AP 2024 Hatched Ensemble

Page 1

DE Das Klappern von Wäscheklammern unterbricht die Heiligkeit des Balletts. Mit kräftiger ­Farbsymbolik­ und­ kompromissloser­ Entmystifizierung­ wird­ aus­ einer­ Gegenüberstellung­ voneuropäischem und afrikanischem Musik- und Bewegungsvokabular gegenseitige Ermächtigung. Schon­2007­reflektierte­Mamela­Nyamza­ihr­Leben­als­Mutter,­Lesbe­und­Künstlerin­in­ihrem­vielgelobten,­autobiografischen­Solo­Hatched. Gemeinsam mit zehn Balletttänzer:innen, einer Sängerin und einem Musiker treibt sie nun mit Hatched Ensemble ihre Auseinandersetzung mit Identität und Zugehörigkeit,­ geschlechtlicher­ Binarität,­ Tradition­ und­ künstlerischem­ Ausdruck­ weiter­ voran.Frei­ nach­ Allan­ Kaprow­ („Die­ Grenze­ zwischen­ Kunst­ und­ Leben­ sollte­ so­ fließend­ und­ vielleichtundeutlich­ wie­ möglich­ gehalten­ werden.“)­ lädt­ die­ südafrikanische­ Choreografin­ und­ Aktivistindas­Publikum­ein,­Zuschreibungen­aufzubrechen­und­über­eigene­Zugehörigkeiten­nachzudenken.

EN The clatter of clothes pegs disrupts the sanctity of the ballet. Powerful colour symbolism and uncompromising­ demystification­ turns­ the­ juxtaposition­ of­ European­ and­ African­ vocabulary­ ofmusic­and­movement­into­mutual­empowerment.­Already­in­2007,­Mamela­Nyamza­reflected­on­herlife as a mother, lesbian and artist in her highly praised autobiographical solo Hatched. Together with ten ballet dancers, one singer and a musician, she is now pushing her confrontation of identity and­ belonging,­ gender­ binarism,­ tradition­ and­ artistic­ expression­ further­ in­ Hatched Ensemble. Loosely­inspired­by­Allan­Kaprow­(‘The­line­between­art­and­life­should­be­kept­as­fluid­and­­perhapsas indistinct as possible’), the South African choreographer and activist is calling on the audience to fracture ascriptions and consider their own states of belonging.

9. Juni, 19 Uhr, 10. Juni, 20 Uhr

Volkstheater

60 Min.

Publikumsgespräch

10. Juni, im Anschluss an die Vorstellung

Hinweis

Empfohlen ab 13 Jahren

Konzept, Choreografie, Regie Mamela Nyamza Licht Elena Ruiz Lencioni Kostüm Mamela Nyamza, Bhungane Mehlomakulu Technische Leitung Thabo Pule, Wilhelm Disbergen Gesang Litho Nqai Afrikanische multiinstrumentale Live-Musik Given „Azah” Mphago Tanz Kearabetswe Mogotsi, Khaya Ndlovu, Thamsanqa Tshabalala, Thimna Sitokisi, Itumeleng Chiloane, Amohelang Rooiland, Noluyanda Mqulwana, Zandile Constable, Tania Mteto, Kemelo Sehlapelo (SWING) Probenleitung Kirsty Ndawo

Produktion Mamela’s Artistic Movement Koproduktion National Arts Council of South Africa, National Arts Festival (Makhanda) Mit Unterstützung von Moving-In-To-Dance (MID)

durchgeführt vom Team der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung Juni 2023, National Arts Festival (Makhanda)

JEMAND, DER UNMÖGLICHE GESCHICHTEN IN SICH TRÄGT

Von Rucera Seethal

Wenn du jemand bist, der unmögliche Geschichten mit sich herumträgt, aber dennoch konsequent eine Haltung des Protests und der Wachsamkeit einnimmt;

Wenn du jemand bist, der sein:ihr künstlerisches Schaffen für jenseitige Kräfte öffnet, die deine Eleganz verunsichern und aus dem Gleichgewicht bringen sollen;

Was schaffst du dann auf deine anspruchsvolle und bewusste Art, die alles von dir in sich trägt und gleichzeitig alles bloßlegt?

„Das­ursprüngliche­Stück­begann­seine­Reisemit einem Traum von Rot: dieses leuchtende Rot­ […]­ ist­ für­ mich­ ein­ Symbol­ für­ Liebe,Gefahr,­ aber­ auch­ für­ meine­ eigene­ ,blutige‘Beziehung zu den Dingen.“1

Mamela Nyamza schuf Hatched erstmals 2007 als Solowerk. Ihr damals kleiner Sohn Amkele Mandla gesellte sich mit Buntstiften und Papier zu­ihr­auf­die­Bühne­und­malte­fleißig,­währendseine Mutter mit Wäscheleine und Wäscheklammern­ einen­ Spitzentanz­ auf­ der­ Bühne­vollführte.­ Es­ handelte­ sich­ um­ eine­ lyrische,aber auch sehr direkte Aussage, die sowohl auf den­anschaulichen­Inhalt­des­Stücks­hinweist­alsauch die fordernde Verquickung von Privatem und­ Beruflichem­ für­ eine­ junge­ Schwarze­ Frauin­Südafrika­unterstreicht.­

