DE Aus dem Hausarrest heraus begann der russische Regisseur Kirill Serebrennikov 2018 mit der Entwicklung eines musikalischen Manifests für die Freiheit. Ausgehend von realen Akten des Widerstands gegen Systeme verschiedenster Art, wie den Pariser Studentenprotesten 1968 und der Selbstverbrennung Jan Palachs gegen den Einmarsch der Sowjets, entsteht mit BAROCCO ein Gesamtkunstwerk aus Oper, Schauspiel und Tanz. Im Mittelpunkt: Musik und Barock-Arien von Bach, Monteverdi, Händel, Rameau, Vivaldi und anderen als Triumph des exzessiv Schönen, des Besonderen und Eigenen, das in der Welt oft keinen Platz findet. Ganz im Sinn der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Barock: eine unregelmäßige, schräge Perle, die nicht in eine Kette passen will. BAROCCO ist ein Manifest für eine künstlerische Revolte gegen eine Welt, die an ihren gesellschaftlichen Zwängen zu ersticken droht.
EN Under house arrest, Russian director Kirill Serebrennikov began in 2018 to develop a musical manifesto for freedom. Setting out from real acts of resistance against various systems, such as the Parisian student protests of 1968 and Jan Palach’s self-immolation in protest against the Soviet invasion, BAROCCO is a synthesis of opera, theatre and dance. At its centre are music and Baroque arias by Bach, Monteverdi, Handel, Rameau, Vivaldi and others: the triumph of excessive beauty, that which is special and unique and rarely finds its place in the world. It takes the very original meaning of the word baroque: an irregular, crooked pearl that will not quite fit a necklace. BAROCCO is a manifesto for an artistic uprising against a world that is in danger of suffocating at hand of its societies’ constraints.
The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/barocco
Frankfurter Allgemeine Zeitung
19. / 20. / 21. Mai, 19 Uhr
Burgtheater
Deutsch und Englisch
2 Std. 15 Min.
Hinweis
Englische Übertitelung der deutschen Texte mittels Handy-App Burgtheater PROMPT.
Regie, Bühne, Kostüm Kirill Serebrennikov Komposition, Arrangements, Musikalische Leitung Daniil Orlov Mit Musik von Bach, Händel, Lully, Monteverdi, Purcell, Rameau, Stradella, Telemann, Vivaldi, Zelenka u. a. Choreografie Ivan Estegneev, Evgeny Kulagin Video Ilya Shagalov Licht Sergej Kuchar Sounddesign Sven Baumelt, Hendrik Glax Dramaturgie Joachim Lux Persönliche Assistenz Anna Shalashova Regieassistenz Ekaterina Kostiukova, Julian Hübner Mitarbeit Bühne Elena Bulochnikova Mitarbeit Kostüm, Kostümassistenz Clara Strasser Einstudierung Chor Uschi Krosch Musikdramaturgie Recherche Laurenz Wannenmacher Mit Odin Biron (Tenor, Countertenor: Künstler, Andy 5, Jan Palach), Felix Knopp (Bariton), Tilo Werner (Tenor), Svetlana Mamresheva (Sopran), Yang Ge (Sopran), Victoria Trauttmansdorff, Jovey (Tenor), Daniil Orlov (Piano), Nadezhda Pavlova (Sopran) und eine Puppe Tanz Polina Sonis, Tirza Ben Zvi, Steven Fast, Yorgos Michelakis, Davide Troiani Musik Daniil Orlov (Keyboard, Piano), Andreas Dopp (E-Gitarre), Eleni Granitza (E-Bass), Benjamin Stanko (Trompete), Niclas Rotermund (Schlagzeug), Marina Reshetova (Violine 1), Andrej Böttcher (Violine 2), Anatol Yarosh (Viola), Nariman Akbarov (Violoncello), Tair Turganov(Kontrabass) Chor Anna-Katharina Lubrich, Vanessa Zorn (Alt), Dominik Fleck (Tenor), Michael Pehle (Bass) Statisterie Anke Bautzmann, Maximilian Drehsen, Johannes Herrmann, Moritz Hübner, Helene Lange, Miriam Paustian, Iván Ruge, Linda Schnackenberg, Paul Smollich, Nele Wulf Übersetzung Übertitel Howard Fine Übertitel Isolde Schmitt
