Inhalt
Vorwort Verträumt: Wie wir uns in den Schlaf wiegen lassen Eine Gesellschaft im Stillstand Schlafmittel Medien
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Verschlafen: Vom Ende der Alternative Das große »Weiter so« Opposition allein zu Haus: Die Linke Widerstand von oben? Nicht mit Gauck
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Verschnarcht: Politik des Stillstands Mit der SPD auf neoliberalem Kurs Europa auf dem Holzweg Steuern: Staatsschiff mit Schlagseite Sozialsysteme: Auf brüchigem Fundament Wenig Wende mit viel Energie Die letzten Aufrechten in der SPD
125 127 130 136 142 165 170
Aufgewacht: Protest und Widerstand Zeit für die nächste Wende Tempelhof: Ein Modell Wege des Widerstands Auf den Inseln des Fortschritts
173 175 179 185 207
Anmerkungen
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F端r die Frau, die mich geweckt hat: Tanja
Vorwort
Wie geht es Ihnen? Statistisch betrachtet, ganz gut. Sie leben wahrscheinlich in Deutschland, einem der politisch stabilsten und wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt, Europas sowieso. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie über ein auskömmliches Einkommen verfügen, ist höher als in den meisten anderen Ländern. Einen Krieg im eigenen Land müssen Sie so wenig fürchten wie böse Folgen einer heilbaren Krankheit, denn Krieg und Terror sind ziemlich weit weg und das Krankenhaus ist nah. Wie sagt doch unsere Bundeskanzlerin so gern? »Deutschland geht es gut.« Sicher, es gibt hier und da Grund zum Ärgern, und manchmal auch zum Fürchten: Die Steuerlast drückt, und trotzdem hat die Gemeinde kein Geld, um die Schultoiletten zu reparieren. Was Sie sparen, bringt so niedrige Zinsen, dass es in Wahrheit immer weniger wird. Wie viel irgendwann von der Lebensversicherung bleibt, malen Sie sich lieber erst gar nicht aus. Der Strompreis steigt, aber selbst wenn das nicht so wäre, könnten Sie sich von dem Geld, das Sie jeden Monat nach Hause bringen, gerade so viel kaufen wie vor zwanzig Jahren, denn der Reallohn ist in dieser Zeit eher gesunken – es sei denn, Sie sind Spitzenverdiener, dann ist er gestiegen. Wenn Sie normal oder wenig verdienen und heute trotzdem mehr Geld im Portemonnaie haben als vor zwei Jahrzehnten, dann liegt das nur daran, dass Sie sich die Karriereleiter hochgearbeitet haben und dadurch den Reallohnverlust wieder wettmachen konnten. Sie machen sich außerdem Sorgen über den Klimawandel und die Folgen. Und wenn Sie aus Europa und dem Rest der Welt von all den Krisen und Beinah-Kriegen und Kriegen hören, dann fragen Sie sich vielleicht manchmal doch, wie lange das noch gutgehen kann mit der Wohlstandsinsel Deutschland. Vorwort 7
Dieses Buch habe ich geschrieben, weil ich glaube, dass es sich hier nicht nur um kleine Ärgernisse handelt. Ich fürchte, dass es tatsächlich nicht gutgehen kann, wenn Deutschland weiter die Augen verschließt. Ich bin überzeugt, dass dieses Land seine Stärken verlieren wird, wenn es die Aufgaben, vor denen wir stehen, verschläft. Ich widerspreche nicht denen, die sagen, dass wir, verglichen mit dem Rest der Welt, einen ziemlich hohen Wohlstand genießen. Ich widerspreche aber denen, die behaupten, das würde so bleiben, wenn wir weitermachen wie bisher. Ich kann das nicht glauben, weil ich sehe, dass das deutsche Haus zwar hinter seiner hübschen Fassade noch ganz wohnlich eingerichtet ist – für viele, keineswegs für alle! –, dass aber die Fundamente längst Risse haben. Ich widerspreche der Schönfärberei, weil ich sehe, dass eine höchst ungerechte Verteilung des Reichtums, die Erosion der sozialen Sicherungssysteme, die Ignoranz gegenüber benachteiligten Gesellschaftsschichten und das fortgesetzte Armsparen des Staates auch für eine relativ stabile Gesellschaft auf Dauer nicht zu verkraften sind. Weil ich es für gefährlich halte, dass sowohl die herrschende Politik als auch viele Medien all das nicht wahrhaben wollen. Und die meisten von uns, wenn wir ehrlich sind, auch nicht. Ich bin mir allerdings sicher, dass es weder ein Mangel an Möglichkeiten ist, der uns lähmt, noch der teure Sozialstaat oder der ach so schreckliche »Kostendruck« der Unternehmen. Erst recht nicht bedrohen uns »die Ausländer«, die »faulen Griechen« oder die fehlenden traditionellen Werte, wie es uns die Seehofers und Sarrazins mehr oder weniger offen einzureden versuchen. Was uns auf Dauer bedroht, das ist das Handeln beziehungsweise Nichthandeln derjenigen Politiker, die so tun, als hielten sie uns die Konflikte und Risiken dieser Welt vom Leibe. Es ist die Untätigkeit der Politik, aber es ist auch die weitgehende Untätigkeit einer Gesellschaft, die sich über die Gefahren der »Weiter so«-Politik ganz gern belügen lässt. Für beide, Politik und Gesellschaft, soll dieses Buch ein Weckruf sein. Ich bin überzeugt, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger, genau dies tun: uns belügen lassen. Nicht, weil wir ein Volk von Vollidioten wären. Wir haben, denke ich, gute Gründe, uns vor Veränderun8 Vorwort
gen zu fürchten. Wir ahnen alle, dass Kriege und Wirtschaftskrisen, Finanzspekulation und ungerechte Güterverteilung, Klimawandel, Flucht und Vertreibung auf Dauer nicht ohne Folgen für unser Leben bleiben werden. Und gerade weil wir das ahnen, tun wir das – auf den ersten Blick – Natürlichste der Welt: Wir klammern uns an die Hoffnung, auch in Zukunft verschont zu bleiben. Vielleicht mit ein paar Abstrichen hier, ein paar Opfern da, aber doch so, dass wir im Großen und Ganzen weiterleben können wie bisher. Ich fürchte nur, dass diese Hoffnung trügt. Wir werden vieles verändern müssen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten und die Welt ein bisschen schöner machen wollen. In meinem Buch über Angela Merkel (Mutter Blamage) habe ich zu beschreiben versucht, wie verfehlt die Politik dieser Kanzlerin ist und wie geschickt sie den wahren Charakter ihres Handelns verschleiert. Damals, vor der Bundestagswahl 2013, gab es zumindest noch die theoretische Möglichkeit, den Stillstand durch ein Reformbündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei zu überwinden. Und nach der Wahl eröffnete sich sogar die rechnerische Mehrheit dafür im Parlament. Aber mit dem Eintritt der SPD in die große Koalition wurde die Politik der Reformverweigerung bis auf weiteres besiegelt. Eine Alternative zum »Weiter so« ist auf lange Zeit nicht in Sicht, zumal auch die Grünen mit der Rolle der Mehrheitsbeschaffer für die Union liebäugeln. Aber an der Notwendigkeit einer anderen Politik hat sich nichts geändert, nur weil ehemalige »Reformparteien« sich von dem Anspruch verabschiedet haben, die Wende in die Wege zu leiten. Dieses Land bräuchte einen Aufbruch in allen wichtigen Bereichen, von der Wirtschafts- und Finanzpolitik über Soziales und Energie bis hin zur Gesellschafts- und zur Außenpolitik. Die Politik muss handeln. Aber damit sie das tut, müssen wir, die Bürgerinnen und Bürger, endlich aufwachen und Druck erzeugen, statt uns durch die Märchen vom segensreichen »Weiter so« einschläfern zu lassen. Wenn nämlich Politik und Gesellschaft so weitermachen wie bisher, dann werden die Dinge sich – und uns – verändern, ohne dass wir die Richtung bestimmen können. Wir müssen die Augen öffnen für die Tatsache, dass Deutschland wieder eine Wende braucht. Vorwort 9
Wieso das? Ist nicht mit dem Wiedereintritt der SPD in die Bundesregierung, mit Mindestlohn und Mütterrente und anderen »Reformen« für die notwendigen Veränderungen gesorgt? Nein. Ich halte diese verbreitete Vorstellung für einen der Träume, aus denen wir schnellstens erwachen sollten. Ich möchte anhand der Versprechungen und der realen Politik der großen Koalition zeigen, dass sie keineswegs willens und geeignet ist, den politischen Tiefschlaf zu beenden und die notwendigen Veränderungen in Angriff zu nehmen. Das gilt auch dann, wenn diese Regierung punktuell für Verbesserungen sorgt. Denn was sie tut, bleibt weit hinter dem Notwendigen zurück. Und selbst die Wahlversprechen der SPD sind zum größten Teil unerfüllt. Dieses Buch will allerdings nicht nur analysieren, kritisieren und an die Politik appellieren. Es will anhand von Beispielen auch zeigen, dass es nicht nur nottut, sondern auch sehr befriedigend sein kann, die Augen zu öffnen und etwas gegen den Stillstand zu unternehmen. Ich habe bei Recherchen und Gesprächen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass es denjenigen, die aktiv geworden