„Ich komme aus dem Ballett, das mich als Schwarze Tänzerin nicht akzeptiert. In der Disziplin des Tanzes werden Tänzerinnen und Tänzer an sich immer heruntergemacht, und dagegen kämpfte ich während meiner gesamten Karriere.“2

Mamelas lebenslange Auseinandersetzung mit ihrem­Körper­als­Tänzerin­und­ihrem­­beruflichenSelbstbild war vom Kampf um Mittel, ­Anerkennung­und­Würde­geprägt.­Im­Südafrikader­ Apartheid,­ wo­ Schwarze­ zu­ Bürger:innendritter Klasse degradiert wurden, machten struktureller Rassismus und alltägliche rassistische Ungerechtigkeiten ihr Streben nach Spitzenleistungen in der Disziplin des Tanzes zu einer­ mühsamen­ Aufgabe.­ Diese­ Hindernisseexistierten­ nicht­ nur­ auf­ der­ Ebene­ der­ Mittel,der Zugänglichkeit und der Netzwerke, sondern auch in den kulturell-psychologischen Assoziationen im Zusammenhang mit Ballett und dem Tanz im Allgemeinen als einer institutionalisierten Kulturform. Die Vorgabe beim Balletttraining­junger­Menschen­ist­in­Bezug­auf­Formund­ Linie­ auf­ kanonische­ weiße­ Körperausgerichtet: die Perfektion eines fest gebundenen Haarknotens, der nur so aussehen kann, wenn das Haar glatt ist und auf der Kopfhaut anliegt, wo man es dann zu einer kleinen Kugel auf dem Kopf dreht. Die Körperstruktur vermittelt­ den­ flüchtigen­ Eindruck­ von­ schlanken,straffen Muskeln.

In ­ Südafrika­ ist­ Mamela­ eine­ viel­ beachtete,zeitgenössische­ Größe,­ die­ den­ Tanz­ so­ umgestaltet, dass er zu den Formen, Muskeln und Narben­ des­ Schwarzen­ südafrikanischenKörpers und seinen Erfahrungen passt. Sie war mit Hass gegen Frauen und queere Körper konfrontiert, sowohl in ihrem öffentlichen Leben als auch innerhalb ihrer Familie. Sie erhob ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit, erteilte neuen Generationen Ballettunterricht, entwickelt lokale Tanzprogramme und machte internationale Tourneen.

1, 2 Interview mit Mamela Nyamza durch Alx Phillips, geposted am 7. Juni 2016 https://lookingfordrama.com/2016/06/3608/

Im Jahr 2018 kehrte sie zu Hatched­ zurück­ undbrachte dasselbe Rot, dieselbe Körperlichkeit und fesselnde Präsenz ein. Amkele, der zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt war, kommt zu einem­ späteren­ Zeitpunkt­ des­ Stücks­ zu­ ihr ­ aufdie­Bühne.­Er­war­mittlerweile­ein­junger­Manngeworden, der sich dem Publikum zuwendet und rappt, während seine Mutter in den Hintergrund tritt, aber nicht verschwindet. Durch die Umgestaltung­des­Solostücks­zu­einem­Ensemblewerkweitet Mamela das Thema der Nachkommenschaft, die sie bereits in der ersten Version des Stücks­ untersuchte,­ vom­ persönlichen­ auf­ denberuflichen­Bereich­aus.

„Ich habe sie handverlesen, weil ich beobachtete, dass diese Schwarzen Balletttänzer:innen oft nicht weitermachen.

[…] Eine von ihnen kam aus der gleichen Schule, aus der ich in Kapstadt in Gugulethu stamme. Ich hatte sie unterrichtet, als sie sechs Jahre alt war und ich damals als stellvertretenden Tanzdirektorin in dieser Schule arbeitete.

[…]­ Es­ störte­ mich­ als­ Künstlerin­ und­ ichfragte­mich,­warum­diese­Ballettkünstler:innenimmer aufgeben?

[…] Also dachte ich: Oh Gott, ich muss das Stück­ machen.­ Ich­ muss­ es­ machen.­ Diesehier,­ die­ ich­ 2006­ unterrichtete,­ […]­ ist­ jetzt­

Teil von Hatched [Ensemble],­ und­ für­ michist das wie ein Kreislauf im Leben, der sich schließt.

Es­ war­ wirklich­ eine­ große­ Freude­ zu­ sehen,wie sie wieder lebendig wurde, auf andere Art und Weise.

[…] Ich hatte 4 Wochen mit ihnen.

Mehr Zeit hatte ich nicht, ich legte gleich los. Einige von ihnen hatten ihre Spitzenschuhe weggeworfen.

‚Oh nein, sisMamela, ich habe keine Spitzenschuhe mehr‘.

Da dachte ich mir: ,Oh mein Gott, muss ich jetzt­ Spitzenschuhe­ für­ diese­ Kids­ kaufen,oder was?!‘

Spitzenschuhe sind sehr teuer.