Produktion Thalia Theater (Hamburg) Koproduktion Elbphilharmonie Hamburg Mit Unterstützung von Michael Otto Stiftung und der Freunde des Thalia Theater
durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Uraufführung Moskau 2018 (Gogol Center) – Hamburg 2023 (Thalia Theater)
TÜREN IN DIE GEGENWART
Joachim Lux, Intendant des Thalia Theater und Dramaturg der Produktion über Kirill Serebrennikovs BAROCCO
Mit der schillernden Schönheit des Barock feiert Kirill Serebrennikov die Einzigartigkeit des Individuums und das Feuer der Hoffnung. „Mit der Barockmusik ist es, als wäre man in einem anderen Universum“, sagt Kirill Serebrennikov. Der russische Regisseur brennt für Musik, Oper, Schauspiel, Film und Tanz, mehr noch aber brennt er für das alle Gattungen überschreitende und verschmelzende Gesamtkunstwerk – in Opern- und Schauspielhäusern oft erträumt, doch kaum je zu sehen. Mit BAROCCO hat er genau dies umgesetzt: BAROCCO ist Musiktheater pur – und zugleich Schauspiel, Film, Tanz. Das Stück entstand 2018 für das Moskauer Theater Gogol Center, dessen künstlerischer Leiter Serebrennikov damals war, als ein Manifest für die Freiheit der Kunst, für die Schönheit des Menschen, für den Widerstand gegen die Unterdrückung der Freiheit. Doch schon die Proben mussten ohne ihn stattfinden, ebenso die Uraufführung zu Weihnachten 2018 – der Regisseur saß im politisch begründeten Hausarrest. Dennoch: BAROCCO war umjubelt und stets ausverkauft. Mehrere Versuche, die Produktion nach Hamburg einzuladen, scheiterten, zunächst an der Pandemie. Schließlich wurde Serebrennikov als Leiter des Gogol Centers abgesetzt und das Theater in seiner bisherigen Form aufgelöst.
Mittlerweile hat der Regisseur aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine Russland verlassen; seither lebt der heute 53-Jährige in Berlin und Hamburg, derzeit als Artist in Residence am Thalia Theater. Dort hat er BAROCCO nun gemeinsam mit seinem musikalischen Leiter, Daniil Orlov, weiterentwickelt.
GRAUE WIRKLICHKEIT UND DIE VERHEISSUNG
DER MUSIK
Damals in seinem Moskauer Hausarrest hatte Serebrennikov unvermutet die Schönheit und
den Schmerz des Barock für sich entdeckt –eines Zeitalters, welches das Individuum, seine Besonderheit und zugleich seine Todesnähe feierte. „Die Barockmusik war für mich etwas Neues, ganz anders als all die Spielarten der schwermütigen russischen Romantik“, sagt er. „Für mich ist sie sehr zeitgemäß, da gehen Türen zu meiner Gegenwart auf. Die Art, wie hier Emotionen ausgedrückt werden, erschien mir plötzlich vielschichtiger, ambivalenter als die nicht selten etwas simplen Handlungsverläufe traditioneller Opern – fast vergleichbar mit unserer heutigen Zeit. Seit der Postmoderne verknüpfen und überlagern wir gern mehrere Bedeutungsebenen, und die Barockmusik ist ähnlich komplex. Man kann mit dieser engelsgleichen Musik über den Tod nachdenken, über den Schmerz, über Vergeblichkeit und zugleich über die Schönheit von allem. Das Barockzeitalter und seine Musik stehen mit diesen Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten für die grundsätzliche comédie humaine.“
Auf die Frage, was es für ihn bedeutet habe, in der Isolation einer kleinen Wohnung irgendwo in Moskau monatelang nur noch Barockmusik zu hören, antwortet Serebrennikov überraschend praktisch und erzählt, wie er die Arien über einen USB-Stick gehört, wie er recht schnell die Idee zu einem Gesamtkunstwerk entworfen habe, obwohl sein Theater eigentlich gar kein Geld gehabt hätte. Hat ihn diese Musik glücklicher gemacht? „Glück oder Unglück, Traurigkeit oder Freude – das sind nicht die Kategorien. Ich glaube, dass mir diese Musik zwischen der grauen, hässlichen Wirklichkeit, mit der ich mich in den letzten Jahren auseinandersetzen musste, und der Flucht in die Phantasmagorie den Zugang zu einer ‚dritten Welt‘ geschenkt hat, zu einer Welt der Kunst und der Freiheit. Das hat mir sehr geholfen.“
