AP 2024 Hamlet

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DE 2024: eine zeitgenössische Wohnung in einer anonymen Stadt. Hamlet versucht, vom bloßen Denken und Wünschen ins Handeln zu kommen, von der Melancholie zur Leidenschaft – und vielleicht gar zur Rebellion. Die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy – Preisträgerin des Goldenen Löwen der Biennale von Venedig – widmet sich dem berühmtesten Satz Shakespeares: Sein oder Nichtsein. Aber sie stellt die Frage radikaler: Handeln oder Resignieren? Hamlet erwacht in der Gegenwart als Frau und sieht sich mit der Gewalt des Patriarchats und der eigenen Vergangenheit als männlicher Hamlet konfrontiert. Gemeinsam untersuchen Hamlet, ihre Mutter Gertrude und ihre Verlobte Ophelia Vergangenheit und Gegenwart. Ihr Ziel: die Gesellschaft der Zukunft zu erschaffen. Aber was sind die Hebel für Veränderungen?

EN It is the year 2024, in a contemporary apartment in an anonymous city. Hamlet is trying to turn sheer thought and desire into action, to move from gloom to passion – possibly even rebellion. Brazilian director Christiane Jatahy (she was awarded the Golden Lion at the Venice Biennale) turns her attention to Shakespeare’s most famous phrase: to be or not to be. However, she asks a more radical question: to act or to resign? Hamlet wakes up as a woman in the contemporary world and has to face the violence of the patriarchy. Together, Hamlet, her mother Gertrude and her fiancée Ophelia investigate the past and the present. They want to create the society of the future. What, though, are the levers for change?

The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/hamlet

aus Christiane Jatahy’s Hamlet

31. Mai, 1. / 2. Juni, 19 Uhr

Volkstheater

Französisch, Portugiesisch deutsche und englische Übertitel

ca. 2 Std.

Hinweis

Empfohlen ab 14 Jahren

Publikumsgespräch

1. Juni, im Anschluss an die Vorstellung

Regie, Adaption, Bühne Christiane Jatahy Mit Isabel Abreu (Ophelia), Tom Adjibi (Guildenstern), Servane Ducorps (Gertrude), Clotilde Hesme (Hamlet), David Houri (Rosencrantz), Tonan Quito (Polonius), Matthieu Sampeur (Claudius) und im Film Loïc Corbery, Jérémy Lopez, Cedric Eeckhout, Jorge Lorca, Julie Duclos sowie Kes Bakker, Aurélie Barrin, Fernanda Barth, Azelyne Cartigny, Léo Grimard, Jamsy, Martin Jodra, Laurence Kélépikis, Yannick Lingat, Yannick Morzelle, Océane Peillon, Juliette Poissonnier, Maëlle Puéchoultres, Yara Ktaish, Alix Riemer, Andrea Romano, Gabriel Touzelin Voiceover Zakariya Gouran, Jauris Casanova, David Clavel Künstlerische Mitarbeit, Bühne, Licht Thomas Walgrave Filmregie, Kamera Paulo Camacho Kostüm Fauve Ryckebusch Entwicklung Videosystem Julio Parente

Musik Vitor Araújo Sounddesign Pedro Vituri Mitarbeit technische Entwicklung Bühne Marcelo Lipiani

Dramaturgische Beratung Marcia Tiburi, Christophe Triau Regiehospitanz Maëlle Puéchoultres Hospitanz Bühne, Licht Kes Bakker Kostümassistenz Delphine Capossela Regieassistenz Laurence Kélépikis Management Claudia Petagna Produktionsleitung, Übertitel Henrique Mariano Übersetzung Übertitel Deutsch Angela Schanelec, Jürgen Gosch, adaptiert von Monika Kalitzke Übersetzung Übertitel Englisch Originaltext, adaptiert von Dominique Hollier

Produktion Odéon-Théâtre de l’Europe (Paris) In Zusammenarbeit mit Cie Vértice – Axis productions Koproduktion Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, Les Nuits de Fourvière – Festival international de la Métropole de Lyon, Holland Festival (Amsterdam), Le Quartz – Scène nationale de Brest, La Comédie de Clermont-Ferrand scène nationale, DE SINGEL (Antwerpen) Mit Unterstützung von Cercle de l’Odéon

durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Premiere März 2024, Odéon-Théâtre de l’Europe (Paris)

DER REST IST SCHWEIGEN

Von Christophe Triau

„Sein oder Nichtsein“. Und: Handeln oder nicht handeln. Seit mehr als vier Jahrhunderten steht Hamlet an dieser Grenze. Die Grenze, das ist genau der Raum, den Christiane Jatahy in ihren Werken immer wieder bearbeitet, der Raum, den ihr zufolge das Theater aktivieren kann: die Grenze zwischen Bühne und Saal, zwischen Theater und Kino, Realität und Fiktion, aber auch zwischen dem Bewussten und Unbewussten, dem Gedächtnis und Schweigen („Der Rest ist Schweigen.“), der Einsamkeit und dem Gemeinsamen …; und die zeitliche Grenze, die Gegenwart selbst, diese feine Linie zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Grenze nicht als allgemein gültige, geschlossene Abgrenzung, sondern im Gegenteil als poröse Stelle, als beweglicher Ort des Austauschs und Durchgangs, als möglicher Ort für Beziehung; als jener Raum, in dem sich etwas ändern könnte.