[…]­ Ich­ hatte­ das­ Gefühl,­ dass­ sie­ ganzversessen darauf waren, mit mir zu arbeiten, wissen Sie.

Manchmal hört man: ,Ich will nicht mit Mamela arbeiten, weil man bei ihr nicht viel tanzt‘.

Aber sie waren versessen darauf, die Arbeit zu machen, die ich mache.

Und das war spannend.“ 3

Bei der Premiere von Hatched Ensemble in Makhanda,­ Südafrika,­ knisterte­ die­ Luft­ vorlauter Spannung. Viele Wäscheklammern ­gleiten,­ klappern­ und­ klicken­ auf­ Tüllschichtenals Gegenstimme zum klassischen Klavier. ­Körper­ queren­ die­ Bühne­ und­ durchbrechenGeschlechterzuordnungen. Festigkeit und Gelassenheit. Als die Tänzer:innen sich aufrichteten,­ pfiffen­ die­ Zuschauer:innen­ hier­ und­ da,aber­am­Ende­erhoben­sie­sich­von­ihren­Stühlenund­ tanzten.­ Bei­ der­ Aufführung­ im ­ MarketTheatre in Johannesburg sangen die Leute sogar zur Musik. Körper reagieren aufeinander, ­drücken­ das­ Gefühl­ der­ Befreiung­ und­ des­ Vergnügens­ in ­ Klang­ aus.­ Sie­ halten­ die­ Tänzer:innen, und diese halten den Raum.

„Ich sagte zu ihnen: Ihr seid nicht ­ver­antwortlich­ dafür,­ dass­ sie­ mögen­ oderlieben, was ihr tut.

Übertreibt nicht bei dem, was ihr tut.

Beruhigt euch, übertreibt­ die­ Performance­ nicht,­ tanzt­ nichtfür­mich.

Ihr wisst es schon.

Seid ihr selbst.

Wenn du in dich hineingehst, ist alles möglich.“ 4

3, 4 Interview mit Mamela Nyamza durch Sarah Israel und Rucera Seethal im Rahmen des Listening Bodies Podcast­ Projekts, Refuge Worldwide, durchgeführt am 23. November 2023. Derzeit noch nicht veröffentlicht.

Mamela Nyamza­ ist­ eine­ südafrikanische­ Choreografin­ und­ Kunstaktivistin.­ Sie­ studierte­ Ballett­ ander Pretoria Dance Technikon und wurde zur Gastdozentin an der Alvin Ailey New York School of Dance ernannt. Hier begann sie, sich mit dem klassischen Genre des Tanzes auseinanderzusetzen, indem sie die traditionellen Methoden und die Logik des Balletts und des zeitgenössischen Tanzes dekonstruierte.­ Zu­ ihren­ Werken­ gehören­ das­ innovative­ Tanzprojekt­ The Dying Swan (1998), Hatched (2007), das den Kampf gegen das Patriarchat adressiert, und The Meal­(2012),­ein­Projektgegen­ elitäres­ Ballett.­ Diese­ Arbeiten­ sind­ autobiografische­ Werke,­ die­ klassische­ Normen­ niedertrampeln. Ihre späteren Arbeiten Black Privilege, Pest Control und Grounded thematisieren die nicht­anerkannten­Heldinnen­des­afrikanischen­Unabhängigkeitskampfes,­Justizirrtümer­innerhalbvon Kunstinstitutionen oder zeitgenössische Narrative hinter politischen Diskursen des Dialogs und der­ Performance­ zwischen­ Künstler:innen­ und­ Publikum.­ Ihr ­ neuestes­ Werk­ Hatched Ensemble (2023)­wird­von­zehn­Tänzer:innen­mit­klassischer­Ballettausbildung­aufgeführt,­zusätzlich­auf­derBühne­ist­außerdem­eine­Opernsängerin­und­ein­Instrumentalist­traditioneller­afrikanischer­Musik.Mamela­ Nyamza­ hat­ zahlreiche­ Auszeichnungen­ erhalten,­ darunter­ den­ IMBOKODO­ Award­ fürTANZ­ (2016).­ Außerdem­ wurde­ sie­ als­ Legacy­ Artist­ für­ das­ JOMBA!­ Tanzfestival­ für­ das­ Jahr2023 ausgewählt und wurde eingeladen, an der Tanzzukunft II: Fokus Pina Bausch 2017 in Deutschland­ teilzunehmen,­ wo­ die­ Tänzerin­ Pina­ Bausch­ gefeiert­ wurde.­ Für­ die­ Spielzeiten­ 2020und­ 2022­ arbeitete­ Nyamza­ am­ Theatre­ du­ Châtelet­ (Paris)­ als­ Choreografin­ für­ die­ afrikanischeProduktion Le Vol du Boli unter der Regie des malischen Filmregisseurs Abderrahmane Sissako.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt ver­­antwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Originalbeitrag von RS für die Europatournee im Mai und Juni 2024. Übersetzung Isolde Schmitt Bildnachweis Cover © Mark Wessels Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

Hauptsponsoren Fördergeber

Hotelpartner

The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/hatched-ensemble

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.