DE Wie weit kann Kunst gehen? Wie weit muss sie gehen? In einem Brautkleid begibt sich die Aktionskünstlerin Pippa Bacca 2008 per Anhalter auf eine Reise von Mailand nach Jerusalem, um ein Zeichen für Frieden und Vertrauen zwischen den Menschen zu setzen. Auf ihrem Weg wird sie vergewaltigt und ermordet. Bacca und andere Künstlerinnen, die den eigenen Körper als Protest und Zielscheibe einsetzen, stehen im Zentrum des ersten Teils von Die Braut und Goodnight Cinderella. Während die brasilianische Theatermacherin Carolina Bianchi über diese Frauen referiert, beginnen die eingenommenen K.-O.-Tropfen (in Brasilien „Goodnight Cinderella“ genannt) zu wirken. Bianchi verliert das Bewusstsein und die acht Performer:innen ihres Kollektivs Cara de Cavalo übernehmen. Wehrlos und verletzlich ist sie ihnen ausgeliefert. Mit dieser weltweit diskutierten Performance legt Bianchi ihren eigenen Körper in die Waagschale.
EN How far can art go? How far does it have to go? Performance artist Pippa Bacca set out in a wedding gown to hitchhike from Milan to Jerusalem in 2008 in order to take a stand for peace and trust among people. Along the way, she was raped and murdered. The first part of The Bride and Goodnight Cinderella focusses on Bacca and other female artists who have used their own bodies as a means of protest and a target. Brazilian theatre maker Carolina Bianchi reports these women’s stories on stage while knockout drops that she has taken – in Brazil, they are known as ‘Goodnight Cinderella’ – are taking their effect. Bianchi loses consciousness and the eight performers of her collective Cara de Cavalo take over. Vulnerable and defenceless, she is utterly exposed to them. Bianchi deploys her own body in a performance that has triggered debate around the globe.
The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/die-braut-und-goodnight-cinderella
Joëlle Gayot, Le Monde
18. / 19. / 20. Mai, 20 Uhr
Halle G im MuseumsQuartier
Portugiesisch
Deutsche und englische Übertitel
2 Std. 30 Min.
Konzept, Text, Dramaturgie, Regie Carolina Bianchi Mit Alitta, Carolina Bianchi, Chico Lima, Fernanda Libman, Joana Ferraz, José Artur, Larissa Ballarotti, Marina Matheus, Rafael Limongelli Dramaturgie, Recherche Carolina Mendonça Produktionsleitung, Tourmanagement Carla Estefan Produktionsassistenz, Bühnenleitung AnaCris Medina Technische Leitung, Sound Design, mit Musik von Miguel Caldas Bühne Luisa Callegari Licht Jo Rios Video Montserrat Fonseca Llach Video Karaoke Thany Sanches Kostüm Tomás Decina, Luisa Callegari, Carolina Bianchi Künstlerische Assistenz, Künstlerische Beratung Tomás Decina Fotografie
Christophe Raynaud de Lage Internationales Management, Produktion Metro Gestão Cultural (Brasilien)
Mitarbeit Körper- und Sprachtraining Pat Fudyda, Yantó Theorie und Dramaturgie im Dialog Silvia Bottiroli Übersetzung Übertitel Nicky Garcia (Deutsch), Larissa Ballarotti, Luisa Dalgalarrondo, Joana Ferraz, Marina Matheus (Englisch) Übertitel Montserrat Fonseca Llach
Produktion Metro Gestão Cultural (Brasilien) Koproduktion Festival d’Avignon, KVS Brussels, Maillon Théâtre de Strasbourg – Scène européenne, Frascati Producties (Amsterdam) Mit Unterstützung von Fondation Ammodo (Amsterdam), DAS Theatre (Amsterdam), 3 Package Deal of the AFK – Amsterdams Fonds voor de Kunst, Over het IJ Festival (Amsterdam), Theater der Welt, Kaaitheater (Brüssel)
durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Uraufführung Juli 2023, Festival d’Avignon
Zur Intertextualität der Performance: Der Text beruht mitunter auf Überschneidungen von Arbeiten anderer Autor:innen. Carolina Bianchi y Cara de Cavalo hebt die Mitarbeit der Schauspielerin Alita in ihrem Text im zweiten Teil der Performance hervor, außerdem Nathalie Léger und ihr Buch The White Dress, Texte von Saidiya Hartman, die Arbeit der Anthropologin Rita Laura Segato, die Bibliografie von Roberto Bolaño und Gespräche mit dem Künstler Renan Marcondes.
