Themenheft von Hochparterre, November 2014
Umgedacht
Ausgebaut und aufgestockt schaffen D채cher neuen Raum. Und der liegt da, wo er gebraucht wird: mitten in der Stadt.
Die Fotos auf dieser Seite und auf dem Umschlag zeigen Räume unter Dächern. Sie gehören zu unseren drei Beispielen aus Thun und Zürich.
Editorial
Inhalt
4 Wäscheleine und Penthouse Wo Dachformen Dogmen formten.
6 Städteausbau Beispiel 1: Reihenhäuser bekommen Lukarnen nach Regelwerk.
10 Kraftwerk statt Energieschleuder Wie das Dach Strom und Wärme gewinnt.
12 Der Speicher Beispiel 2: Ein rustikales Wohnhaus produziert neu Energie.
16 Sorgfältig weiterbauen Wie sanieren Baukultur erhält.
18 Verdichtung nach oben Beispiel 3: Ein Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert stockt auf.
22 Die Vermessung des Dachs Was Forscher anraten.
Ausgebaut und aufgestockt Baut dichter ! Verbraucht weniger Energie ! Diese beiden Imperative zukunftsfähigen Bauens lenken unseren Blick nach oben, auf die Dächer unserer Städte. Ökonomisch und baukulturell wäre es unsinnig, alle vorhandenen Häuser abzureissen und durch neue zu ersetzen. Darum sind der Ausbau bislang ungenutzter Dachräume und das Aufstocken von Altbauten ebenso naheliegende wie wirkungsvolle Mittel für die Energiewende und das Nachverdichten. Doch verändert der Eingriff ins Dach den Charakter des Hauses markant. Er verdichtet nicht nur Raum, sondern auch Ansprüche, Nutzungen und Zeitschichten. Daher gilt es architektonische und städtebauliche Folgen abzuwägen, aber auch denkmalpflegerische und soziale wollen bedacht sein. Die Fragen lauten: Wo und wie sind Aufstockungen und Dachausbauten sinnvoll ? Welche architektonischen Strategien sind erfolgreich ? Wo liegen die baukulturellen, ökonomischen und sozialen Chancen und Gefahren beim Eingriff ins Dach und seine Elemente wie Fenster, Lukarnen und Terrassen ? Welchen Beitrag zum Gebäudebetrieb kann Solarenergie leisten, und was bedeutet dies für Bestand und Neubau ? Wie wird die Solartechnik dabei sinnvoll integriert ? Unser Heft lässt Experten auf diese Fragen antworten und zeigt exemplarische Lösungen. Die Dächer in Zürich und Thun fotografierte Stefan Jäggi, der beim Swiss Photo Award 2014 den Preis für Architekturfotografie gewann. Palle Petersen und Axel Simon
Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor Köbi Gantenbein Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Axel Simon, Palle Petersen Fotografie Stefan Jäggi, www.stefanjaeggi.ch Art Direction Antje Reineck Layout Juliane Wollensack, Antje Reineck Produktion Daniel Bernet Korrektorat Marion Elmer, Lorena Nipkow Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Somedia Production, Chur Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit ZZ Wancor und Velux Bestellen shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—
Themenheft von Hochparterre, November 2014 — Umgedacht — Inhalt
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Die Frage lautet heute nicht ‹ steil oder flach ? ›, sondern: ‹ Welches Dach an welchem Ort ? ›
Wäscheleine und Penthouse Das Dach ist das vielleicht wichtigste Element der Architektur. Für eine dichte und grüne Gesellschaft bietet es grosse Chancen und birgt architektonische Gefahren. Text: Palle Petersen Foto: Bildarchiv Foto Marburg
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und Bruno Taut dort die Genossenschaftssiedlung ‹ Onkel Toms Hütte › – flach bedacht. Unmittelbar südlich bauen 16 Architekten um Hans Poelzig und Heinrich Tessenow ab 1928 die als Bauausstellung konzipierte Siedlung ‹ Am Das Dach schafft einen geschützten Raum und Heimat. Fischtalgrund › – steil bedacht. Über die Gemeinsamkeiten Gottfried Semper zählt es zu seinen vier, Leon Battis- des sozialen Programms und der kompakten Grundrisse ta Alberti zu seinen sechs Elementen der Baukunst. Im hinwegblickend macht die Presse daraus den ‹ DächerSprachgebrauch hat der ‹ Obdachlose › kein ‹ Dach überm krieg in Zehlendorf ›. Kopf ›, und weder Filarete noch Marc-Antoine Laugier meinen es symbolisch, wenn sie ihre fiktiven Urhütten Siedlungskontext und Raumerlebnis als reine Dächer zeichnen. Noch heute stehen solche Der Wechsel zum Flachdach ist heute real. Zwar Nur-Dächer – als Notunterstand, Wartehaus oder Perron- schleichend und keinesfalls absolut, gerät das Steildach schutz – sinnbildlich für einen geschützten, für alle of- zunehmend ins Hintertreffen. Entsprechend verbissen fenen Raum. Dagegen sind Nur-Wände zwar schützend, wird die Polemik weiter ausgetragen. Nimmermüde Neoaber oftmals auch exklusiv. Nicht jeder wählt seine Seite Modernisten erklären das Steildach für todgeweiht, Neoder Grenz- oder Gefängnismauer. Traditionalisten drehen den Spiess um. So findet der Jede Wette, dass beim Stichwort ‹ Dach › auch Lese- Frankfurter Christoph Mäckler das Flachdach schlicht rinnen, die in Plattenbauten aufwuchsen oder in Attika- « spiessig », und für den Luxemburger Léon Krier existiert wohnungen leben, an ein geneigtes Dach denken und ein es nicht, weil Regenwasser abfliessen muss: « Es gibt auf Haus als Dreieck überm Quadrat zeichnen. Die Dachform der ganzen Welt kein Flachdach. Das ist lediglich eine Reist seit der frühen Moderne zwar immer weniger eine tech- densart, eine Metapher. » nische, jedoch eine nach wie vor architektonische, zunehRem Koolhaas kennt solche Spitzfindigkeiten nicht. mend symbolische, mitunter sogar eine Glaubensfrage. Begleitet von 15 Bänden kuratiert der holländische AvantEs geht um Dogmen. Mitte der Zwanzigerjahre fordert gardist die diesjährige Architekturbiennale in Venedig Le Corbusier Flachdächer für jedes Haus, und in Deutsch- unter dem Motto ‹ Elements of Architecture ›. Im Büchlein land bricht der ‹ Dächerkrieg › aus. zum Dach erklärt er die Gegenwart zur Zwickmühle. Mit Walter Gropius startet den Angriff mit der 1926 pub- dem Flachdach verneine der Architekt die Tradition, mit lizierten Umfrage ‹ Das flache Dach ›. Darin prophezeien dem Steildach die Moderne. Moderne versus Tradition ? bekannte Architekten wie Ludwig Hilberseimer oder Erich Stadt versus Land ? Ist das nicht längst passé ? Heute könMendelsohn eine Zukunft unter flachen Dächern. Im Jahr nen wir die gesamte Geschichte – mitsamt Moderne und darauf schlägt Paul Schultze-Naumburg zurück. Stramme Flachdach – als kulturelles Reservoir begreifen und einen Traditionalisten wie Paul Bonatz oder Hermann Muthe- differenzierteren Blick auf Steildach und Giebel werfen. sius zählen als Antwort auf seine rhetorische Frage ‹ Fla- Weniger absolut lautet die Frage heute deshalb nicht ‹ steil ches oder geneigtes Dach ? › die Probleme des Flachdachs oder flach ? ›, sondern: ‹ Was an welchem Ort ? › Es geht um auf und preisen die Vorteile von Giebeln und geneigten Städtebau und Architektur, um Siedlungskontext und Ziegelflächen. Zeitgleich zum Wortgefecht treffen die Raumerlebnis. Denn ganz oben kann der Architekt Räume Fronten in Berlin-Zehlendorf auch baulich aufeinander. und Lichtstimmungen entwerfen, die zwischen keine ReAb 1926 errichten Hugo Häring, Otto Rudolf Salvisberg gelgeschossplatten passen.