Mehr als vier Jahrhunderte lang bleibt Hamlet an dieser Grenze gewissermaßen hängen, wird hin- und hergerissen: gefangen zwischen dem Kreislauf von Rache und Tragödie, dem Gebot, „grausam sein zu müssen, um gerecht zu sein“, und der Sehnsucht nach Veränderung, um diese ewige Wiederkehr der Gewalt durchbrechen zu können und der Vergangenheit zu entkommen, die nicht vergehen will und sie in einer Schleife in ihrem Gedächtnis („vielleicht träumen“, aber … „was für Träume mögen kommen?“) unaufhörlich verfolgt. „Sie“ verfolgt, genau!

Denn Hamlet ist hier zur jungen Frau geworden. So einfach und ohne weitere Begründung, wie Orlando in Virginia Woolfs gleichnamigem Roman eines Tages als Frau erwacht. Aber das ändert sicherlich alles am Blick, der nun auf die patriarchalische, opferfordernde Gewalt geworfen wird, und im Kampf, ihr zu entkommen.

Indem Hamlet die Gespenster ihrer Geschichte oder ein Gespenst von den Gespenstern ihrer Geschichte wieder heraufbeschwört, erlebt sie die Erinnerung an ihre Tragödie neu, spielt sie nach und gestaltet sie neu.

Und wie Orlando hat Hamlet die Jahrhunderte durchquert, bis ins Heute, bis in diese zeitgenössische Wohnung, in der sie und die anderen Protagonist:innen (die anderen Toten) der Tragödie in Jatahys Inszenierung eingeschlossen sind: ein intimer Raum, der wie eine Familienaufstellung funktioniert, und ein Ort der Verdichtung, wie es der Raum der Psyche, des Traums oder des Albtraums sein kann (konkreter Raum und mentaler Raum, egal, was die Vorder- und Rückseite dieser Grenze ist, sie sind untrennbar miteinander verbunden).

(Re-)enter the ghosts: Indem Hamlet die Gespenster ihrer Geschichte oder ein Gespenst von den Gespenstern ihrer Geschichte wieder heraufbeschwört, erlebt sie die Erinnerung an ihre Tragödie neu, spielt sie nach und gestaltet sie neu. Ohne Ende? Wie aus ihr herauskommen? Wie die Grenze überqueren, fliehen, sich von den Zuweisungen lösen – oder zumindest dem Tod wirklich ins Antlitz blicken?

Christophe Triau ist Professor für Theaterwissenschaft an der Université Paris Nanterre und Dramaturg.

Servane Ducorps, Clotilde Hesme, Tonan Quito (im Hintergrund)

MÁRCIA TIBURI ÜBER HAMLET

Christiane Jatahys Hamlet ist eine Konfrontation mit Gespenstern. Das erste von ihnen ist Shakespeare selbst: Vater des modernen Theaters, Obsession aller großen Theaterregisseur:innen und einer, der von seinen Erben viel verlangt. Christiane Jatahy folgt dem Shakespeareschen Ruf, indem sie ein Stück im Stück im Stück schafft, eine schwindelerregende „Mise en abyme“, durch die die zeitgenössische Seinsweise an die Stelle der Modernität tritt. Das bedeutet, dass Ethik, Ästhetik und Politik eine Beziehung zu den Schatten jener Epoche eingehen, zu der die Regisseurin und wir alle gehören.

Was wir auf der Bühne sehen, ist die Aktualisierung der barocken Zeitfalte, in der Shakespeare angesiedelt ist. Es ist nicht mehr Duchamps Akt, sondern Hamlet, der die Treppe herabsteigt und schließlich von jenem Spiegel reflektiert wird, in den wir blicken, potenziert durch die Kindheit der Angst, die uns warnend ins Ohr flüstert, dass es etwas außerhalb der Darstellung gibt. Es ist jetzt nicht mehr möglich, so zu tun, als ob etwas nicht „faul wäre im Staate Dänemark“. Es ist Krieg da draußen und es ist Krieg in uns drinnen.