BAROCK
ALS PRINZIP: DIE FEIER DES BESONDEREN
Ich wende ein, dass man angesichts seiner damals politisch wie persönlich bedrückenden Lage die Hinwendung zur Künstlichkeit des Barocks eher bizarr und exzentrisch finden könnte. Nach einer kurzen Stille holt Serebrennikov etwas aus: Das Wort „barocco“ stamme aus dem Portugiesischen und bezeichne eine Perle mit unregelmäßiger Form; sie passe nicht auf eine Schnur, sei eigenartig, schief, ein bisschen verrückt, wie ein interessanter Fehler – und beanspruche dennoch, im Zentrum zu stehen. So sei der Mensch in seiner Seltsamkeit. Er lasse sich nicht in Systeme einordnen, widersetze sich allem, was zu viel Kontrolle über sein Leben verlangt, ja, er sei – warum leugnen, was doch wahr ist – in diesem Sinne exzentrisch. So gesehen sei „barocco“ nicht nur ein Zeitalter, sondern ein Prinzip – ein Prinzip des Individualismus, wie es Gilles Deleuze entwickelt habe, gültig von Tiepolo über Andy Warhol bis hin zu David Bowie oder Grace Jones’ Pride. Wir fragen uns, was Monteverdi oder Vivaldi dazu sagen würden, verlieren uns ein wenig in Debatten über das Ornamentale und über Oscar Wilde, und kommen dann doch zum Kern zurück. „Es geht um den Kampf darum, einzigartig sein zu dürfen. Das ist der Kampf gegen ein System der Unterdrückung, wie ich es erfahren habe“, sagt Serebrennikov. „Im Barock versucht jeder Mensch, der eine ungewöhnliche, eine abweichende ‚Perle‘ ist, sich selbst als jemand zu behaupten, der ein Recht auf seine besondere Existenz hat, kurz: Es geht um Macht.“
DAS FEUER DER HOFFNUNG UND DER ZERSTÖRUNG
Die Feier des Lebens beinhaltet aber auch die des Todes. Die Moskauer Aufführung zeigte eine berühmte Szene aus Andrei Tarkowskis Film Nostalghia: Da verbrennt sich ein Verrückter zu Beethovens Freude, schöner Götterfunken – eine
ungeheuerliche Szene. Serebrennikov: „Das Motiv des Feuers spielt in der Inszenierung tatsächlich eine große Rolle. Buddhistische Mönche haben sich in Vietnam 1963 selbst verbrannt, um einen Diktator zu vertreiben (sie waren erfolgreich), Jan Palach hat sich 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz verbrannt, um gegen die Invasion der Sowjetunion zu protestieren (und ist gescheitert). Manche Menschen möchten offenbar lieber sterben, als sich selbst aufzugeben, und ertragen dafür große Schmerzen. Feuer ist Schmerz und Schönheit zugleich, es ist zerstörerisch und Vorschein von etwas Neuem. Ich will in BAROCCO davon erzählen, wie Menschen ihr Leben riskiert haben, weil sie die unverwechselbare Einzigartigkeit des Menschen nicht aufgeben wollten. Deshalb ist es für mich ein musikalisches Manifest.“
Der Form nach hingegen ist BAROCCO eine Oper ohne feststehendes Libretto, ein Musiktheater, das an einer Schauspielbühne herauskommt, ein Abend mit Arien des Barockzeitalters, eine Aufführung mit singenden Schauspieler:innen, mit dem Opernstar Nadezhda Pavlova, die noch nie an einer Schauspielaufführung beteiligt war, aber bei den Salzburger Festspielen die Donna Anna gesungen hat, mit Tänzer:innen, einem Barockmusik spielenden Streichquintett, einer Band aus dem Hier und Heute, einem Pianisten etc. pp. – ja, was ist es eigentlich?