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Grüner Hoffnungsträger Auch beim nebulösen Begriff der Nachhaltigkeit bietet das Dach Chancen. Die urbane Öko-Elite blickt idealistisch gen Selbstversorger-Gesellschaft und ersetzt den Schrebergarten durch ‹ roof gardening ›. Weniger utopische Hoffnungen knüpfen sich an Wörter wie ‹ Energiewende ›: Weil die Solarkraft bis 2050 einen grossen Teil des Primärenergiebedarfs decken soll, grübeln Fachleute, wie sie Sonnenstrahlen einfangen können, ohne traditionelle Dachlandschaften zu zerstören. Oder ‹ Nachverdichtung ›: Weil die Bevölkerung wächst und die Raumplanung das Bauland einschränkt, wächst der Druck auf den Bestand. Neben Ersatzneubauten und dem Schliessen von Baulücken haben Aufstockungen und Dachausbauten das grösste Potenzial zur Innenentwicklung. Bisweilen werden sie als flächendeckend anwendbares Wundermittel gepriesen. Die umgekehrte Forderung nach Totalerhalt ist ebenso wenig durchdacht, denn zusätzliche Wohnfläche ohne zusätzliches Bauland, dafür aber an begehrter Lage rechtfertigt allerorts eine ernsthafte Prüfung. Die erste richtige Frage lautet also nicht ob, sondern wo wir Dächer ausbauen und aufstocken sollen. Die zweite ist eine soziale und fragt: Für wen ? Werden gemeinschaftliche Dachterrassen im Zuge von Umbauten privatisiert ? Entsteht eine abgehobene und elitäre Welt oberhalb der Traufen und den Köpfen der Mittelklasse ? Weil Eigentum rechtlich gut behütet ist, wird sich die Nutzerschaft kaum steuern lassen. Doch egal, ob Anwaltskanzlei, Luxuswohnung, Kinderheim oder öffentliches Museum, die dritte Frage ist davon unabhängig: Wie ist die architektonische Beziehung zum Bestand ? Der Eingriff ins Dach ist ein Eingriff in den Kopf und Charakter des Hauses. In der Summe wird diese schleichende Verdichtung das Stadtbild entscheidender verändern als aufmerksamkeitserregende Grossprojekte.
Wie auch der Neubau stehen Dachausbau und Aufstockung zwischen den Polen Kontrast und Anpassung gegenüber dem Vorhandenen. Eine gewisse Divergenz zum Baukörper darunter ist natürlich, denn immer war der Dachrand eine Zäsur. Oberhalb verputzter Fassaden folgten geschlossene Dachflächen im Ziegelkleid. Darunter lagerten Dinge, hing Wäsche zum Trocknen, lebten Bedienstete in schlecht belichteten Kammern. Der Wunsch zahlungskräftiger Bewohner nach Licht und Ausblick ‹ on the top › steht heute dem Öffnen alter Dachgeometrien gegenüber. Genauso wenig, wie wir diese reproduzieren können, rechtfertigt die neue Nutzung aber autistische Aufbauten, wie sie in Wien aufgrund ultraliberaler Baugesetze entstehen oder wie es Herzog & de Meuron beim Basler Museum der Kulturen vormachen. Die geschlossene Dachhaut von gestern war grundsätzlich anders als der darunterliegende Baukörper, doch hatte sie meist durch Gliederung, Proportion oder Material mit diesem zu tun. Das müssen heutige Architekten bedenken, wenn sie die stärker geöffnete Dachhaut von morgen entwerfen.
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Der Eingriff ins Dach ist ein Eingriff in den Kopf und Charakter des Hauses.
Ob flach oder steil war um 1927 eine Glaubensfrage: der ‹ Dächerkrieg › in Berlin-Zehlendorf. Themenheft von Hochparterre, November 2014 — Umgedacht — Wäscheleine und Penthouse
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Die Decke steigt zum Fenster hin leicht an und lässt so den niedrigen Dachraum grosszügiger erscheinen.
Städteausbau Wie baut man ein zu niedriges Dach aus, das auf einem zu schmalen Reihenhaus sitzt ? Indem man alle Besitzer vereint und mit den Behörden diskutiert. Text: Rahel Lämmler
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Zwei Reihenhauszeilen hatte Otto Glaus zwischen 1948 und 1950 in Zürich am Fuss des Uetlibergs gebaut. Der Zeit entsprechend sind die Grundrisse gut und ökonomisch geschnitten, die Gebäudebreite eines Einfamilienhauses beträgt nur gerade 6,15 Meter. Katrin Bamert und Andrea Thöny brauchten mehr Wohnraum. Das Planungs- und Baugesetz schreibt für einen Dachausbau mit Lukarne eine maximale Breite von einem Drittel der betreffenden Fassadenlänge vor. Eine Lukarne könnte für Wohnzwecke also nur bedingt genutzt werden. Der Kniestock könnte um 90 Zentimeter angehoben werden, was die bestehende Raumhöhe beim First von nur 1,65 Meter zu wenig anheben würde. Keine dieser beiden Möglichkeiten versprach also ein zufriedenstellendes Resultat. Das Schrägdach bildet für die Siedlung ein wichtiges Element: Es verbindet die Wohnhäuser zu einer übergeordneten Form. Die Initiatoren baten die befreundeten Architekten Diethelm & Spillmann um Rat. Seit der Erstellung durch die Immobiliengenossenschaft Proprietaria sind die zwanzig Einfamilienhäuser Eigentum ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Wenn nun alle ihr Dachgeschoss ausbauen würden, wüchsen die Lukarnen wie kleine Warzen aus dem Dach heraus und würden so den Siedlungscharakter aus dem Gleichgewicht bringen. Der Betrachtungsparameter musste also auf die gesamte Siedlung ausgeweitet
werden. Um ein Regelwerk zu formulieren und verbindlich umzusetzen, war jedoch das Einverständnis aller Eigentümer notwendig. Die Architekten erklärten sich bereit, den Dialog mit den Ämtern zu führen siehe ‹ Gestaltungsrichtlinien ›, Seite 9, wenn sich die Auftraggeber um die Zustimmung aller Eigentümer bemühen. Eine Ausgangslage, die einen langen Atem und viel Überzeugungsarbeit erforderte. Bis zum ersten Ausbau vergingen beinahe fünf Jahre. Das Resultat überrascht und überzeugt. Aufbau statt ‹ Luke › Die Architekten interpretierten die Bauvorschriften geschickt. Die Drittelregelung für Lukarnen gilt für je eine Dachhälfte. Was wäre, wenn man diese auf einer Seite kumuliert ? Über alle Hauseinheiten besehen wären alle Lukarnen auf einer Dachschräge zu markant, zu dicht und überdies nicht gesetzeskonform. Setzt man diese jedoch abwechslungsweise auf, dominiert die schräge Fläche die Dachlandschaft weiterhin und ist zudem regelkonform. Aufgrund städtebaulicher Aspekte legten die Architekten die Position der nun zwei Drittel breiten Aufbauten fest. Glücklicherweise bieten beide Seiten Qualitäten: Gegen Osten öffnet sich ein weiter Blick über die Stadt, die West ausrichtung profitiert von der Abendsonne und dem Blick auf den bewaldeten Uetliberg. Lukarnen im ursprünglichen Sinn dienten zur Belich tung und Belüftung des Dachraums und waren ungedämmt, Wand- und Deckenstärken entsprechend filigran. Wie tritt nun diese neue, in jeder Hinsicht überdimensionierte →
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Dachausbau der Siedlung Frauental in Zürich: Trotz der grossen Lukarnen läuft der First durch, und eine Dachseite bleibt unangetastet.
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Dachausbauten Siedlung Frauentalweg, 2009 – 2014 Frauentalweg 59 – 97, Zürich Bauherrschaft: Katrin Bamert und Andrea Thöny, Ulrich Coradi, Janine Graf und René Dob ler ( 2012 ), Christoph und Thanh Ha Tran Holenstein, Katja Kuhn ( 2013 ), Madlen Stocker und Basil Schwitter ( 2013 / 14 ) Architektur und Bauleitung: Diethelm & Spillmann, Zürich Mitarbeit: Balz Mueller Auftragsart: Direktauftrag, 2009 Gesamtkosten ( BKP 1–9 ): Fr. 130 000.— bis 180 000.—
Dachaufsicht
Querschnitt vor dem Dachausbau
Dachgeschoss
Querschnitt
Obergeschoss
Erdgeschoss
Lageplan der Baueingabe mit den sechs ausgebauten Dächern.
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Dachaufbau Lukarne 1 Kupferblech mit Doppelfalz auf Drei schichtplatte 2 Lattung / Hinterlüftung 3 Dreischichtplatte 4 Zellulosefaserdäm mung / Balken ( 1 6 cm ) 5 Dreischichtplatte 6 L attung / Installationen 7 Täfer
Gestaltungsrichtlinien In Zusammenarbeit mit dem Amt für Baubewilligungen und dem Amt für Städte bau entwickelten die Architekten Diet helm & Spillmann Gestaltungsrichtlinien für die Siedlung Frauentalweg in Zürich. Alle Eigentümer haben dem Katasterplan zugestimmt und ihn im Grundbuch mit Position und Dimension der Lukarnen ein tragen lassen. Ausführungsdetails sind definiert: dreiteilige Fenster, Kupfer als äus sere Dachhaut, Farbpalette für die Fens terzargen, aussenliegender senkrechter oder ausstellbarer Rollladen aus Holz. Die Initiatoren haben die Planungskosten vorfinanziert. Für alle Eigentümer steht ein Bundesordner mit den Ausführungs plänen zur Verfügung, der gegen eine anteilsmässige Entschädigung bezogen werden kann. Ein Ausbau kann in den nächsten 15 Jahren erfolgen, erst danach verfällt die üblicherweise nur 3 Jahre gül tige Baubewilligung. Diese Dachausbauten haben einen Stein ins Rollen gebracht: Insgesamt sechs Aufbauten wurden bis heute realisiert.