CAROLINA BIANCHI ÜBER SINNLICHKEIT, TABUS UND DIE UNMÖGLICHKEIT VON HEILUNG
Carmen Hornbostel Die Braut und Goodnight Cinderella ist der erste Teil der Trilogie Cadela Força. Übersetzt wird dieser Titel mit „Bitch Force“ / „Schlampenpower“. Im ersten Teil der Performance – einer Art Theatervortrag –, sprechen Sie über Frauen, die mit ihrer Kunst den eigenen Körper einem Risiko aussetzen. Sie greifen dafür das ausschlaggebende Beispiel von Pippa Bacca auf, die im Zuge ihrer Performance vergewaltigt und ermordet wurde. Femizide werden derzeit in vielen Ländern breit diskutiert, auch in Österreich. Was ist der Ursprung Ihrer Recherche? Warum beginnen Sie die Trilogie, die dem Anschein nach einen empowernden Titel hat, mit einer Performance über Gewalt gegen Frauen?
Carolina Bianchi Ich finde es sehr interessant, den Titel als empowernd zu verstehen. Und es ist interessant, wie dieses Wort in den letzten Jahren überall in feministischen Slogans vorkommen musste. Für mich persönlich hat dieser Titel nichts mit Ermächtigung zu tun, im Gegenteil. Vielleicht kann man ihn so lesen, weil das Wort Kraft darin vorkommt, vielleicht entsteht so diese Deutung. Die Kraft entsteht hier jedoch aus einer völlig ohnmächtigen Perspektive, die mit dem Gefühl zu tun hat, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. „Cadela Força“ sind zwei Wörter, die nebeneinanderstehen, ohne sich gegenseitig zu adjektivieren oder zu ergänzen. Sie
können Freude oder auch großes Unbehagen hervorrufen. Als Frau finde ich es schwierig zu sagen, ich hätte in Situationen Macht ausgelebt, oder – sofern ich es erlebt habe – habe ich es gespielt. Für mich ist die Vorstellung von Macht etwas völlig Patriarchales. Ich habe mit dieser Recherche begonnen, weil ich in den letzten Jahren wie besessen wurde von den Folgen sexueller Gewalt. Und als Künstlerin habe ich gemerkt, dass ich mich ständig fragte, wie die Kunst und ihre verschiedenen Sprachen mit dieser Gewalt umgehen. Die Performance-Kunst, vor allem die von Frauen, hat diesen Erfahrungsaspekt – den Körper als Medium – in die Diskussion über Gewalt miteinbezogen. Und so erkannte ich, während ich den ersten Teil der Trilogie erarbeitet habe über meine Obsession mit Pippa Baccas Geschichte – die während ihrer Performance ermordet wurde –, dass es für meinen Körper wichtig war, die Performance zu durchleben. Vor allem etwas, das eine gewisse Verletzlichkeit hervorruft, nicht nur für meinen Körper selbst, sondern auch für das erzählerische Erlebnis.
C.H. In der Vorstellung versetzen Sie sich in einen Zustand der Bewusstlosigkeit, indem Sie eine Droge einnehmen, die dafür bekannt ist, bei Vergewaltigungen verwendet zu werden. Im Theater gibt es jedoch eine Art ungeschriebenen Vertrag, der besagt, dass das Publikum weiß,
dass die Bühne ein Safe Space ist, dass es nicht aus öffentlicher Verantwortung heraus eingreifen muss, um jemandem in Not zu helfen. Mit anderen Worten: Sie stellen diese „Vereinbarung“ in Ihrer Performance in Frage, indem Sie Ihren eigenen Körper in einen offensichtlich verletzlichen Zustand versetzen. Was beabsichtigen Sie mit diesem künstlerischen Statement? Wie weit kann, wie weit muss Kunst gehen? Was kann uns ein bewusstloser Körper sagen, was uns einer, der bei Bewusstsein ist, nicht sagen kann?
Denn noch immer ist diese Art, sehr offen über sexuelle Gewalt zu sprechen, in unserer Gesellschaft ein großes Tabu. Wie wir uns diese Geschichten anhören oder wie wir sie vermeiden. Ich glaube, dass das Erleben, das über die Grenzen des Diskurses hinausgeht, eine Sprache hervorbringt, wenngleich eine verschwommene.