„Die Form des Abends ist tatsächlich ungewöhnlich“, sagt Serebrennikov. „Ich wollte ein Gesamtkunstwerk schaffen, das aber zugleich ein Pasticcio ist, bei dem viele verschiedene Einzelteile etwas Neues ergeben, das es zuvor so noch nicht gegeben hat.“ Pasticcio, wende ich ein, klingt edel, ist aber, um ins banal Wörtliche abzudriften, schlicht ein Auflaufgericht der mediterranen Küche. Zugegebenermaßen schmeckt im Auflauf oft vieles besser als einzeln zubereitet,
dennoch: Ist das nicht respektlos im Umgang mit dem Werk der Komponisten? Nein, sagt der musikalische Leiter und Pianist Daniil Orlov, der am Moskauer Konservatorium und am Bolschoi studiert hat: „Das Genre des Pasticcio gibt es nicht nur schon lange, es ist sogar im Barockzeitalter entstanden. Und es existiert bis heute. Berühmt dafür ist etwa der Dirigent William Christie mit seinem Barockensemble Les Arts Florissants – er kombiniert Verschiedenes und schafft sehr organisch etwas faszinierend Neues.“
Für Hamburg entwickelten Kirill Serebrennikov und Daniil Orlov BAROCCO nun weiter, Themen fortschreibend, neues Material hinzufügend, anderes weglassend: „Es ist seither so viel passiert, und es ist natürlich etwas anderes, das Stück für ein westeuropäisches Publikum weiterzudenken. Aber das grundsätzliche Thema bleibt: Das Feuer, das Licht bringt und wärmt, aber auch Altes zum Verschwinden bringt – es lässt mich nicht los.“ Vor fünf Jahren aus Protest gegen die Unterdrückung entstanden, ist BAROCCO zugleich eine Feier der menschlichen Möglichkeiten und ihrer Unzerstörbarkeit. Und es erzählt heute, in einer neu verfinsterten Welt, von Menschen, die im Feuer verbrennen, die selbst zur Flamme werden, um eine mögliche Zukunft zu erleuchten.
Kirill Serebrennikov, 1969 in Rostow am Don geboren, gehört zu den internationalen Starregisseuren seiner Generation. Seine Inszenierungen umfassen verschiedene Genres: Theater, Opern, Ballett, Film sowie Fernsehen und werden regelmäßig zu internationalen Festivals eingeladen, u. a. zu den Wiener Festwochen, zum Festival Internationale Neue Dramatik an die Schaubühne Berlin und zum Festival d’Avignon. 2017 wurde ihm der Europäische Theaterpreis für seine Inszenierung Neue Realitäten verliehen. Serebrennikov verbindet eine enge Zusammenarbeit mit dem Moskauer Tschechow-Künstlertheater, er inszenierte dort als Regisseur, war 2011/12 stellvertretender Inten- dant und 2012 als Leiter des Studiengangs Schauspiel und Regie der hauseigenen Theaterschule tätig. Zusammen mit seinen Studenten gründete er das Siebte Studio, das Teil des Gogol-Center in Moskau wurde, welchem er von 2012 bis 2020 als künstlerischer Leiter vorstand. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Gogol-Center zu Russlands führendem Avantgarde-Theater und einem vielseitigen Zentrum für internationalen Kunstaustausch.
2017 wurde Serebrennikov wegen angeblicher Veruntreuung von Geldern verhaftet und nach jahre- langem Hausarrest 2020 zu einer dreijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. 2020 musste er die Leitung des Gogol-Center abgeben.
Trotz aller Beschränkungen war Serebrennikov weiterhin künstlerisch aktiv und hat neue, von ihm per digitaler Kommunikation geleitete Inszenierungen herausgebracht, etwa Nabucco an der Staatsoper Hamburg (2019), Decamerone am Deutschen Theater Berlin (2020) und Parsifal an der Wiener Staatsoper (2021). Kirill Serebrennikovs erste Schauspielinszenierung, die er in Westeuropa selbst zur Premiere gebracht hat, ist Anton Tschechows Der schwarze Mönch am Thalia Theater. Als sich die politische Lage durch den russischen Krieg gegen die Ukraine immer weiter verschärfte, hat Kirill Serebrennikov gegen diesen Krieg protestiert, sein Land verlassen und lebt derzeit in Deutschland. Er ist derzeit Artist in Residence am Thalia Theater und hat nach Der schwarze Mönch mit Der Wij und BAROCCO zwei weitere Inszenierungen auf die Bühne gebracht. Im August 2024 wird er mit seiner nächsten Produktion LEGENDE die Ruhrtriennale eröffnen.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Essay bereitgestellt von Thaliia Theater, Text: Joachim Lux, 2023 Bildnachweis Cover: © Fabian Hammerl Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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