Von Haus zu Haus müssen die grossen Lukarnen die Dachseite wechseln.
→ ‹ Luke › in Erscheinung ? Dominiert sie den Unterbau oder integriert sie sich massvoll ? Wie zeigt sich die Siedlung nun zur Strasse ? Wichtig ist die Fortführung des durchgehenden Firsts. Würden die Aufbauten ihn zu zwei Dritteln unterbrechen, störte das die einheitliche Erscheinung des Daches. Wo genau die Lukarnen liegen, definiert einerseits die Lage der innenliegenden Treppe, andererseits war es wichtig, die Lukarne bei den Eckhäusern auf der untergeordneten Seite aufzusetzen. Die exakten Positionen der Aufbauten hält der Katasterplan fest. Die niedrige Raumhöhe im Firstbereich brachte Diethelm & Spillmann auf die Idee, das Dach der Lukarne in Richtung Traufe ansteigen zu lassen. Dies ergab einen Raum von bis zu 2,4 Metern Höhe und einer Fläche von 11 Quadratmetern, weitere 9 Quadratmeter liegen im Be reich der Dachschräge. Das Wohnhaus gewann ein Zimmer von hoher Qualität auf einem weiteren Geschoss. Für die Familie war es wichtig, alle bestehenden Zimmer erhalten zu können. Darum führt die Treppe möglichst kompakt vom bestehenden Verteilraum ins Dachgeschoss, nur ein kleiner Abstellraum fiel dem zum Opfer. Die Architekten verstanden es, mit dem knappen Raum umzugehen: Einbauschränke füllen jede Restfläche unter der Schräge aus. Sorgfältiges und präzise verarbeitetes Wand- und Deckentäfer in warmem Weiss und ein dunkelgrauer Li noleum erzeugen eine angenehme Atmosphäre im Musikzimmer. Die schrägen, blauen Fensterzargen entsprechen dem Farbton der Klappläden des Wohnhauses. Inspirierte Nachbarn nutzen ihren Dachausbau als Schlafzimmer. Zu-
sammen mit einem unteren Zimmer und der einläufigen Treppe entstand ein grosszügiger Bewegungsablauf. In ihrer nach Osten ausgerichteten Lukarne blicken die Bewohner nicht nur über die Stadt, sondern werden auch von der Morgensonne geweckt. Vielfalt im Regelwerk Die Grundrisse aller Wohnhäuser sind identisch und zu gespiegelten Paaren aneinandergereiht. Ein weiterer Dachaufbau befindet sich auf der Westseite eines Endhauses. Dadurch liegt er nicht über der bestehenden Treppe, sondern in deren Verlängerung. Anstelle eines entfernten Wandstücks führt die spindelförmige Treppe direkt neben der bestehenden ins Dach. Licht fällt durch diese Öffnung bis ins Erdgeschoss. Die Oberflächen, Materialien und Farben des neuen Arbeitsraums entsprechen denen des bestehenden Wohnbereichs. In der restlichen Dachschräge befindet sich die neue Pelletheizung, auf dem Lukarnendach eine Solaranlage für die Warmwasseraufbereitung. Überraschend ist, dass trotz des Regelwerks jeder Aufbau individuelle Raumzusammenhänge zulässt. Trifft der Begriff Lukarne auf einen Dachaufbau wie diesen noch zu ? Nach aussen erzählt der aufgesetzte Dachkörper durch seine Grösse vom neuen Inhalt. Er spricht davon, dass das Dach nun zum Lebensraum gehört. Als Guckkasten gegen Osten erzählt er von der Fernsicht über die Stadt, und als Sonnen- und Lichtfänger gegen Westen generiert er auch für die unteren Geschosse einen Mehrwert. Von einer ‹ Luke › kann eigentlich nicht mehr die Rede sein.
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Kraftwerk statt Energieschleuder Richtig konstruiert und ausgerüstet spart ein Dachgeschoss nicht nur Energie, sondern es wird gar zum Kraftwerk. Noch sind die technischen Lösungen erst selten im Einsatz. Text: Reto Westermann
Regen, Schnee, Sonne und Wind – kaum ein Bauteil ist so den Elementen ausgesetzt wie das Dach. Entsprechend hoch sind die technischen Anforderungen an die Dachfläche beim Ausbau bisher nur als Estrich genutzter Räume zu Wohnzwecken. « Die exponierte Lage des Dachs ist aber immer auch eine Chance, den Energiehaushalt massgeblich zu verbessern oder Energie zu gewinnen », sagt Architekt Karl Viridén aus Zürich. Er gilt als Spezialist für energiesparende Sanierungen, Aufstockungen und den Ausbau bestehender Dachgeschosse bei älteren Mehrfamilienhäusern. Wird das Dachgeschoss ausgebaut, beeinflussen drei Punkte den Energiehaushalt positiv: Das Verhältnis von Wohn- und Gebäudeoberfläche, die Dämmung des bis anhin unisolierten Dachs und die aktive Nutzung der Sonnenergie.
eine besonders dicke Isolation des Dachs Energieverluste an anderer Stelle kompensieren – bei denkmalgeschützten Fassaden beispielsweise eine willkommene Ausweichmöglichkeit, um Optik und Energiehaushalt unter einen Hut zu bringen. Rein technisch und vom Platz her ist die Isolation des Dachs mit Dämmstärken von bis zu dreissig Zentimetern kein Problem. Für die Architekten hingegen kann die Kaschierung der dicken Isolationsschicht an neuralgischen Stellen manchmal zur Herausforderung werden. Das Vorgehen bei der Umnutzung bestehender Estrichräume ist einfach und bewährt: In der Regel wird das vorhandene Dach bis auf die Sparren zurückgebaut, ein neues Ziegeldach samt Unterdach darauf montiert und der Raum zwischen den Sparren isoliert. Reicht das nicht für eine genügend starke Dämmung, schafft eine Aufdoppelung der Sparren den nötigen Raum. Und dort, wo die technischen Anforderungen besonders hoch sind, hält die Bauindustrie passende Produkte bereit: etwa hochisolierende Vakuumdämmungen für die Isolation unter Terrassenböden, wenn nur wenig Einbauhöhe zur Verfügung steht, oder Geländerkonstruktionen, die ohne die bauphysikalisch heikle Durchdringung der Dachhaut auskommen.
Wirtschaftliche Leichtgewichte: Aufstockungen im Holzelementbau verringern statische Eingriffe. Quelle: Viridén + Partner
Typischer Dachausbau: Isolation zwischen den Sparren, neues Unter- und Ziegeldach. Quelle: Flumroc
Dämmen: grosser Hebel im Dach Durch den Ausbau von Estrichräumen steigt die Wohnfläche eines Gebäudes, ohne dass die Fläche der Aussenhülle zunimmt. « Das wirkt sich positiv auf den Energieverbrauch pro Quadratmeter im ganzen Haus aus », sagt Fachmann Viridén. Bei der Dämmung des Dachs wiederum sorgt die Physik für eine erwünschte Hebelwirkung: Da Wärme in einem Gebäude nach oben steigt, sind die Sparpotenziale im Dachbereich besonders hoch. Rund 17 Prozent der Heizenergie gehen bei unisolierten Bauten gemäss Angaben der Konferenz der Kantonalen Energiedirektoren dort verloren. Durch die Hebelwirkung kann
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Erweitern: mehr Volumen Lässt das Baugesetz mehr nutzbares Volumen zu, als das bestehende Dachgeschoss bietet – etwa aufgrund der nicht ausgenutzten Gebäudehöhe – wird der Dachstuhl oft abgebrochen und das Dachgeschoss komplett neu aufgebaut. Meist kommen dafür, wie auch bei der Aufstockung
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bestehender Gebäude, vorgefertigte Holzelemente zum Einsatz. Das verkürzt die Bauzeit und ermöglicht eine freie Anordnung der Räume. Dazu kommt ein weiterer Vorteil: « Vorgefertigte Holzkonstruktionen haben ein tiefes Eigengewicht », sagt Markus Mooser, Leiter des Lignum-Büros in der Romandie und Autor eines gerade erschienenen Fachbuchs zum Thema Aufstockung. Das Gewicht kann insbesondere bei zusätzlichen Geschossen entscheidend für die Wirtschaftlichkeit sein: Denn je tiefer in die bestehende Struktur des Hauses eingegriffen werden muss, um die Lasten abzufangen, desto weniger lohnt sich ein Dachausbau. Heikle Punkte sind einerseits die Tragfähigkeit der bestehenden Wände, andererseits die Auswirkungen eines zusätzlichen Geschosses auf die Erdbebensicherheit. Dabei gilt: je leichter der Aufbau, desto geringer der Aufwand für die Verstärkung der bestehenden Struktur. Ähnliche Probleme bezüglich der Eingriffstiefe in die bestehende Struktur und der Wirtschaftlichkeit stellen sich auch beim oft nötigen Einbau eines Lifts. Muss dieser aus Platzgründen durch die bestehenden Wohnungen geführt werden, geht vermietbare Fläche verloren und sind Eingriffe in die Grundrisse nötig. « Lassen sich für solche Punkte keine wirtschaftlichen Lösungen finden, können sie zum Killerkriterium für einen Dachausbau oder eine Aufstockung werden », sagt Karl Viridén.