C.B. Meine Absicht war, eine Performance auf der Bühne im Rahmen einer Theaterproduktion zu erleben und diese beiden spezifischen Zeitbegriffe einzubeziehen: die Zeit der Performance (die mit der Zeitmessung unserer Realität zu tun hat) und das theatralische Timing (welches gespenstisch und verschwommen ist) koexistieren hier auf seltsame, komplexe Weise. Denn ein Gespräch über Vergewaltigung ist immer unangenehm und vielschichtig, sowohl für den:die Sprecher:in als auch für den:die Zuhörer:in. Die Geste der Einnahme dieses Vergewaltigungstrunks, der in Brasilien als „Boa Noite Cinderela“ bekannt ist, ist in gewisser Weise auch das Erleben der Grenzen einer Erzählung. Während sich Pippas Geschichte im Laufe meines Vortrags im ersten Teil der Performance entspinnt – und wir kennen das Ende der Geschichte von Anfang an – komme ich dem Einschlafen,
dem Verlieren meines Bewusstseins immer näher, was bedeutet, dass ich mich an diesem anderen Ort der Gegenwart aufhalte. Und das ist eine Art Verlust für die Zuschauenden und natürlich auch für mich selbst, weil ich auf gewisse Weise mein eigenes Stück verliere, dieses einzigartige Theatererlebnis jeden Abend. All das bringt den Vertrag aus dem Lot, den „Verantwortungsver- trag“, die Übereinkunft darüber, wie wir uns gegenüber derartigen Erzählungen positionieren, selbst wenn der Rahmen von Anfang an klar ist, als Performance-Programm. Ich erzähle dem Publikum, was passieren wird. Und selbst dann kann das, was wir empfinden, für uns völlig unerwartet sein. Denn noch immer ist diese Art, sehr offen über sexuelle Gewalt zu sprechen, in unserer Gesellschaft ein großes Tabu. Wie wir uns diese Geschichten anhören oder wie wir sie vermeiden. Ich glaube, dass das Erleben, das über die Grenzen des Diskurses hinausgeht, eine Sprache hervorbringt, wenngleich eine verschwommene.
C.H. Die Aufführung ist gleichermaßen politisch wie sinnlich. Wie groß ist die Macht der Kunst im Vergleich zu Aktivismus, Politik oder Bildung?
C.B. Ich bin nicht in der Lage, die Kunst mit diesen anderen Aspekten zu vergleichen, noch möchte ich das tun. Ich weiß nicht, wie man die Macht der Kunst messen kann. Ich will es auch nicht, denn ich empfinde es als absolut ungerecht, der Kunst diese Perspektive aufzudrücken, wie bei einem Pferderennen, um zu sehen, was der effizienteste Weg ist, die Welt vor der Barbarei zu retten. Ich denke, meine Arbeit ist in dem Maße politisch, wie es das Theater als Sprache sein kann. Aber ich bevorzuge Sinnlichkeit als ein Wort, in dem ich meine Arbeit erkenne. Sinnlichkeit hat keinen Zweck. Sie ist sensorisch, sie ist poetisch, sie ist spürbar, so wie Worte es sind. Ich bin nicht an einem Theater interessiert, das Lösungen für Probleme präsentiert oder dem Publikum Beschwichtigungen
bietet. Ich interessiere mich für ein Theater, das am Abgrund eines großen Problems schwebt, inmitten völliger Dunkelheit – zwischen Furcht, Begeisterung und Geheimnis. Ich würde also sagen, dass ich an diesem Begriff der Sinnlichkeit total interessiert bin. Und natürlich kann das auch als politischer Gedanke funktionieren.
C.H. Wie war für Sie und Ihre Theatergruppe der Arbeitsprozess an der Performance, bei der Sie Ihren Körper riskieren und Ihre Gruppe gleichzeitig eine große Verantwortung übertragen bekommt? Und wie hat sich die Aufführung seit der Premiere entwickelt?
