DE Ein Tisch, ein Sessel, eine Flasche. Und ein Glas Wein, das der Kellner dem Gast serviert. So die Ausgangssituation. Doch wer bedient hier wen? Oder wer dient wem? Wer bezahlt am Ende die Rechnung oder macht einen Strich durch die des anderen? In der Arbeit des britischen Autors und Regisseurs Tim Etchells, die er ursprünglich mit Bertrand Lesca und Nasi Voutsas in Avignon entwickelte, werden Machtdynamiken genauso erbittert wie humorvoll in zahlreichen Variationen derselben Szene durchgespielt. Mit Tisch, Sessel und Flasche lädt die Freie Republik Wien in Kooperation mit dem Volkstheater in den Bezirken im Frühling und Herbst zur Slapstick-Komödie in alle 23 Wiener Bezirke: von der Tschauner Bühne in Ottakring bis zum Fußballklub in Floridsdorf. Denn Macht betrifft uns alle: Sie kann ein Albtraum, aber auch urkomisch sein.
EN A table, a chair, a bottle. And a glass of wine, which a waiter is serving to a guest. That is how it starts. But who is serving who? Or who is serving whom? Who will foot the bill at the end of the day? Who will up the ante? In the work of British author and director Tim Etchells, which he originally developed with Bertrand Lesca and Nasi Voutsas in Avignon, power dynamics are played out both acerbically and humorously in countless variations of the same scene. With a table, chair and bottle, the Free Republic of Vienna, in cooperation with the Volkstheater in den Bezirken, is inviting audiences in all 23 districts of Vienna to see the slapstick comedy during spring and autumn, from Tschauner Bühne in Ottakring to the football club in Floridsdorf. Join us – after all, everyone has to deal with power, and that can be a nightmare or insanely funny.
19. Mai – 23. Juni
an 15 Spielorten in den Bezirken
Deutsch ca. 70 Min.
Regie Tim Etchells Text Tim Etchells, Bertrand Lesca, Nasi Voutsas Mit Frank Genser, Christoph Schüchner Mitarbeit Regie deutschsprachige Version Johanna Mitulla Regieassistenz Birgit Allesch
Abendspielleitung Pia-Maria Harr Übersetzung Astrid Sommer Musik Graeme Miller Bühne Richard Lowdon
Licht Alex Fernandes
Produktion Originalversion Festival d’Avignon Koproduktion Originalversion GRRRANIT Scène nationale de Belfort, Centre cultu rel André Malraux Scène nationale de Vandoeuvre-lès-Nancy, Théâtre de la Manufacture CDN Nancy Lorraine, CCAS les activités sociales de l’énergie, le Théâtre Silvia Mon fort (Paris), La Vignet te Scè ne conventionnée Université Paul-Valéry (Montpellier), Théâtre du Bois de l’Aune (Aix-en-Provence), Théâtre de Choisy-le-Roi Scène conventionnée d’intérêt national art et création pour la diversit é li nguistique, Théâtre Alibi (Bastia), The Coronet Theat re (London) Residencies Originalversion Centre social Espace Pluriel-salle de la Barbière (Avignon), The Coronet Theatre (London), Battersea Arts Centre (London), Toynbee Studios (London) Die deutschsprachige Version ist ein gemeinsames Projekt von Wiener Festwochen | Freie Republik Wien und Volkstheater in den Bezirken
durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien und Team Volkstheater in den Bezirken
Uraufführung (L’Addition) Juli 2023, Festival d’Avignon Premiere deutschsprachige Version (Die Rechnung)
Mai 2024, Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Die Rechnung / L’ Addition von Tim Etchells bildet den Auftakt der Reihe Volksstück / Pièce Commune, die die Freie Republik Wien gemeinsam mit dem Festival d’Avignon produziert: Wander- stücke mit maximal zwei Schauspieler:innen und kaum Technik, die jedes Jahr von einer:m anderen Künstler:in inszeniert und in Gemeindezentren, auf Fußballplätzen, Freilichtbühnen etc. aufgeführt werden. Volkstheater auf höchstem Niveau, Welttheater für alle.
The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/die-rechnung
IM GESPRÄCH MIT TIM ETCHELLS
L’Addition ist ein Projekt, das Sie für das Festival d’Avignon zusammen mit dem britisch-französischen Performance-Duo Bert & Nasi entwickelt haben. Die Rechnung ist die deutsche Adaption des Stücks, das nun ein Jahr später mit Schauspielern des Volkstheaters Wien neu inszeniert wurde. Können Sie den Entwicklungsprozess des Stücks beschreiben und erzählen, wie sich diese Neufassung auf das Stück ausgewirkt hat?