Energiefänger und Dachhaut: Module zur Stromproduktion oder Warmwassererzeugung. Quelle: Meyer Burger
Ernten: Energiegewinnung Ein wichtiges Thema beim Ausbau bestehender Dachgeschosse ist auch die Gewinnung von Energie aus der Sonne mithilfe von Solarzellen für die Stromproduktion oder mit Kollektoren für die Wärmeerzeugung. Das Potenzial ist gross: Mindestens 150 Quadratkilometer Dachfläche in der Schweiz wären gemäss den Erhebungen des Branchenverbandes Swissolar für Solaranlagen geeignet, genutzt werden davon aber nur drei Prozent. « Würde die volle Fläche zur Stromgewinnung eingesetzt, könnte damit ein Drittel unseres Strombedarfs gedeckt werden », sagt David Stickelberger von Swissolar. Eine Hürde für die Nutzung des Potenzials ist mit dem revidierten Raumplanungsgesetz gefallen: Vielenorts genügt nun für die In stallation von Photovoltaikmodulen oder Sonnenkollektoren eine Bewilligung im Anzeigeverfahren. « Ein Hindernis sind vor allem noch Einwände von Feuerpolizei und Architekten », sagt Stickelberger. Zumindest für die aus Architektensicht oft nicht befriedigende Optik von Solarzellen hat die Industrie in den letzten Jahren neue Lösungen entwickelt. Ein Beispiel dafür sind die ‹ Megaslate ›-Module des Schweizer Herstellers Meyer Burger aus Thun. Sie sind Dachhaut sowie Energiefänger in einem und werden direkt auf der Unterkonstruktion befestigt. Erhältlich sind
sowohl Module zur Stromproduktion als auch zur Warmwassererzeugung und passende Dachfenster. Die Module können beliebig kombiniert werden und bilden eine durchgehende, dunkle Dachfläche, die wesentlich eleganter erscheint als die übliche Kombination aus Dachhaut und aufgesetzten Solarmodulen. In grösserem Stil eingesetzt wurden die Module beispielsweise beim Neubau der Umweltarena im aargauischen Spreitenbach.
CO²-neutral dank Sonne und Erde: Das System ‹ 2Sol › nutzt das Erdreich als saisonalen Wärmespeicher.
Lagern: Lösungen gesucht Wird die gesamte Dachfläche mit Solarzellen und Kollektoren oder einer Kombination von beiden bestückt, produziert ein gut gedämmtes Haus übers Jahr hinweg mehr Energie, als es selbst braucht, leider aber nicht immer zum richtigen Zeitpunkt: Die grösste Energiemenge fällt dann an, wenn der Bedarf gering ist – nämlich tagsüber im Sommer. « Die Speicherung ist zurzeit noch eine Herausforderung », sagt Architekt Karl Viridén. Am interessantesten sei es, selbst produzierten Strom direkt im Haus zu verwenden. Beispielsweise, indem man damit eine Wärmepumpe betreibt, die warmes Wasser produziert, dieses in Tanks speichert und an sonnenarmen Tagen wieder nutzt. Dasselbe Vorgehen – einfach ohne zwischengeschaltete Wärmepumpe – kann genutzt werden, wenn direkt von Kollektoren erzeugte Wärme gespeichert werden soll. Eine weitere Möglichkeit erprobt derzeit ETH-Professor Hansjürg Leibundgut in seinem Prototypenhaus in Zürich Er setzt Hybridkollektoren vom Typ ‹ 2Sol › ein, die ebenfalls von Meyer Burger mitentwickelt wurden. Sie erzeugen im selben Element sowohl Strom als auch Warmwasser. Den Strom nutzt Leibundgut im Haus oder speist ihn ins Netz, die Wärme wird über die Sonde einer Wärmepumpe ins Erdreich geleitet und lädt dieses quasi für die Nutzung im Winter wieder auf. Eine andere Lösung für die Speicherung der überschüssigen sommerlichen Sonnenergie von den Hausdächern könnte künftig die sogenannte Eisheizung sein. Auch sie benötigt einen ausreichend grossen Speicher. Darin befindet sich Wasser, das im Sommer mit Sonnenenergie aus Kollektoren aufgeheizt wird. Im Winter nutzt eine Wärmepumpe dann das warme Wasser als Medium und entzieht ihm so lange Energie, bis es zu Eis gefriert. Mit Hilfe der Sonnenenergie taut das Eis an warmen Tagen wieder auf und der Prozess beginnt von Neuem. Fazit: Einst diente das Dachgeschoss nur dem Schutz vor der Witterung. Dick isoliert, mit Solarmodulen oder Kollektoren bestückt und mit den passenden Energiespeichern kombiniert, wird es künftig zum bewohnbaren Kraftwerk, mit dem das ganze Haus übers Jahr hinweg fast autark mit Energie versorgt werden kann. Die Technologien für die Dämmung und Energieproduktion sind da und haben sich bewährt, bei der Speicherung der überschüssigen Energie aus den Sommermonaten für die Nutzung im Winter hingegen sind Techniker und Forscherinnen auch künftig noch gefordert.
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Die Haustechnik zeigt sich in der Dachwohnung nur über die Rückseite der Kollektoren in der Loggiabrüstung.
Der Speicher In Thun steht ein Haus, das fast das Doppelte an Energie produziert, als es selbst braucht. Und das, obwohl sich unter dem Solardach fast keine Technik befindet. Text: Axel Simon
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Im Thuner Seefeld zeigen alle Giebel in Richtung Alpen. Ein Haus im beliebten Wohnquartier sorgte letzten Herbst für Schlagzeilen: Frisch zum Plusenergiehaus umgebaut bekam es den Norman Foster Solar Award 2013 verliehen. « 187 Prozent », lautete die Begründung, so viel Energie produziere das Haus bezogen auf seinen Eigenbedarf. Selten sind die von der Schweizer Solaragentur gekürten Häuser auch ästhetisch ein Genuss. Dementsprechend skeptisch sind unsere Erwartungen beim Besuch des Hauses Rudolf. Ja, es hebt sich ab von der cremefarben oder rötlich verputzten Nachbarschaft, doch weniger als erwartet. Mit seinem grauen und erstaunlich rauen Putz ist es fast schon rustikal. Ja, die Nordfenster der Strassenfassade sitzen klein im Putz, der die dicke Wärmedämmung überkrustet. Das Format dieser Fenster habe sich gegenüber dem Bestand aus Kostengründen nicht verändert, werden die Architekten später sagen, nicht aus Energiegründen. Nein, das vollflächig mit Photovoltaikmodulen gedeckte Dach tritt kaum in Erscheinung, zu schmal die Strassen und keine läuft auf das Haus zu. Der Bauherr steht sichtlich stolz im rotem T-Shirt vor seinem grauen Haus. Als Thomas Rudolf das Haus kaufte, wohnten zwei Parteien in den unteren Geschossen, und die Dachräume waren kaum nutzbar. Von der naiv-malerischen Erscheinung des Hauses erzählen noch die Rustico-Mauern der Terrasse und ein Brunnenhäuschen davor. « Von Plusenergiehaus hatte ich damals noch nichts gehört », sagt der Elektroingenieur. Da ihm Energiesparen wichtig war, liess er einen Architekten nach dem Prinzip des Emmentaler Solarpioniers Josef Jenni den Umbau planen: Ein Tank hätte mehrere Räume übereinander gefüllt, um Warmwasser für den Winter zu speichern ; das Satteldach hätte gedreht werden müssen, um die Kollektoren nach Süden zu richten. Dann
hörte Rudolf vom Konzept Passivhaus und traf seinen Architekten Adrian Christen. Der Energiespezialist spannte mit dem ETH-Architekten Tibor Lamoth zusammen, und ihr Entwurf überzeugte den Bauherrn: ein « Nullheizhaus mit passivem Solargewinn » ( Lamoth ) und drei grosszügigen Wohnungen. Das Erstaunliche: Es ist ein Kraftwerk fast ohne Technik. Das Haus besitzt weder Heizung noch Lüftung oder Wärmerückgewinnung. Den Strom bekommt es vom Dach, die Wasserwärme ( zu achtzig Prozent ) aus Kollektoren an seiner Loggiabrüstung, die Heizwärme direkt von der Sonne. Durch die grossen Südfenster lädt sie Böden, Wände und Decken mit Wärme auf, ergänzt von einem Holzofen – « wenn der Himmel mal länger grau bleibt », sagt der Bauherr. Auch im Winter brauche es in den Wohnungen oft nicht mehr als ein T-Shirt. ‹ Sonnenlaube › statt Balkon Auf den ersten Blick denkt man an einen Neubau. Die ortsfremd flache Dachneigung wich einer steileren von 35 Grad, die für mehr Platz unterm und mehr Stromertrag auf dem Dach sorgt. An der Südfassade wurden die Fenster grösser und bodentief ; dort, wo die Balkone sassen, besitzen die Wohnungen nun eine verglaste Raumschicht, « S onnenlaube » nennt sie Rudolf. Vor seiner Dachwohnung wölbt sich eine Loggia in den Giebel und gibt dem Haus einen sperrigen Charakter, der neugierig macht. Fremdartig blau schimmern die Kollektorröhren in der Loggiabrüstung. Die Glasfront schwingt sich von Kniestock zu Kniestock, als hätte ein Orkan sie nach innen gedrückt. Die beiden Estrichfenster blicken aus der schräg geknickten Giebelwand, als würde das Haus schielen. Der Grundriss zeigt: An der inneren Struktur hat sich fast nichts verändert. Wenige Wände entfernte man, sodass sich nun ein Wohnbereich diagonal durchs Haus schlängelt. Ausgehend von der ‹ S onnenlaube › verteilt sich die Wärme über den Eingang bis zur Küche in der entgegengesetzten Hausecke. Da nichts die Sonnenstrahlen →
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Das Dach als Kraftwerk: im Thuner Wohnquartier eine Ausnahme.