C.B. Ich glaube, in Die Braut und Good Night Cinderella geht es viel um Freundschaft. Im Stück gibt es dazu einen sehr wichtigen Text, gesprochen von Marina Matheus, einer der Darsteller:innen, mit denen ich seit vielen Jahren zusammenarbeite. Sie und alle an dieser Arbeit beteiligten Personen begleiten mich seit über zehn Jahren in kreativen Prozessen. Mit Carolina Mendonça, der Dramaturgin des Stücks, verbindet mich eine lange Partnerschaft und wir haben beide zusammen über sexuelle Gewalt und ihre Folgen recherchiert. Und so ist die Zärtlichkeit und Verantwortung, mit der die Schauspieler:innen mit meinem schlafenden Körper auf der Bühne umgehen, nicht eine „gespielte Fürsorge“, sondern eine Errungenschaft aus kontinuierlicher Zusammenarbeit und Entwickelung verschiedener Produktionen im Laufe der Jahre, aus gemeinsam entwickeltem, zuverlässigen Vokabular, wodurch die Schauspieler:innen komplett zu einem Teil dieser Reise mit mir werden, und sie ihre Verantwortung verstehen und in der Lage sind, mit mir zusammen Momente der Freude beim gemeinsamen Theatermachen zu erleben. In diesem Sinne ermöglicht uns das Touren mit der Performance, unsere Beziehung zu dieser Arbeit zu vertiefen. Gemeinsam entdecken wir auf dieser dantesken Reise immer
wieder neue Dinge. Und diese Entwicklung wird sich auf die nächsten Kapitel der Trilogie auswirken, die in den nächsten zwei Jahren Premiere haben werden. Und so ist die Zärtlichkeit und Verantwortung, mit der die Schauspieler:innen mit meinem schlafenden Körper auf der Bühne umgehen, nicht eine „gespielte Fürsorge“, sondern eine Errungenschaft aus kontinuierlicher Zusammenarbeit (…).
C.H. In der Aufführung sehen wir eine Projektion mit „Fuck Catharsis“. Katharsis ist ein Wort mit vielen Bedeutungen. Ursprünglich kommt es aus dem Griechischen und bedeutet „Reinigung“. Der Katharsis-Theorie nach reduziert das Sehen und Erleben von Aggressionen im Theater die aggressiven Impulse im Publikum. Diese Interpretation wurde später als ein Konzept kritisiert, das dem Transformationspotenzial widerspricht. Was meinen Sie in der Performance mit „Fuck Catharsis“?
C.B. Ich denke, Katharsis ist ein sehr schönes Konzept im Theater, in der Tragödie. Dieses Konzept steht in engem Zusammenhang mit den Dionysos-Festen, einer Läuterung der Tragödienzuschauer:innen von ihren Emotionen durch das Erleben von Schrecken oder Mitleid. Was ich mit dieser Formulierung in meinem Stück vorschlage, ist, dieses theatralische Konzept mit der Tatsache zu verlinken, dass es für mich als Opfer einer Vergewaltigung keine Läuterung, kein Reinwerden gibt. Klar, wir werden Wege finden, damit umzugehen. Aber diese ganze Philosophie der Heilung, von der wir heutzutage so viel hören, diese Idee von Überwindung – die bei den Held:innengeschichten so präsent ist – macht hier keinen Sinn. Und ich weiß, dass das für viele Menschen sehr schwer zu verdauen ist. Und vielleicht ist es ein wichtiger Schritt, dieses Unbehagen auszuhalten. Und zu sehen, was passiert.
Carolina Bianchi ist eine brasilianische Theatermacherin, Autorin und Performerin. Sie lebt derzeit in Amsterdam und hat kürzlich das DAS Theatre Masterprogramm abgeschlossen. In ihrer Theat- erarbeit sind Theorie und Praxis untrennbar miteinander verbunden. Ihre Arbeiten nehmen die Krise als Ausgangspunkt, um eine Auseinandersetzung mit Gender und sexueller Gewalt sowie Kunstgeschichte anzustoßen. Ihre Inszenierungen sind eine Kombination von Referenzen aus Literatur, Film und bildender Kunst, voller musikalischer Mashups und sie sind eine ständige Kon- frontation mit allem, was absolute Wahrheit zu sein scheint. Sie leitet das Kollektiv Cara de Cavalo (übersetzt „Pferdegesicht”) aus São Paulo, mit dem sie die Cadela Força Trilogie entwickelt (2022 – 2025), sowie die Stücke O Tremor Magnífico (Das herrli- che Beben, 2020), LOBO (Wolf, 2018), die Outdoor-Performance Quiero hacer el amor (Ich will Liebe machen, 2017), und die Lecture-Performance Mata-me de Prazer (Töte mich mit Vergnügen, 2016) erarbeitete.
Carolina Bianchis Arbeiten werden nun erstmals 2024 in Wien gezeigt.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde schriftlich und auf Englisch am 16. April 2024 von Carmen Hornbostel (Dramaturgie Wiener Festwochen | Freie Republik Wien) geführt. Übersetzung Almut Mölk Bildnachweis Cover: © Christophe Raynaud de Lage Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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