AP 2024 How goes the world

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DE Nach Milo Rau, Faustin Linyekula, Angélica Liddell und Miet Warlop reflektiert Tim Etchells in der fünften Episode der Reihe Histoire(s) du Théâtre sein persönliches Theaterverständnis. Voller ernsthafter Neugierde bereitet der Künstler, Autor und Gründer von Forced Entertainment seit 40 Jahren der Poesie der kleinen Gesten die große Bühne. An diesem Abend durchleben vier Performer:innen eine absurde Orgie der Auf- und Abtritte, ein lustvolles Wirrwarr aus Rollen, Kostümen und Szenenwechseln. Wie fremdgesteuert reagieren die Spieler:innen auf von einer geisterhaften Regie eingespielte Töne: Es klingelt an der Tür, da muss sie jemand öffnen. Es erklingt das Klavier, da muss es jemand spielen. Kleinste Veränderungen lassen neue Welten entstehen, aus einem Lachen ein Weinen, aus Hoffnung Verzweiflung werden. How Goes the World ist das ästhetische Manifest eines der großen Bühnenkünstler unserer Zeit: Die Kraft des Theaters liegt im unerbittlichen Wunsch, eine Situation zu ändern. Aus der Maschinerie auszubrechen, die uns bis zur Erschöpfung antreibt.

EN After Milo Rau, Faustin Linyekula, Angélica Liddell and Miet Warlop, it is Tim Etchells’ turn to reflect on his personal take on theatre in the fifth episode of the series Histoire(s) du Théâtre. Brimming with genuine curiosity, the artist, author and founder of Forced Entertainment has been giving a grand stage to the poetry of small gestures for four decades. This evening sees four performers undergo an absurd orgy of entrances and exits, a luscious confusion of roles, costumes and scene changes. The actors appear remote controlled as they react to sounds played by a ghostlike director: The doorbell rings, so the door needs to be opened. The piano sounds, so somebody needs to play it. Tiny changes give rise to new worlds, turn laughter to tears, hopes to despair. How Goes the World is the aesthetic manifesto of one of the great stage artists of our time: the theatre gains its power from the relentless desire to change a situation – to break free of the machinery that is driving us to exhaustion.

The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/how-goes-the-world

9. / 10. / 11. / 12. Juni, 20.30 Uhr

Halle G im MuseumsQuartier

Englisch und Niederländisch

deutsche und englische Übertitel

1 Std. 45 Min.

Eberhard Spreng – Deutschlandfunk Kultur

Publikumsgespräch

10. Juni, im Anschluss an die Vorstellung

Hinweise

Empfohlen ab 14 Jahren

Bei der deutschen Übertitelung wird aufgrund begrenzter Zeichenanzahl und hoher Lesegeschwindigkeit auf das Gendern verzichtet.

Wir bitten um Verständnis.

Mit Aurélie Alessandroni, Neil Callaghan, Aurélie Lannoy, John Rowley Text, Konzept, Regie Tim Etchells

Dramaturgie Matthias Lilienthal Musikkomposition, Mit Musik von Graeme Miller Licht Dennis Diels Bühne Tim

Etchells, Chris Vanneste Kostüm Jo De Visscher Dramaturgische Beratung Benoît Vanraes Übersetzung

Übertitel Astrid Sommer (Deutsch)

Produktion NTGent Koproduktion Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, Tandem Scène Nationale (Arras-Douai)

durchgeführt vom Team der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung November 2023, NTGent

IM GESPRÄCH MIT TIM ETCHELLS

Was, wenn die Bühne von all den Dingen heimgesucht würde, die je auf ihr passiert sind?

How Goes the World ist der fünfte Teil der Reihe Histoire(s) du Théâtre, in der etablierte Künstler:innen über das Theater als Kunstform nachdenken. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie seit 40 Jahren genau das tun?

Tim Etchells Ganz sicher war das Theater selbst für mich schon immer ein Thema. Ich habe mich mit den Fragen beschäftigt: Was ist Theater? Wie funktioniert es? Und warum ist es so magisch und grausam zugleich? In meinen Arbeiten der letzten Jahrzehnte habe ich auf gewisse Art und Weise immer darüber nachgedacht, was es bedeutet, vor Menschen auf einer Bühne zu stehen, als reale Person aufzutreten, aber auch Dinge zu tun, die erfunden sind. Seien wir ehrlich, es ist ein sehr seltsames Metier! Für mich ist die Beschäftigung mit dem Theater aber auch eine Reflexion darüber, wer wir als Menschen sind und in welcher Welt wir leben. Im Theater geht es zwar um die Mechanismen der Verstellung und des Schauspielens – und damit um das Theater selbst –, aber gleichzeitig geht es natürlich auch um das Leben an sich. Als menschliche Wesen führen wir uns selbst und anderen etwas vor, und sogar der Raum, in dem wir leben, ist bereits eine Aufführung. Wenn man etwas über das Theater macht – über das, was real ist oder auch nicht – so spricht man automatisch auch über die Welt.