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Querschnitt vor dem Umbau.
Querschnitt
Obergeschoss vor dem Umbau.
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Umbau und Aufstockung eines Dreifamilienhauses, 2013 Schubertstrasse 8, Thun Bauherrschaft: Thomas Rudolf, Thun Architektur: Architektur Atelier Adrian Christen, Steffisburg, und Lamoth Raoseta Soh Architekten, Wilen b. Wollerau Auftragsart: Direktauftrag Ausführungsplanung, Bauleitung und Energie: Adrian Christen Gesamtkosten ( BKP 1–9 ): Fr. 1,9 Mio. Baukosten ( BKP 2 / m³ ): Fr. 800.—
Obergeschoss
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Dachgeschoss
Dachaufbau 1 Photovoltaikpaneele, vollflächig integriert 2 Dachlattung 3 Hinterlüftung 4 Holzfaserplatte 5 Sparrenlage mit Holzfaserdämmung ( 26 cm ) 6 Grobspanplatte
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Das Haus von 1947 vor dem Umbau.
Nach dem Umbau: steiler das Dach und schräger der ‹Blick› des Hauses.
→ von den Innenräumen fernhalten darf, gibt es im Süden keine Balkone. Stattdessen hat die Wohnung im Obergeschoss eine seitliche Terrasse zur Küche, und der Bauherr blickt von einer Loggia vor seinem breiten Wohnraum auf das Bergpanorama vom Eiger im Osten bis zum Stockhorn im Westen. Zwar ist die Loggia relativ schmal, doch wenn die beiden Schiebefenstertüren offen stehen, verliert sich die Grenze zwischen innen und aussen. Zukunftsfähig Thomas Rudolf druckt Skalen aus und deutet auf Monitore, um zu zeigen, wie viel Energie sein Haus braucht und produziert. « Wenn man sieht, wie viel man verbraucht, kriegt man ein Gespür dafür. » Als zweijähriges Pilotprojekt durfte Rudolf das machen, was nun laut neuer Energieverordnung jeder darf: seinen eigenen Strom nutzen, statt ihn ins Netz zu speisen. Mit dem Überschuss verdiene er jährlich 10 000 Franken. Und das Photovoltaikdach habe dank kantonaler Förderung und kostendeckender Einspeisevergütung ( KEV ) nur die Hälfte gekostet, ergänzt Architekt Christen die Rechnung. Wie die Handwerker seien übrigens auch die Photovoltaikmodule aus der Region – sie stammen von der Thuner Firma Meyer Burger. Technisches Flair verbreitet in der Dachwohnung lediglich die Rückseite der Loggiabrüstung – wie lange Glühbirnen stapeln sich dort die Kollektorröhren übereinander. Der Innenputz ist aus Lehm, das Holz entweder unbehandelt oder geölt. Träge geben der gelbliche Anhydritboden und die Betondecken die Sonnenwärme wieder ab. Die
Holzbalken der Dachwohnungsdecke stehen irritierend dicht – eine Hommage an den ursprünglichen Zustand des Hauses ? Adrian Christen klärt auf: « Wenn die Holzoberfläche dreimal so gross ist wie eine Betonoberfläche, dann ist die Speicherkapazität gleich hoch. » Auch die Holzdecke ist also Teil des Wärmehaushalts. Mit einem Karbonnetz schützt die Aussenfassade vor elektromagnetischen Strahlen. Darunter dämmen diffusionsoffene mineralische Dämmplatten, und unter dem Parkplatz sammelt ein Tank Regenwasser zum WC-Spülen und Blumengiessen. Zukunftsfähig ist das Haus Rudolf aber nicht nur ökologisch, sondern auch sozial, denn es kann auf veränderte Lebensbedingungen reagieren. Die Zimmer am Treppenhaus können mit einem eigenen Zugang und Bad nachgerüstet werden. Neben dem Eingang ist Platz für einen späteren Liftturm, um die schwellenlosen Wohnungen zu erschliessen. Schon heute steht der Garten allen drei Familien zur Verfügung, ebenso der Estrich und ein Partykeller mit Holzofen, der nicht nur zum Pizzabacken und Gemütwärmen dient, sondern auch schon mal kurzfristig Wasser aufheizt, wenn sowohl die Kollektoren als auch der Sonnenstrom nicht ausgereicht haben. Das Haus als Kraftwerk – für manche eine Verheissung, für andere ein Schreckensszenario. Das Haus Rudolf zeigt aber, dass auch ein Plusenergiehaus ohne viel Technik auskommen kann. Nicht als Ufo steht es im Thuner Seefeldquartier, sondern als eigenständiger Hauscharakter. Lowtech, der ausgerechnet den Ingenieur und Bauherrn freut – vielleicht gerade ihn, weil er es beurteilen kann.
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Selbstbewusster Eckbau: Die Aufstockung verstärkt den Charakter des Bestands.
Sorgfältig weiterbauen Die Gebäude in der Schweiz sollen alle um ein Geschoss höher werden und Aufstockungen die energetischen Sanierungen finanzieren. Dabei geht die Baukultur verloren. Text: Gerold Kunz
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höhere Rendite sollen auch als mögliche Finanzierungsquelle für energetische Sanierungen dienen. Als ‹ Paukenschlag › wird vom Hauseigentümerverband sogar der Abbruch aller noch nicht sanierten Bauten der Fünfziger- und Sechzigerjahre gefordert. Solche einfache Konzepte haben fatale Folgen für die Baukultur. Insbesondere die Denkmalpflege fühlt sich von diesen pauschalen Forderungen herausgefordert, wird sie doch umgehend in die Rolle des Verhinderers gedrängt. Fragen nach der gestalterischen Qualität haben in der Diskussion offenbar keinen Platz. Vergessen geht, dass Denkmalschutz und Klimaschutz gesetzlich verankerte, gleichwertige öffentliche Interessen sind, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Für eine nachhaltige Entwicklung braucht es den dif ferenzierten Blick auf das Objekt als Ganzes, sei es in Bezug auf die Architektur, aber auch hinsichtlich der städtebaulichen Bedeutung. Der Umgang mit historischen Bauten prägt die Schweizer Architektur seit Generationen. Weiterbauen am Kontext gehört zum Selbstverständnis des Architektenberufs. Dieses Fachwissen gilt es, im Erneuerungsprozess einzubringen. Die Beispiele von Le Corbusier und Aalto zeigen: Es geht um die architektonische Qualität. Nimmt man die Bestrebungen der Energiestrategie ernst, müssen heute erstellte Bauten hohen städtebaulichen und architektonischen Ansprüchen genügen, um damit die Lebensdauer von Bauten zu verlängern. Hier decken sich die Anliegen des Denkmalschutzes mit jenen der Energiestrategien.