sind, am Ende besser geht als zuvor. Mit dem Engagement ist es nämlich wie mit dem Joggen oder dem Fitnessstudio: Erst möchten wir lieber sitzen bleiben und die Beine hochlegen, denn Anstrengung haben wir im Leben schon genug. Aber wenn wir uns erst mal aufgerafft haben, dann stellen wir fest, wie gut Bewegung uns tut. Fragen Sie mal die Bürger des Schwarzwald-Städtchens Schönau, die aus einer Bürgerinitiative gegen Atomkraft eine bundesweit vorbildliche Energiegenossenschaft gemacht haben. Fragen Sie die europäischen Gewerkschafter, die der ersten europäischen Bürgerinitiative mit einer Million Unterschriften zum Erfolg verhalfen und die Europäische Union daran hinderten, die Wasserversorgung den Interessen kapitalistischer Unternehmen zu unterwerfen. Fragen Sie die Initiatoren der Berliner Bürgerinitiative »100 Prozent Tempelhofer Feld«, die den ehemaligen Flughafen gegen den Willen aller Parlamentsparteien vollständig als Freifläche erhalten möchten und genau das mit einem Volksentscheid erzwungen haben. Fragen Sie die Bewohnerinnen und Bewohner der vielen Gemeinden in Deutschland, die sich von abgelegenen Einkaufszentren un10 Vorwort
abhängig gemacht und eigene Dorfläden gegründet haben. Diese und andere Initiativen werden Ihnen am Ende dieses Buches wieder begegnen. Es geht also um ein Engagement, das nicht nur die Welt, sondern auch die Beteiligten und ihr Leben verändert – selbst wenn sie nicht immer alle Ziele erreichen. Dieses Engagement überwindet die Vorstellung, »Politik« sei so etwas wie ein misslungener Teil der Unterhaltungsbranche, mit dem wir nichts zu tun haben, wenn wir nicht wollen. Es holt sich die Herrschaft über »die Politik«, die unser Schicksal ja in Wahrheit entscheidend mitbestimmt, zurück, indem es sie zu Entscheidungen zu zwingen versucht, die zu unserem Leben passen. Daraus entsteht noch lange keine große Bewegung für eine vollends andere, bessere Politik. Diese Bewegung zeichnet sich nach meinem Eindruck derzeit in Deutschland leider nicht ab, vielleicht noch nicht. Das Ziel einer solidarischen Gesellschaft, die allen den gleichen Zugang zu den wichtigsten Gemeingütern sichert – von der Bildung bis zur Energie –, hat bisher keine mächtige politische Ausdrucksform gefunden. Aber ich bin überzeugt: Wer erst einmal aufgewacht ist und die Augen geöffnet hat für die vielen Möglichkeiten, etwas zu ändern, dem wird es leichtfallen aufzustehen. Und sei es zunächst nur, um der verbreiteten Reformmüdigkeit die Herrschaft über die öffentliche Meinung streitig zu machen: in Gesprächen, in Internetforen, Leserbriefen, Petitionen oder klassischen Bürgerinitiativen. Und natürlich, die leichteste Übung, die Politik des Stillstands so schnell wie möglich abzuwählen. Zumindest dazu soll dieses Buch ermutigen. Sie werden sehen: Hinterher geht es Ihnen besser. Das gilt im Übrigen auch für mich, nachdem ich die Arbeit an diesem Buch beendet habe. Für Unterstützung, ohne die das nicht möglich gewesen wäre, danke ich stellvertretend für viele andere: meiner Frau Tanja Kokoska, die mir auf liebevollste Weise immer wieder Mut, Kraft und Spaß an der Arbeit spendet – und ein glückliches Leben in einer oft glücksfeindlichen Welt; meinem Sohn Jakob, der mir immer wieder zeigt, wie man wach und zugleich entspannt durchs Leben geht; Vorwort 11
Lia Venn und Thomas Stillbauer, die mich mit tiefer Freundschaft und wundervollen Gesprächen beschenken; Thomas Gebauer, der mich auf freundschaftliche Weise von seinem fundierten Wissen und seiner intellektuellen Kraft profitieren lässt, und seiner Frau Susanne für fröhliche und anregende Abende; Karin Ceballos Betancur, Dieter Hummel, Jürgen Metkemeyer und Andreas Werner, die mich mit ihren besonderen Blicken auf die Welt immer wieder bereichern; meinen Eltern und meinen Geschwistern für unermüdliches Interesse und familiäre Geborgenheit; den vielen Kolleginnen und Kollegen, die meine Arbeit mit positivem Interesse und Bestärkung begleiten; und last but not least den Machern des Westend Verlages, die meine Projekte auf unnachahmliche Weise fördern: Rüdiger Grünhagen, dem einfühlsamen und aufmerksamen Lektor, sowie Markus J. Karsten und Bernd Spamer. Stephan Hebel Frankfurt am Main, im August 2014