Das zweite Gespenst, dem es sich zu stellen gilt, ist zwangsläufig der Text. Hamlet ist ein Geistertext, der überall ist und, wenn wir Freud und Lacan glauben, ist er auch in unserem Unbewussten präsent, so wie einst Ödipus in der Antike. Die Entfaltung von Shakespeares Text verläuft choreografisch. Andere ebenso obsessiv verfolgende und fantasmatische Texte, wie jene von Virginia Woolf und Heiner Müller, schließen die Szene kurz. Die Tragödie war schon immer eine Theorie des Sinnes, die, wie es Nietzsche verstand, von der Philosophie in ihrem Bestreben, die Gefühle zu rationalisieren und das Leben aus dem Bereich der Sinne zu entfernen, überdeckt

worden war. Jatahy zeigt, dass die Tragödie die Philosophie mit einbinden kann, dass Hamlet weiterhin das Begehren, das Sein oder Nichtsein, das Problem der Geschlechter und sogar das Queere inszeniert.

Jatahy kreiert ein szenisches Spiel, das im Paradigma der Zeitgenossenschaft ein Sprachspiel à la Wittgenstein ist, in dem die Schatten die Bühne in vielfachen Dimensionen überqueren und einander dabei verstehen. Die Zuschauer:innen können sich wie Gespenster fühlen oder wie das reine Auge der Welt, das vor einer Wahrheit steht, auf die sich vorher niemand vorbereitet hat. Im Theater der Tragödie werden die intimen Gespenster öffentlich. Es ist wieder einmal die Anatomie der familiären Beziehungen, die uns überrascht und aus einem präkathartischen Vergessen zieht. Jatahy wird sich den Gespenstern nicht entgegenstellen, sondern dafür sorgen, dass sie gesehen werden, und, einmal gesehen, zum Nachdenken anregen.

In dieser Anatomie der Körper und Schatten, in der der Schatten Teil des Körpers und der Körper Teil des Schattens ist, liegt alles jenseits der Performance. Ob der König, der den Thron und das Bett der Königin an sich reißt, oder die aufständische Ophelia – alle werden technoanthropophagisch eingefangen, ganz nach dem Geschmack der anthropophagen Völker, die die brasilianische postmodernistische und ultrazeitgenössische Anthropophagie-Bewegung* inspiriert haben, und die in Shakespeares Zeitfalte weiterhin Jatahys Vorfahren sind.

Márcia Tiburi lebt als Philosophin und Autorin in São Paulo.

*Anmerkung des Herausgebers: Die brasilianische Anthropophagie-Bewegung steht für den Akt der Einverleibung, des Verschlingens europäischer Kulturformen und deren Transformation in ein Eigenes.

Christiane Jatahy, geboren in Rio de Janeiro, ist Autorin, Regisseurin und Filmemacherin. Sie studierte Theater und Journalismus sowie Kunst und Philosophie. Seit 2003 beschäftigt sie sich mit den Grenzgebieten zwischen künstlerischen Disziplinen, zwischen Realität und Fiktion, zwischen Darsteller:in und Charakter und zwischen Theater und Film. 2011 feierte Julia Premiere, basierend auf Strindbergs Fräulein Julie, 2014 präsentierte sie What if they went to Moscow?, basierend auf Tschechows Drei Schwestern, 2015 wurde Die Memory-Trilogie mit The Walking Forest (bei den Wiener Festwochen 2018) abgeschlossen. Ihre Nachforschungen zur Frage nach Flucht vertieften sich 2018 in der Erarbeitung des Diptychons Our Odyssey, inspiriert von Homers Odyssee. Jatahys Trilogy of Horror begann mit dem ersten Teil Entre chien et loup, inspiriert durch den Film Dogville. Der zweite Teil Before the sky falls verbindet Shakespeares Macbeth mit The Falling Sky von Davi Kopenawa und Bruce Albert und untersucht die Gewalt toxischer Männlichkeit und die politische Macht des Patriarchats. Der finale dritte Teil Depois do silêncio (ausgehend von dem Buch Torto Arado von Itamar Vieira jr.) setzt den Fokus auf strukturellen Rassismus und wurde bei den Wiener Festwochen 2022 uraufgeführt. Christiane Jatahay erhielt 2022 den Goldenen Löwen im Rahmen des 50. Festival Internazionale del Teatro der VenedigBiennale. In der Spielzeit 2021–2022 war Christiane Jatahy Gastkünstlerin am MUCEM in Marseille, wo sie mehrere ihrer Arbeiten sowie eine Reihe von Interventionen, die vor Ort konzipiert wurden, zeigte. 2023 inszenierte sie am Schauspielhaus Zürich Juan Mayorgas The boy at the back, eine Studie über die Manipulation der Realität durch die Fiktion, und am Grand Théâtre in Genf Nabucco, eine Hymne an die Hoffnung und den Widerstand in Verdis Oper. 2024 inszeniert Jatahy eine Adaption von Hamlet (Premiere am Odeon-Théâtre de l’Europe in Paris), in der sie Shakespeares Werk vor dem Hintergrund zeitgenössischer Fragen zu Geschlecht, Gewalt/Krieg, der Relevanz von Handlungen und der Art und Weise, wie sich die Theatergeschichte ihnen genähert hat, radikal neu liest.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Originalbeiträge (2024) Übersetzung Igor Metzeltin, Monika Kalitzke Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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