Le Corbusier realisierte 1929 für Charles de Beistegui einen Dachaufbau mitten in Paris als Villa im Grünen. Appartement und Dachgärten werden mit hohen Mauern vor dem Lärm der Stadt geschützt. Le Corbusier nutzte die Lage auf dem Dach für die Verwirklichung eines Bauprogramms, für das im Stadtzentrum von Paris kein Platz mehr war. Weder die Farbigkeit der Fassaden noch die Fensterformate folgen dem darunterliegenden Bau, einem typischen Pariser Wohnhaus an der Avenue des Champs-Elysées. Vielleicht liess sich Alvar Aalto vom Appartement de Beistegui inspirieren, als er 1965 auf dem 15-geschossigen Wohnturm im Luzerner Schönbühlquartier eine Landhaus attika für den Landbesitzer plante. Auf dem Hochhausdach hat der finnische Architekt für den Eigentümer ein ausladendes Landhaus mit Dachgarten, mehreren Terrassen und spektakulärer Sicht in die Berge verwirklicht. Für den Eigentümer ergab das Projekt einen doppelten Nutzen: Park und Herrschaftssitz konnten für eine Bebauung freigegeben werden, ohne dass die Familie auf ihren Anspruch auf einen Landsitz zu verzichten hatte. Obwohl Le Corbusiers Dachvilla und auch Aaltos Landhausattika einen Platz in der Architekturgeschichte einnehmen, bleiben viele zeitgenössische Dachausbauten unbeachtet. Zugeständnisse an die Statik, die Baugesetze oder die Brandschutznormen führen bei Aufstockungen häufig zu architektonisch nachteiligen Kompromissen. Nun bekommt der im 20. Jahrhundert aufkommende Weiterbauen am Kontext Wunsch, ganz oben zu wohnen, durch die aktuelle RaumIn Zug hat der Architekt Albi Nussbaumer 2009 ein planungsdebatte weiteren Auftrieb und stellt die Architek- Eckgebäude mit einem zweigeschossigen Dachaufbau ten vor neue Herausforderungen. neu ausgebaut. Das Projekt steht beispielhaft für den Umgang mit einem historischen Bau innerhalb einer gewachsenen Stadtstruktur, hier in einem Gründerzeitquartier. Massgeschneiderte Lösungen gesucht Die hohe Akzeptanz der Siedlungsentwicklung nach Bauten der Jahrhundertwende sind besonders anfällig innen verführt zum radikalen Vorschlag, alle Gebäude in bei energetischen Sanierungen. Die charakteristische der Schweiz um ein Geschoss zu erhöhen. In Genf wurde Fassadengestaltung lebt von vielen Details, die sich nicht dazu eine Gesetzesanpassung mit einer Volksabstimmung imitieren lassen. Auch die Fenster sind wesentlich für den durchgesetzt. Aufstockungen und die damit verbundene Gebäudeausdruck und können nicht ohne Verlust ersetzt
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werden. Die Gliederung des Baukörpers hingegen lässt ein Weiterbauen zu. Wie das Beispiel in Zug zeigt, wertet die zeitgenössische Architektur im Dachausbau den Bauzeugen mit einer neuen Attika sogar auf. Charakteristisch für den Eingriff ist das mit Streckmetall verkleidete Dachvolumen mit seinen prägnanten Lukarnen. Das Kupferdach wird sich noch der Farbigkeit der benachbarten Dächer annähern. Der Aufbau folgt der Kontur des ehemaligen Dachs, das demontiert und durch eine Holzkonstruktion ersetzt wurde. Mit dem Dachumbau ist nach einem anderen Gesamtausdruck gesucht worden. Heute behauptet sich das sichtbar modernisierte spätklassizistische Gebäude mit Baujahr 1903 gerade wegen seines Aufbaus sehr selbstbewusst an der Nahtstelle zwischen Neustadt und einem Gewerbequartier, dem der Eckbau weiterhin zugeschrieben werden kann. 28 Prozent respektive 1,1 Millionen Objekte des Gesamthäuserbestands der Schweiz wurden zwischen 1960 und 1980 erstellt ; in einer Zeitspanne also, in der das Thema Energiehaushalt an Aufmerksamkeit gewonnen hatte. Bei zahlreichen dieser Bauten stehen nun Sanierungen an, die wegen der sparsamen Bauweise besonders tiefgreifend ausfallen. Noch bevor die Bauten der Nachkriegszeit Geschichte werden, sind sie bereits entsorgt. Unter dem Aspekt der energetischen Sanierung wird den etwas biederen und deshalb unliebsamen Siedlungen aus den Nachkriegsjahren gerne ein ‹ moderner Anstrich › verliehen, was einer Tilgung der Architekturgeschichte gleichkommt. Doch bei eingehender Betrachtung sind viele energetische Sanierungsprojekte wenig effektiv, wie eine Studie der Denkmalpflege Basel über die nachhaltige Siedlungsentwicklung am Beispiel der Genossenschaft ‹ Zum Blauen › ergeben hat. Bei der 1952 erstellten Siedlung wurden verschiedene Sanierungsmodelle nach wirtschaftlichen, energetischen und sozialen Kriterien miteinander verglichen. Mit einem verblüffenden Resultat: Das denkmalpflegerisch vertretbare Szenario ‹ Instandsetzung › schnitt aus ökologischen Gründen besser ab als das Szenario ‹ Ersatzneubau ›. Indem auf den Erhalt der Bauten und einen moderaten Ausbau der Dachräume geachtet wurde, blieben auch die Anliegen der Denkmalpflege erfüllt.
ment der beauftragten Architekten lässt sich der Erhalt der wertvollen Bauten dieser Epoche nicht durchsetzen. Für die Luzerner Schärli Architekten stellte sich 2009 die Aufgabe, bei einem vom eigenen Büro in den Sechzigerjahren errichteten Parkhaus die bestehende Aufstockung zu ersetzen, um zusätzlichen Wohnraum mitten in der Stadt zu schaffen. Die Lage an der stark befahrenen Hauptstrasse lässt die Wohnnutzung im Dachgeschoss zu. Das Flachdach des zwischen der Zürichstrasse und der Fluhmattstrasse in den steil ansteigenden Hang gebauten Volumens wird von der Rückseite erschlossen, so dass das Parkhaus nicht verändert werden musste. Von der Zürichstrasse her erscheint die erneuerte Aufstockung nur als kleine Zutat auf das mächtige Volumen gesetzt. Die in Rippen aufgelöste Fassade bildet einen gut proportionierten Gebäudeabschluss, der auch farblich in Einklang mit der bestehenden Glasfassade steht. Es ist den Architekten gelungen, auf selbstverständliche Weise und ohne auffallende Gesten die Projektidee des Ursprungsbaus weiterzuentwickeln. Der respektvolle Umgang mit dem exponiert im Stadtkörper liegenden Gebäude trägt wesentlich zu einer qualitätsvollen Stadtentwicklung bei, zudem in einem Quartier, das unter der Lärmbelastung leidet. Als Beispiele stimmen die hier dargestellten Um- und Erweiterungsprojekte zuversichtlich. Den Fachleuten ist es bei beiden Projekten gelungen, auf die spezielle Charakteristik der bestehenden Gebäude einzugehen und auf deren städtebauliche Lage mit geeigneten Gestaltungsmitteln zu reagieren. Doch sind diese und ähnliche Beispiele leider die Ausnahme: Zahlreich sind die Projekte, die das Gegenteil beweisen, indem mit unpassenden Aufbauten die Objektqualitäten vernichtet werden. Solche Projekte tragen nicht zur Nachhaltigkeit bei und dürfen nicht durch pauschale Forderungen gefördert werden. Auch Kulturobjekte sind eine Ressource, mit der es sorgfältig umzugehen gilt. Dies hat nicht nur für geschützte Bauten zu gelten, sondern auch für jene Bauten, die in den Inventaren verzeichnet sind. Die Denkmalpflege und die Architekten haben sich dieser Herausforderung zu stellen. Energetische Sanierungen müssen zu qualitätsvollen und auf Langlebigkeit ausgelegten Lösungen führen. Dafür sollen den Architekten baugesetzliche Spielräume für angemessene Lösungen geöffnet und der DenkmalArchitekten sind gefordert In der Schweiz stehen weder alle bedeutenden Archi- pflege mehr finanzielle und personelle Mittel zur Verfütekturobjekte des 20. Jahrhunderts unter Schutz, noch gung gestellt werden, um die Ausbauprojekte zu begleiten. sind alle in Bauinventaren erfasst. Heimatschutz und Das ist der Auftrag der Politik, will sie einen wirksamen Denkmalpflege rufen deshalb zu einem besonnen Um- Beitrag zur Baukultur und somit zur Energiestrategie 2050 gang mit den jüngeren Bauzeugen auf. Ohne das Engage- leisten. Gerold Kunz ist Denkmalpfleger des Kantons Nidwalden.
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Wohnen auf einem Parkhaus aus den Sechzigerjahren an stark befahrener Lage: qualitätsvolle Stadtentwicklung ohne auffallende Gesten.
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Der Gemeinschaftsraum der Clusterwohnung an der Zürcher Langstrasse zeigt, was unterm Dach möglich ist.
