damit, Be- scheint mild. Für ein Foto klettert Michaelis auf das Dach schwerden bei den Behörden einzureichen. Erst kürzlich des Grenzhäuschens. Er möchte die Fahne entwirren. Ein haben er und seine Mitarbeiter wieder ein 262-seitiges Dachziegel knallt auf den Boden. Und dann sind sie plötzSchreiben ans Verwaltungsgericht verfasst. Stört es ihn, lich alle oben. Für einen Augenblick wirkt es, als sei das dass er nun kaum noch Königreich für die drei Zeit für seine eigentlichen Männer doch nur ein Projekte hat? „Nein“, sagt Abenteuer. Sie posieren Fitzek, „die Razzia war wie Könige, recken das das Beste, was uns passieKinn zum Himmel und ren konnte. Wir sind stärschauen in die Ferne. An ker als je zuvor.“ Wie zum einem Ort, an dem die Beweis greift er neben sich Zeit stehen geblieben ist. und zieht einen Brief herAls sie wieder unten sind, vor. Es ist eine Haftandrosagt Marco Ginzel leise: hung, weil er wieder ein „Vielleicht wäre JournalisKnöllchen nicht bezahlt mus auch für mich was gehat. „Ich bekomme öfter wesen.“ Vielleicht. Das „Engel“-Geld gibt es nur im Tausch gegen echte Euro ➳

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NUR NOCH FÜNF MINUTEN Fast jeder tut es: Den Wecker morgens noch mal wegdrücken. Warum machen wir aus dem Aufstehen einen Kampf?

TEXT UND FOTO SIMONE STERN

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ie Tätigkeit „Schlafen“ hat auf Facebook 44.021.813 Likes. „Snoozen“, den fünfminütigen AufwachAufschub, fi nden nur 95 Leute gut. Sogar die Magen-DarmGrippe (1.360 Likes), Satanismus (261.227 Likes) und George W. Bush (4.262.282 Likes) sind beliebter als die „Weiter-Schlafen-Taste“. Trotzdem drückt sie jeder. Der erste Wecker mit Schlummer-Taste machte 1956 nicht damit Werbung, dass das Gerät weiterschlafen lässt. Das wäre ja marketingtechnisch genauso dumm gewesen, wie Feuerlöscher zu verkaufen, weil sie auch gut brennen. Nein, der Spot pries das Gerät als Innovation an, die „immer weiter weckt“. Nur ist Wecken ja eigentlich eine fi nale Tätigkeit. Einmal geweckt, ist man wach. Oder eben nicht. Man snoozt. Laut Schlafforschern hat die Tendenz zur Schlummer-Taste mit Eulensein und Lärchentum zu tun. Eulen, also Nachtmenschen, neigen dazu, morgens fünf Minuten von der Dusch- und Frühstückszeit abzumogeln und sich dafür noch mal umzudrehen. Und dann noch mal. Und noch mal. Wo der eigene Schlummer-Rekord liegt, will selten jemand zugeben. Hardcore-Snoozer können aber ohne

Probleme Stunden im Bereich der Semifolter zwischen Dämmern und Wachen verbringen. Also in einem seltsamen Zustand, in dem man noch ungestört weiterschlafen könnte, aber lieber im Halbbewusstsein die To-Do-Liste des angebrochenen Tages verflucht. Als würde man sich auf den Traumjob bewerben, um dann nicht ans Telefon zu gehen, wenn die Personalerin anruft, weil man noch ein bisschen die Ungewissheit genießen will. Es gibt auch Menschen, die ihren Wecker freiwillig eine halbe Stunde früher stellen. Nur um gleich dreimal die Genugtuung zu haben, dem neuen Tag noch zehn Minuten Ungestörtheit abringen zu können. Man gönnt sich ja sonst nichts. Doch nicht jeder snoozt mit so viel Voraussicht. Notorische Weiter-Drücker sind meist auch die, die fürs regelmäßige Zuspätkommen böse Blicke der Kollegen ernten, mit schiefem Lidstrich oder ohne Frühstück aus dem Haus gehen. Aber man kann auch Pech haben und so folgenschwer verschlummern wie der Brite Jody George. Er trainierte ein Jahr lang für einen Triathlon, legte kiloweise Muskelmasse zu und ließ sich Ausrüstung von Freunden, Familie und Fremden sponsern. Um dann die Startzeit zu versnoozen. „You snooze, you lose“ sagen die Amerikaner. ➳

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DRAWING NOW! VON MINIMALISTISCH BIS FANTASTISCH

David Shrigley, Light Switch, 2007, Animation1:29 min., im Loop, Courtesy the artist, Stephen Friedman Gallery (London), Anton Kern Gallery (New York) and Galleri Nicolai Wallner (Copenhagen)

AUSSTELLUNG BIS 20.9.2015 WIEN / ALBERTINA

Eine Zeichnung auf der Wand, im Raum oder als Video? Zeichnen im 21. Jahrhundert steckt voller Ăœberraschungen. Der attraktiv JHVWDOWHWH %DQG SUÂŚVHQWLHUW bLQWHU QDWLRQDOH 3RVLWLRQHQ X D YRQb0LFKD­O %RUUHPDQV 5RELQ 5KRGH 'DYLGb Shrigley oder Jorinde Voigt.

Drawing Now Ĺ˜ Ĺž ĹŠ

Erhältlich im Buchhandel oder beim Verlag: ZZZ KLUPHUYHUODJ GH Ĺ˜ 7HO

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HIRMER 11.06.15 11:32


Das Virtuelle Kraftwerk der Thüga-Gruppe.

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WEITER

Warum wir nicht anders können

WAS ARBEITET IM TEAM

SE TZT SEINE ENERGIE GEZIELT EIN?

Wenn sich viele Kleine zusammenschließen, entsteht etwas Großes. Dezentrale Energieanlagen erhalten mit dem Virtuellen Kraftwerk eine gemeinsame Schaltzentrale. So gleichen sie ganz effizient die unstete Einspeisung von Wind- und Sonnenkraft aus. Rund 50 mittelgroße Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Biogasanlagen sind deutschlandweit bereits auf diese Weise zusammengeschaltet. Sie ergänzen sich zu einem großen Kraftwerk und stellen damit sicher, dass die benötigte Strommenge zu jeder Zeit in allen Netzen verfügbar ist.

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