Die Performance How Goes the World wird von einer Reihe von Sound-Elementen bestimmt, auf die die  Darsteller:innen ununterbrochen reagieren, oft scheinbar, ohne zu wissen warum. Das ist einerseits sehr komisch, zugleich aber auch beklemmend. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Mich fasziniert die Idee eines kollektiven Gedächtnisses, das sich bei den Zuschauer:innen, den Schauspieler:innen und in den Veranstaltungsorten über viele Jahre hinweg bildet. Was, wenn die Bühne von all den Dingen heimgesucht würde, die je auf ihr passiert sind? Was, wenn die Bühne von den Sounds oder der Musik heimgesucht würde, die je auf ihr gespielt wurden?

How Goes the World ist eine Art Wiederverwertung bekannter oder vielmehr schon fast vergessener Fragmente von Aufführungen. Es ist eine Recycling-Box, in der viel Zeug gelandet ist, und die wir ordentlich herumwirbeln. Die Menschen in dem Stück, eher Figuren als Charaktere, bewohnen diese Welt, in der ständig Sounds den Figuren vorgeben, was zu tun ist: das Telefon abnehmen, Klavier spielen, an die Tür gehen … Man hat das Gefühl, dass die Figuren zu Marionetten der Klangmaschinerie werden.

Aber was steckt dahinter? Was will uns dieses Stück mitteilen?

Für mich ist das Theater eine Maschine. Es muss Ereignisse erzeugen, Spannung, etwas muss passieren oder gleich passieren werden … die Art und Weise, wie wir Klänge einsetzen, bezieht sich auf das unablässige Streben des Theaters, Dringlichkeit zu erzeugen, die Situation zu verändern.

Das Theater hat fast etwas Grausames. In dieser Aufführung werden die Schauspieler:innen zu Marionetten der Tonspur, und wir als Publikum wissen, dass wir erst dann zufrieden sein werden, wenn die Schauspieler:innen erschöpft sind und kaum mehr weitermachen können.

Gleichzeitig spiegelt diese Maschinerie wider, wie wir unser Leben leben. Sowohl das Leben als auch das Theater stehen unter einem gewissen Druck – beide werden durch Signale, Forderungen und Interventionen im Raum, den wir bewohnen, strukturiert. Obwohl es in How Goes the World um Theater geht, geht es auch um die große Maschinerie des Kapitalismus, die uns ständig dazu antreibt und stimuliert, mit Leidenschaft dies oder das zu tun.

In einem Artikel des französischen Magazins Les Inrockuptibles wurden Sie letzten Sommer als „möglicherweise witzigster Typ im Vereinigten Königreich“ bezeichnet. Humor und Absurdität waren schon immer ein wichtiger Bestandteil Ihrer Arbeit. Wie viel Humor steckt in How Goes The World und welchen Zweck hat er?

Meine Arbeit mag albern sein oder manchmal sogar dumm, aber das ist auch gut so. Wenn man es schafft, lustig zu sein und die Leute in die Vorstellung hineinzuziehen, haben wir die Möglichkeit, sie zu verwirren. Plötzlich nimmt die Situation eine Wendung, und was lustig war, wird tragisch oder verstörend … Mich reizt das unbehagliche Hin- und Herwechseln zwischen Witz und nur Sekunden später unangenehmem Schmerz und Verstörung. Dieses plötzliche Umschlagen bringt das Publikum dazu, sich selbst zu fragen: Moment mal, wie reagiere ich denn darauf und warum?

Der Humor ist nie Selbstzweck, er ist Teil eines komplizierten Spiels, das wir mit dem Publikum treiben. Wir wollen mit diesem Stück, wie auch mit anderen meiner Arbeiten, etwas Seichtes oder auch Leichtes schaffen, manchmal etwas beinahe Substanzloses. Zugleich kann das Stück

aber wieder sehr komplex sein, emotional und philosophisch verzwickt. Das wäre jedenfalls meine Absicht.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum viele Ihrer Projekte eine sehr minimalistische Szenografie haben?

Mit kleinen Dingen oder alltäglichen Gegenständen anzufangen, vermittelt dem Publikum: „Wir sind auf der gleichen Ebene wie du, liebes Publikum.“ Nichts Ausgefallenes, es ist, was es ist. So holt man die Leute ab und kann sie leichter auf eine Reise mitnehmen. Das ist ein klassischer Kunstgriff, mit dem man ausdrückt: „Seht her, es ist nicht viel, es ist eigentlich nichts.“ Und dann versucht man, das auf magische Art und Weise in etwas zu verwandeln, was das Publikum anfänglich nicht erwartet hätte.

In dem Stück gibt es Rollen für Figuren, die meist eigentlich im Hintergrund stehen: archetypische Charaktere wie Ärzte, Postboten, Feuerwehrleute … Warum wollten Sie gerade diese ins Rampenlicht stellen?