Verdichtung nach oben Das Aufstocken von Stadthäusern schafft mehr zentralen Wohnraum. Eine Zürcher Architektin nutzt das, um neue Wohnformen zu testen. Text: Julia Hemmerling
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ehemaliges Arbeiterquartier und von Durchmischung ge prägt. Heruntergekommene Wohnhäuser, Bars und Clubs mit ihrer teilweise noch immer sichtbaren Vergangenheit als Striplokal oder Bordell, aber auch die Gegenwart sol Wie viele Bauten im Zürcher Kreis 4 war das Haus Lang cher Etablissements prägen den Charakter des Ortes. strasse 134 marode. Die Architektin und Projektentwick lerin Vera Gloor begann 2008 mit der Planung. Abriss und Privat und gemeinsam Neubau schienen unnötig, teuer und logistisch schwer reaUm durch die Aufstockung günstigen Wohnraum zu lisierbar, eine Sanierung war jedoch umso dringlicher. Le schaffen, hatte die Architektin anfangs die Idee, vier ein diglich das Dach musste vollständig erneuert werden, was zelne, auf ein Minimum reduzierte Wohnungen zu bauen, schliesslich einen weiteren Gedanken mit sich brachte: die je eine Ecke des Hauses besetzen sollten. Da das Bau ein Geschoss zu ergänzen. Das Aufstocken in innerstädti gesetz Wohnräume allerdings nur auf der dem Lärm ab schen Vorzugslagen bietet die Möglichkeit zu verdichten gewandten Seite zulässt, entstanden die vier Wohnungen ohne Abriss- und Neubaukosten oder weiteren Flächen schliesslich gebündelt in einer: als Clusterwohnung. Eine Clusterwohnung besteht aus kleinen Einzelwoh verbrauch. Daneben trägt es jedoch oft unweigerlich zur Gentrifizierung des Ortes bei. Der Prozess ist bekannt: nungen. Diese teilen sich einen gemeinsamen Koch-, EssKünstlerinnen, Migranten und Studierende gestalten ein und Aufenthaltsbereich. Die Einheiten sind autonom – bis oftmals heruntergekommenes Quartier zu einem Szene zu einem gewissen Grad. Im Büro der Architektin diskutier viertel. Das Aufwerten führt zu attraktiven Wohnflächen – te man: Wie viel Gemeinschaft braucht das Wohnprinzip ? vor allem in den obersten Geschossen mit Ausblick und Wie viel Privatheit verträgt es ? Ein gewisser Zwang zur Be Dachterrasse –, höheren Mieten und schliesslich liquide gegnung schien notwendig, sonst würde aneinander vorren Bewohnern. Die vorherige, das Quartier belebende beigelebt. Resultat der Diskussion ist die Erschliessung Bevölkerung kann sich solche Wohnungen nicht mehr leis der Wohneinheiten über einen zweigeschossigen Gemein ten, auch der Charme von abbröckelndem Putz und schief schaftsraum mit Galerie. Die vier 34 bis 38 Quadratmeter hängenden Fensterläden geht verloren. Der Kreis 4 ist ein grossen Räume verteilen sich dadurch auf den beiden →
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Auch die Terrasse hoch über Zürichs Kreis 4 gehört zur Dachwohnung.
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Oberes Geschoss der Aufstockung.
Dachterrasse
Obergeschoss
Unteres Geschoss der Aufstockung.
Umbau und Aufstockung Stadthaus, 2011 Langstrasse 134, Zürich Bauherrschaft: ZH Immobilien, Zürich Architektur: Vera Gloor, Zürich Mitarbeit: Jürg Niedermann, Christian Keeve, Nadja Zürcher Bauleitung: Christian Keeve Bauingenieure: Schnetzer Puskas Ingenieure, Zürich Bauphysik: Bauphysik Meier, Dällikon Auftragsart: Direktauftrag Gesamtkosten ( BKP 1 – 9 ): Fr. 3,33 Mio. Baukosten ( BKP 2 / m³ ): Fr. 835.—
Querschnitt
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Querschnitt vor Umbau und Aufstockung.
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Dachaufbau 1 Ziegeldeckung 2 Konterlattung und Unterdachfolie 3 Holzfaserplatte 4 Mineralwolle ( 18 cm ) 5 PE-Folie und Lattung 6 Gipsfaserplatten gespachtelt
Das Haus von 1892 vor dem Umbau.
Neu, aber doch Teil des Alten: die Aufstockung des städtischen Hauses.
→ Etagen und liegen zum Hof. Ihr Ausführungsstandard entspricht dem von getrennten Wohnungen, im Schall schutz wie auch in der Ausbildung der Wohnungstüren. Während jede Einheit ihr eigenes Badezimmer hat, wurde zwecks Gemeinschaft auf separate Teeküchen verzichtet. Das Prinzip des Clusterwohnens pendelt sich zwi schen eigener Wohnung und Wohngemeinschaft ein. Die Bewohner leben für sich und in Gemeinschaft zugleich. Die privaten Einheiten bieten genügend Individualraum und Rückzugsmöglichkeiten, der gemeinsame Wohnraum Platz für gemeinschaftliche Aktivitäten. Durch dieses Prin zip kann der teure Wohnraum relativ günstig an mehrere Einzelverdiener vermietet werden. In der Aufstockung an der Langstrasse 134 wohnen seit 2011 eine Kindergärtne rin, ein Schlosser, ein Manager und Pianist und ein Physi ker im Alter von dreissig bis fünfzig Jahren. Für die vier hat sich das Prinzip der ‹ Erwachsenen-WG › bewährt: Erst jetzt, drei Jahre nach Bezug, stand der erste Mieterwechsel an. Die bisherigen Hausbewohner hat die Sanierung vertrie ben, trotz des Versuchs, die Kosten niedrig zu halten. Das stadtbekannte ‹ St. Pauli › war bereits Ende 2008 ausgezo gen. Was soll auch ein von seiner verruchten Vergangen heit lebender Club in saniertem Kleid ? Der Umfang der Aufstockung ist durch statische und konstruktive, aber auch baurechtliche und denkmalpfle gerische Aspekte bestimmt. Nicht der Inhalt, die Nutzung des Raums hat die Form, sondern die Form den Inhalt be stimmt. Die Wohnform des Clusters kannte man in Zürich bei Genossenschaftsprojekten wie dem ‹ Karthago › und
dem ‹ Kraftwerk1 ›, später weitergeführt im ‹ Kraftwerk1 Heizenholz ›. Ein erst kürzlich aufsehenerregendes Bei spiel ist zudem die ‹ Kalkbreite ›. Vera Gloor schuf in der Langstrasse 134 vielleicht die erste ‹ Investoren-Cluster wohnung ›, teilt aber mit den Genossenschaftlern die Vor stellung, durch gemeinsames Eigentum auch als Individu um ‹ mehr › zu haben, die, laut Gloor, jedoch ( noch ) nicht in unserer Gesellschaft verankert sei. Gemeinsam statt einsam Nach der Fertigstellung 2011 war es an der Langstras se nicht leicht, Interessenten zu finden. Jeder Mieter der Clusterwohnung zahlt durchschnittlich 1600 Franken im Monat. Geld, für das man auch eine kleine, eigene Woh nung ausserhalb des Zentrums mieten könnte. Der Mehr wert ? Was bringt der Raum für gemeinschaftliche Aktivi täten, wenn er – wie da – oft ungenutzt bleibt ? Vielleicht ist nicht der physische gemeinsame Raum, sondern der men tale entscheidend: Man ist nicht alleine, kann in Kontakt treten. Der soziale Raum bringt Sicherheit und wirkt der Vereinsamung entgegen. Dass diese Aspekte für alleinste hende Senioren von Bedeutung sind, zeigt das Nachfolge projekt in der Neufrankengasse: Bereits vor Baubeginn gab es Interesse von älteren Menschen. Und auch dort gibt es genossenschaftliche Vorbilder, zum Beispiel das Wohn haus ‹ Kanzlei-Seen › in Winterthur. Vera Gloor reagiert da rauf und verkleinert die Clusterzimmer auf 30 Quadratme ter – etwa 200 Quadratmeter stehen nun nicht mehr vier, sondern fünf Bewohnern zur Verfügung.
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Mit siebzig städtebaulichen Testentwürfen suchten Winterthurer Forscher und Studierende allgemeine Erkenntnisse über Dachausbau und Aufstockung.