Tim Etchells Ich habe Bert und Nasi vor einigen Jahren kennengelernt. Ich habe ihre Aufführung Palmyra gesehen und war sehr beeindruckt. 2020 erhielten sie den Forced Entertainment Award, der jungen Künstler:innen helfen soll, ihre Arbeitsweise und den Kontext dafür zu entwickeln. Im Zuge dieses Prozesses waren wir also bereits im Gespräch. Für das Festival d’Avignon habe ich sofort an die beiden gedacht und sie gebeten, bei meinem Projekt, das aus einer sehr einfachen Idee, ein paar Textzeilen und dem Entwurf einer Situation entstand, mitzumachen. Wir haben gearbeitet, so wie ich es immer tue, sehr improvisiert, wir trafen uns zu den Proben, die ich auf organische Art und Weise anleitete. Dieser Ansatz entsprach auch der Arbeitsweise von Bert und Nasi, und so gestaltete sich der erste Teil des Prozesses als sehr spielerisch und offen. Wie üblich änderte sich unsere Herangehensweise jedoch im Laufe der Zeit. Wir nahmen das improvisierte Grundmaterial und meißelten daraus ein Skript, eine Partitur, eine Choreografie. Es war also eine Mischung –am Anfang viel Freiheit und später machten wir Nägel mit Köpfen! Wenn man das geschafft hat, wenn man diesen rigiden mechanischen Fixierungsprozess hinter sich gebracht hat – dann kann der Spaß wieder von vorne beginnen.
Der Ausgangspunkt der Arbeit an einer neuen Fassung für Wien war das Skript (in der Über-
setzung von Astrid Sommer) und die Partitur, wobei wir im Wesentlichen auf Videos von früheren Aufführungen zurückgriffen. Gemeinsam mit Frank Genser und Christoph Schüchner (Schauspieler des Volkstheater) und Johanna Mitulla, die mit mir gemeinsam Regie führte, begannen wir sofort damit, die Mechanismen festzulegen, für den Text und die Struktur Regeln zu finden. Das ist harte Arbeit, aber wenn das geschafft ist, kann das spielerische Erkunden beginnen. Chris und Frank sind großartige Darsteller und sie bringen ihren eigenen Geist und ihre Energie in die Arbeit ein. Ich finde es auch unglaublich spannend, wie sich die Dinge durch den Sprachwechsel verändern – ich arbeite momentan auf Englisch, Französisch und Deutsch an dem Stück … und die Veränderungen sind faszinierend. Was mir dabei besonders Spaß macht, ist, dass ich Frank und Chris auffordere, ihrem Instinkt zu folgen und Wege zu finden, einen Moment oder eine Szene vom Stück in neue Worte zu fassen. Langsam entwickelt das Stück ein Eigenleben, was wirklich wichtig ist, auch wenn es sich stark an die Architektur und den Text anlehnt, die wir vorher erarbeitet haben.
Ausgehend von einer ganz alltäglichen Situation (ein Kellner/ein Gast) gerät die Geschichte schnell außer Kontrolle. Der Sinn offenbart sich in Wellen, und die Performance entpuppt sich als viel komplexer als sie scheint …
L’Addition basiert auf einem sehr einfachen Szenario – mehr oder weniger ein Grundelement alter Witze und Slapstick-Komödien – einer Szene mit einem Kellner und einem Gast. Während der Aufführung wird schnell klar, dass sich alles um Machtdynamiken dreht. Wer bedient wen? Wer hat die Kontrolle? Das Machtverhältnis zwischen den Protagonisten entwickelt sich zu einem erbitterten, aber dennoch humorvollen Kampf in einer Atmosphäre der Instabilität. In der Performance möchte ich sehen, wie dieses Verhältnis unterlaufen und umgekehrt werden kann, wie wir damit spielen und es umgestalten können. Ich wähle selten ausgesprochen politische Themen, aber ich hoffe immer, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, dass wir die Außenwelt verstehen. Auch wenn sie ihren Ursprung nicht im Politischen haben, so sind Performances doch immer ein Spiegelbild des Politischen. Die Aufführung stellt die Gesellschaft selbst in Frage – über das Probenstudio oder den Theaterraum hinaus.
Die Aufführung wird Sie vielleicht überraschen und Sie Ihre Abwehrmechanismen überwinden lassen. Mal ist es lustig und leicht, im nächsten Moment wird es plötzlich sehr ernst und dramatisch. Oder umgekehrt. Man muss immer auf der Hut sein und seinen Geist wach halten, das mag ich. Im Mittelpunkt jeder künstlerischen Arbeit steht der Wunsch, das Publikum auf eine Reise mitzunehmen, die es sich nie hätte vorstellen
Ich mache gerne Performances, die mehrere Alternativen und Auslegungsmöglichkeiten eines einzelnen Ereignisses oder einer Situation zulassen. So entsteht anstelle einer einzigen Geschichte – eines Dramas – etwas Vielgestaltiges, Kaleidoskopisches, ein Aufeinanderfolgen mehrerer Ebenen, die für viele verschiedene Lesarten und Interpretationen offen sind. Die Idee dahinter ist, eine Szene oder eine Situation zu überhöhen und sie in etwas zu verwandeln, das gleichzeitig lustig und tragisch sein kann. Diese Herangehensweise entspringt meinem Wunsch, in die Tiefe zu gehen und die Dinge zu untersuchen; selbst eine triviale Ausgangssituation kann auf tausende verschiedene Arten aufgelöst werden.
können, in Form von Bildern, Ideen, in Form von Reaktionen und Fragen.