Ein Theaterstück kann sich um die Protagonist:innen und die zentralen Figuren der Geschichte drehen. Aber es ist auch spannend, einen Blick auf die Charaktere im Schatten der Hauptdarsteller:innen zu werfen – auf die, die über das Notwendige hinausgehen. Was bedeutet es, als Butler gekleidet auf der Bühne zu stehen, in einer Szene, in der es nicht viel zu tun gibt, oder als Statist:in in einer Massenszene? Es ist komisch, aber es hat auch etwas Pathetisches. Das ist die Spannung, die ich liebe.

Eine der großen Stärken in How Goes the World ist, dass wir Szenen schaffen, in denen alle

Darsteller:innen extrem beschäftigt sind; dann aber bleibt die Maschinerie stehen. Plötzlich sind die Darsteller:innen einfach nur da, und man kann sie vom Scheitel bis zur Sohle betrachten. Als Mitmenschen. Das Theater kann dies auf sehr kraftvolle Weise tun: Es bringt uns in einem gemeinsamen Raum zusammen, in dem wir einander atmen hören und sehen können. Wenn die Maschine stillsteht, ist da eine enorme Stärke, eine gemeinsame Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit.

Sie sind nicht nur Theatermacher, sondern auch Schriftsteller und bildender Künstler. Fühlen Sie sich manchmal überfordert, wenn Sie diese sehr unterschiedlichen Kunstformen miteinander kombinieren?

Seit etwa 2008 mache ich visuelle Kunstwerke mit Neon- und LED-Lichtern. Ich entwickle Installationen und Arbeiten, die entweder in Galerien oder im öffentlichen Raum, also zum Beispiel an der Außenseite von Gebäuden, zu sehen sind. Heute denke ich, dass meine Arbeiten alle miteinander in Zusammenhang stehen. Alles entspringt demselben Ansatz. Eine Neonarbeit von mir mag aus nur acht Wörtern bestehen, aber auch dann denkst du über die möglichen Interaktionen nach, die sie mit den Menschen, die eine Galerie besuchen oder ihr auf der Straße begegnen, haben kann. Auch im Theater sehe ich meine Aufgabe immer darin, einen Stoff zu bearbeiten, um Verbindungen zu knüpfen, Fragen zu stellen oder Räume zu öffnen.

Als Kind empfanden Sie das Theater als fesselnd und erschreckend zugleich. Wie empfinden Sie es nach fast 40 Jahren Theatermachen?

Mein Verhältnis zum Theater ist noch immer genau dasselbe – ich liebe es und gleichzeitig hasse ich es. Mich begeistern seine Möglichkeiten, aber ich empfinde es auch als tyrannisch und seltsam. Faszinierend eben. Immer noch, nach 40 Jahren.

Ist es nach vier Jahrzehnten einfacher geworden, Theater zu machen?

In vielerlei Hinsicht ist es schwieriger geworden. Aber ich liebe es, mich in den Stoff zu stürzen und ihn in meinem Kopf kreisen zu lassen. Heute Morgen bin ich um 4 Uhr aufgestanden, war hellwach und getrieben von Ideen, wie ich How Goes the World weiter vorwärtsbringen kann. Es ist wie ein Rausch, der nicht aufhört, bis zur Premiere.

Tim Etchells ist ein britischer Künstler und Autor, dessen Werke zwischen Performance, bildender Kunst und Literatur angesiedelt sind. Internationale Berühmtheit erlangte er als künstlerischer Leiter der Performancegruppe Forced Entertainment aus Sheffield. Auch seine Arbeiten abseits der Gruppe sind in bekannten Institutionen rund um den Globus zu sehen und umfassen Kollaborationen mit namhaften Künstler:innen verschiedener Disziplinen wie Meg Stuart/Damaged Goods, Marino Formenti, Taus Makhacheva, Vlatka Horvat oder Elmgreen & Dragset. 2016 wurde Forced Entertainment der Internationale Ibsen-Preis für ihren wegweisenden Beitrag im Bereich zeitgenössischen Theaters und Performance verliehen. 2019 erschien eine Sammlung von Etchells’ Kurzgeschichten unter dem Titel Endland. Forced Entertainment und Tim Etchells waren bereits mehrmals bei den Wiener Festwochen zu Gast, zuletzt 2013 im Rahmen des Performanceparcours Unruhe der Form und 2021 mit der Produktion Heartbreaking Final, gemeinsam mit der Violinistin Aisha Orazbayeva. How Goes the World ist Teil der Reihe Histoire(s) du Théâtre des NTGent und feierte im November 2023 seine Uraufführung. Daneben wurde Tim Etchells Inszenierung L’Addition bei der letztjährigen Ausgabe des Festival d’Avignon uraufgeführt und wird von Etchells nun als deutschsprachige Version für die Wiener Festwochen (in Kooperation mit Volkstheater in den Bezirken) unter dem Titel Die Rechnung neuinszeniert.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview führte Jonas Mayeur und wurde vom NTGent zur Verfügung gestellt. Übersetzung Eva Mitterndorfer Bildcredit Cover © Michiel Devijver Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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