Die Vermessung des Dachs Seit elf Jahren forscht das Institut Konstruktives Entwerfen in Winterthur über Schrägdächer und Aufstockungen. Die interdisziplinäre Forderung lautet: Mehr Mut im Dach ! Text: Palle Petersen Pläne: Institut Konstruktives Entwerfen der ZHAW
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dichtung im grossen Gebäudebestand mit Steildach. Nach Entwurfskursen zu Aufstockungen und einem Buch über die Architektur geneigter Dächer liefert die kürzlich erschienene ‹ Studie zur Nachverdichtung im Dach innerWas für eine Arbeit ! Wochenlang scannen die Studieren- städtischer Quartiere › nun allgemeingültige Aussagen. den des Instituts Konstruktives Entwerfen ( IKE ) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Pläne Städtebaulich weiterstricken Die gewonnenen Daten bilden die erste Phase der Stuaus städtischen Archiven, digitalisieren, modellieren und rendern. Von 125 Gebäuden erstellen sie ein Datenblatt die. Gemeinsam mit den Planungsämtern von St. Gallen mit farbigem 3-D-Modell, das 50 Fragen beantwortet: Wie und Zürich sowie den Unternehmen ZZ Wancor, Velux und gross ist das Dachgeschoss, und wie verhält es sich zum Eternit wählten die Forscher vier zentrale Gebiete in GrünNormalgeschoss ? Wie viele Kubikmeter messen das Dach derzeitquartieren mit hohem Entwicklungsdruck und verund der Baukörper darunter ? Wie hoch ist der Anteil an schiedenen Siedlungstypologien. Diese sind für das StadtLukarnen, wie gross der Neigungswinkel, und wie hoch bild sensibel, haben aber wenige inventarisierte Bauten. sind die Anteile verschiedener Materialien ? Nach der Sammlung objektiver Daten folgte die zweite, « Auf harter numerischer Basis wollten wir zu allgemei- subjektive Phase. Die Studierenden modellierten siebzig nen Erkenntnissen vordringen, in Entwurfskursen gefass- Testentwürfe mit Photovoltaikkollektoren, Aufstockungen, te Vermutungen empirisch beweisen oder widerlegen », Dachfenstern, -aufbauten und -einschnitten. Anhand tyerklärt Christoph Wieser. Als damaliger Leiter des IKE be- pisierter Innenraumbilder und Perspektiven auf Fussgäntreute er bis 2013 den Forschungsschwerpunkt ‹ S chräg- ger-, Trauf- und Flughöhe diskutierten sie: Wie stark ist dach und Aufstockung ›, der vier Jahre nach der Bologna- die Auswirkung auf das Stadtbild ? In welchem Verhältnis Erklärung von 1999 gesetzt wurde. Damals hatten die Fach- steht sie zu Innenraumwirkung und Flächenwachstum ? hochschulen einen Forschungsauftrag erhalten, und die Graduell steigerten die Testentwürfe die Eingriffstiefe bis Ziegelindustrie schlug vor, das Potenzial geneigter Dächer zur städtebaulichen Sollbruchstelle, suchten den schmaauszuloten. Kurz zuvor hatte Zürich die kalten Dächer zum len Grat zwischen Wachstum und Erhalt. Christoph WieWohnen freigegeben, und die Frage lag in der Luft, wie ser erläutert drei zentrale Erkenntnisse: « Erstens ist die sich diese Flächenreserven quartierverträglich aktivieren Traufe doppelt bedeutend als architektonische Grenze lassen. Das IKE setzte damals also bewusst auf Nachver- zwischen Unterbau und Dach sowie funktional zur Ent-
Themenheft von Hochparterre, November 2014 — Umgedacht — Die Vermessung des Dachs
wässerung und als Fassadenschutz. Zweitens verändert die Aufstockung um ein Regelgeschoss mit ähnlichem Dach die Identität eines Quartiers weniger als ein starker Eingriff in eine bestehende Dachgeometrie. Drittens ist nicht die Grösse von Aufbauten entscheidend, sondern ihr Bezug zur Fassade und die Weiterführung vertrauter Elemente. Die in Zürich geltende Drittelregel der Gaubenbreite ist so gesehen untauglich und entspricht nachweislich auch nicht dem Bestand. » W
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Solartechnologie integrieren Einen neuen städtebaulichen Rahmen fordert auch 150 ˚ 150 ˚ 150 ˚ Niklaus Haller, der über architektonische Auswirkungen 150 ˚ S S S gebäudeintegrierter Solartechnologie doktoriert. Hinter Integration statt Addition: Beim Aufstockungsprojekt seiner Forschung steht das System ‹ 2Sol › des Lehrstuhls des Instituts für Gebäudetechnik der ETH Zürich sind für Gebäudetechnik der ETH Zürich. Dieses ermöglicht Photovoltaik-Thermokollektoren zugleich die Dachhaut. emissionsfreie Gebäude mit viermal schlechteren U-Werten als von Minergie-P verlangt und soll den Scheuklappenblick auf die Gebäudehülle überwinden. Das System, das den Druck auf Fassadensanierungen deutlich verrin- te Haltung, die der neuen Nutzung einen Ausdruck gibt gern könnte, basiert auf einer einfachen Erkenntnis: Die und Bezug nimmt auf die Umgebung und den ‹ Wirt ›, also Sonne liefert im Jahresverlauf genügend Energie, die bloss den Baukörper und das alte Dach. » Selbst neuartige Geogespeichert werden muss. Im System ‹ 2Sol › gewinnen da- metrien mit origami-artigen Falttragwerken seien quarher Hybridkollektoren ( Photovoltaikpaneele mit thermi- tierverträglich, wenn sie sich in Rhythmus, Proportion schen Absorbern ) im Sommer Strom und Wärme. Erdson- oder Material am Vorhandenen orientieren. « Um solche den speichern die Wärme im Boden, im Winter stellt sie Dachaufbauten zu ermöglichen, brauchen wir aber neue Begriffe und Gesetze. Nicht Zahlenspiele, sondern Einzeleine Wärmepumpe für Heizung und Warmwasser bereit. Im Gegensatz zu Wärmepumpen und Erdsonden sind betrachtungen werden der komplexen Aufgabe gerecht. » In einem der von Loeliger geleiteten Semester gab es Hybridkollektoren in der Dachlandschaft sichtbar. Weil sie im System ‹ 2Sol › unabhängig von der Himmelsrich- einen Workshop mit Behördenvertretern. Der zeigte, dass tung gute Erträge bei sechs bis dreissig Grad Neigung lie- die projektierten Aufstockungen zwar im gesetzlichen fern, glaubt Haller an Synergien mit geneigten Dachfor- Rahmen waren, aufgrund der Rücksicht auf die Nachbarmen. Kollektoren sollen nämlich nicht auf der Dachhaut bauten in der Praxis jedoch nicht bewilligt würden. Eine befestigt werden, sondern diese bilden: « Energieertrag, paradoxe Situation, denn die neue Zürcher Bau- und ZoWetterschutz und Wärmedämmung zu bündeln, ist dop- nenordnung setzt explizit auf die vorhandenen Ausnütpelt sinnvoll: Einerseits fallen unansehnliche Aufbauten zungsreserven. Strenge Regeln und eine restriktive Bewilweg, andererseits lohnen sich auch technisch suboptima- ligungspraxis könnten dazu führen, dass Grossinvestoren le, aber innenräumlich und städtebaulich überzeugende ganze Strassenzüge aufkaufen und Ersatzneubauten erGeometrien. Eine um achtzig Grad geneigte Fläche liefert stellen. Loeliger warnt: « Dieser Gefahr sollte die Stadt mubeispielsweise nur die Hälfte des optimalen Ertrags, doch tig begegnen und Aufstockungen ermöglichen. Denn was dank einheitlichem Konstruktionsaufbau ohne Ziegelde- oberhalb der Traufe passiert, ist wichtig, doch die Parzellenstruktur ist für das Stadtbild wichtiger ! » ckung lohnt sie sich trotzdem. » Der Lehrstuhl präsentierte seine Vision an der weltgrössten Photovoltaikmesse in Tokio als fiktive Aufstockung für ein Haus am Zürcher Idaplatz. Nicht zufällig erinnert die neue Haube an ein Mansarddach: Im Rahmen der IKE-Studie überprüfte Haller seine Überlegungen an den 125 Objekten und zeigte, dass die Dachfläche gewöhnlicher Stadthäuser zur Deckung des Primärenergiebedarfs ausreicht. Besonders geeignet ist das Mansarddach, denn es bietet grosse, leicht geneigte Flächen ohne Fremdteile. Jedoch müsste sich laut Haller der gesetzliche Rahmen ändern: « Die Regel ‹ 45 Grad ab Traufe › produziert fragwürdige Attikageschosse. Für mehr Nutzfläche und zur Energieproduktion passend geneigte Flächen wäre eine kreisförmige Mantellinie sinnvoller. »
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Nutzung und Bestand versöhnen Aus architektonischer Sicht ist das Spektrum möglicher Dachgestaltungen natürlich breiter. Marc Loeliger, Architekt in Zürich und Dozent am IKE, beschäftigt sich in Entwurfskursen seit Jahren mit Aufstockungen. Er glaubt an einen « listigen » Umgang mit dem Gegensatz jeder Aufstockung zwischen dem gebauten Erbe mit intakter Dachhaut und dem Bedürfnis der Wohnnutzung nach Luft und Licht, Ausblick und Aussenraum: « Mich interessiert das Sowohl-als-auch. Behörden wollen meist das alte Bild reproduzieren. Angemessener ist aber eine selbstbewuss-
Wenn Aufstockungen sich in Rhythmus, Proportion oder Material auf den Gebäudekörper und das alte Dach beziehen, ist mehr möglich als Baureglemente heute erlauben ( Masterprojekt aus dem Frühlingssemester 2009 von Sissi Küng ).
Themenheft von Hochparterre, November 2014 — Umgedacht — Die Vermessung des Dachs
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Der Ausbau ungenutzter Dachräume und das Aufstocken von Altbauten bringen uns der Energiewende und der dichten Stadt näher. Dabei gilt es allerdings, architektonische und denkmalpflegerische Folgen abzuwägen, städtebauliche und soziale Veränderungen zu bedenken. Anfang des 20. Jahrhunderts stritt man noch über die Frage: Schrägdach oder Flachdach ? Heute sind wir weiter. Hoch über der Strasse liegt nicht nur das Potenzial zur Verdichtung und zur Energiegewinnung. Da lassen sich auch spannende Räume mit eindrucksvollen Lichtstim mungen schaffen. www.zzwancor.ch, www.velux.ch