Worte diktieren oft die Regeln Ihrer Aufführungen, die dennoch manchmal ohne Worte sind. Wie haben Sie sich in dieser Arbeit mit der Frage der Sprache, der Worte und deren Wert auseinandergesetzt?
Als Schriftsteller sind Worte für mich natürlich wichtig. Ich versuche immer, präzise zu sein, die Sprache auf unterhaltsame und subversive Weise einzusetzen. Als Regisseur bin ich aber auch sehr sensibel für alle anderen Elemente des Theaters, Energie, Zeitlichkeit, Bewegung und die Art und Weise, wie Worte von den Darsteller:innen verkörpert werden können. Der gesprochene Text ist eine Ebene einer Aufführung, aber er ist eben nur eine Ebene von mehreren. Ich verwende die gesprochene Sprache sehr gerne, aber hinterfrage auch ihren Einfluss auf die Ereignisse, die vor unseren Augen stattfinden. Sprache ist ein Werkstoff, sie ist nicht alles und sie ist nicht dazu da, die Dinge zu erklären.
Bei Theateraufführungen arbeite ich viel mit Action und energetischer Erregung – jede:r auf der Bühne spricht, jede:r rennt. Ich liebe es, Chaos zu schaffen, und in L’Addition passiert dies häufig. Das Stück ist zu schnell, zu laut! Aber ich finde es immer wieder faszinierend, wenn die Dinge urplötzlich mittendrin zum Stillstand kommen, wenn alles ruhig wird, kein Gespräch mehr, keine Aktion mehr. Ich versuche, das Gleichgewicht zwischen dem berauschenden Fluss von zu viel Information und den Momenten der Leere, in denen nichts passiert, nicht aus den Augen zu verlieren. Aus diesem „Nichts“ entsteht unglaublich reichhaltiges Material, wenn es zur richtigen Zeit kommt. Das Ziel ist es, Momente zu schaffen, in denen das Publikum die Leere – die Stille und die Bewegungslosigkeit – mit seiner eigenen Vorstellungskraft füllt, um so Momente der Introspektion zu schaffen. Die Stille spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Nachdem Sie als britischer Künstler in Frankreich und Wien an diesem Stück, das den Humor des Publikums stark miteinbezieht, gearbeitet haben, was waren Ihre Beobachtungen zum Humor in den verschiedenen kulturellen Kontexten? Wie sehr ist Humor universell, wie sehr ist er lokal?
Überall gibt es eigene Codes, Rituale der Höflichkeit, Rituale der Dienstleistung und des Verhaltes von Kund:innen. Und Humor entsteht oft durch das Brechen dieser Codes. Wenn man nun den Kontext von einem Land zu einem anderen verändert, so entstehen neue Nuancen, der Ton der Empörung ändert sich, die Freude und Energie des Ungehorsams oder des Chaos ändern sich … Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, diesen Wandel zu erforschen. Die Freude am Chaos – am Brechen von Regeln – ist eine internationale Sprache.
Tim Etchells ist ein britischer Künstler und Autor, dessen Werke zwischen Performance, bildender Kunst und Literatur angesiedelt sind. Internationale Berühmtheit erlangte er als künstlerischer Leiter der Performancegruppe Forced Entertainment aus Sheffield. Auch seine Arbeiten abseits der Gruppe sind in bekannten Institutionen rund um den Globus zu sehen und umfassen Kollaborationen mit namhaften Künstler:innen verschiedener Disziplinen, wie Meg Stuart/Damaged Goods, Marino Formenti, Taus Makhacheva, Vlatka Horvat oder Elmgreen & Dragset. 2016 wurde Forced Entertainment der Internationale Ibsen-Preis für ihren wegweisenden Beitrag im Bereich zeitgenössischen Theaters und Performance verliehen. 2019 erschien eine Sammlung von Etchells’ Kurzgeschichten unter dem Titel Endland. Forced Entertainment und Tim Etchells waren bereits mehrmals bei den Wiener Festwochen zu Gast, zuletzt 2013 im Rahmen des Performanceparcours Unruhe der Form und 2021 mit der Produktion Heartbraking Final, gemeinsam mit der Violinistin Aisha Orazbayeva. 2024 zeigt er neben Die Rechnung auch How Goes the World, Teil der Reihe Histoire(s) du Théâtre des NTGent.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Basierend auf einem Interview, das von Malika Baaziz für das 77. Festival d’Avignon geführt und von Gaël Schmidt-Cléach ins Englische übersetzt wurde. Das Interview wurde überarbeitet, gekürzt und dem Wiener Kontext angepasst. Übersetzung Eva Mitterndorfer Bildnachweis Cover: © Christophe Raynaud de Lage Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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Die Rechnung in CAPE 10
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