AP 2024: Ja nichts ist ok

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Also theoretisch wäre das ja so, man würde Dialoge haben und man würde die ganze Zeit Schreie und Bomben im Hintergrund hören. Was wir natürlich nicht machen. Aber für mich, in meinem Kopf, ist dieser Sound immer da. Ich hab ne tolle Zeit mit meinen Kindern, wir weinen ja nicht dauernd zuhause, wir haben wirklich ne schöne Zeit gerade. Wir spielen auch irgendwelche Spiele und ich sag nicht dauernd: Aaron, bitte.

Du kannst doch jetzt nicht lachen. Wir können doch jetzt keine Witze – ich hatte auch das Witzebuch mit! Das hab ich noch aus seinem Zimmer geholt. Hier!

Unerwartet verstarb im Februar 2024 René Pollesch, einer der prägendsten Theatermacher des postdramatischen Theaters. Zwei Wochen zuvor feierte die neue Produktion von Pollesch/Hinrichs ja nichts ist ok Premiere an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die lange Spur humaner Konflikte, die Zerrissenheit des Selbst im Zivilisationsprozess, die Erschöpfung der Gesellschaft – Fabian Hinrichs, mehrfach ausgezeichnet für seine Schauspielkunst, spielt solo in einem recycelten Bühnenbild von Anna Viebrock, die Kostüme sind von Tabea Braun. Zuletzt war Pollesch im Jahr 2021 mit seinem Erfolgsstück Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer bei den Wiener Festwochen zu Gast. Für 2025 planten die Festwochen und Pollesch eine gemeinsame Produktion. Nach seinem plötzlichen Tod ist es für die Festwochen von besonderer Wichtigkeit, das letzte Stück dieses großartigen Autors und Theatermachers in Wien zu zeigen.

12. Juni, 18.30 und 21 Uhr

Burgtheater

Deutsch

ca. 80 Min.

Text René Pollesch Mit Fabian Hinrichs Statist:innen Nadine Ahlig, Farid Fleschmann, Niels Förster, Estanislao Gonzalez, Eva Günther, Helene Hager, Kristina Hartmann, Sonja Holst, Ingeborg Koch, Barbara Korte, Marion Lanzerstorfer, Christine Masuhr, Klaus Schneider, Lotte Selier, Alex Sommerfeldt, Oliver Walter Bühne Anna Viebrock Kostüme Tabea Braun Licht Frank Novak Dramaturgie

Anna Heesen, Johanna Kobusch

Produktion Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung Februar 2024, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin

Aufführungsrechte Rowohlt Theater Verlag, Hamburg

Alte Städte wie Wien –durch unzählige kleine Entscheidungen wuchsen diese Städte, in kleinen Schritten. Und so sind auch Renés und meine, sind unsere Theaterdramen entstanden –zellen haft wachsend. Sie waren und sind keine Reihenhaussiedlung, keine Trabantenstadt, kein Wohnblock.

Denn die wollten wir ja auch hinter uns lassen, die Reihenhäuser und Hausmeisterbungalows, die Territorien unserer Kindheit und Ausbildung; und der Städte, in die man ging, weil man sonst nirgendwo anders hinkonnte, nirgends – das hinter uns lassen … und vernichten, das wollten wir. Aber was man vernichten will, das muss man nicht nur kennen, man muss es auch gefühlt haben. Die vollkommen offensichtliche Fürchterlichkeit des Lebens in Hessen und Hamburg, Ludwigshafen und Berlin. Aber auch die traurige Größe dieses Lebens, gespiegelt in den Fenstern des Kakaoverkaufsstands von Renés Eltern in Hessen, des gardinenverhangenen Esszimmers im Reihenhaus meiner Eltern, in Bramfeld, der Schönhauser Allee oder Graefestraße in Berlin. Und jetzt hier in Wien. „Phantasie“, sagt Chesterton, „hat ihren höchsten Zweck in rückschauender Verwirklichung. Die Posaune der Phantasie wie die Posaune der Auferstehung ruft die Toten aus ihren Gräbern. – Phantasie sieht Delphi mit den Augen eines Griechen, Jerusalem mit den Augen eines Kreuzfahrers.“ Und so sehe ich nun im Sommer 2024 auf unsere Theaterstücke. Mit den Augen eines Glücklichen.

S: Was machst du da?

S: Ich zieh hier ne Wand ein. Ich kann dich nicht mehr sehen, Paul.

P: Was?

S: Wenn ich noch einen Tag so hier mit dir wohnen muss, schneid ich mir die Kehle durch, weißt du?

P: Guck mich doch mal an, wenn ich mit dir rede. Du kannst doch in dein Zimmer gehen. Schau mich doch mal an, wenn du mit mir sprichst.

S: Hör mal! Wenn du mit mir sprechen willst, dann ruf mich bitte an! Ja?! Ich will dich nicht sehn!

P: Dann geh doch einfach in dein Zimmer! Ich weiß gar nicht, was los ist!

S: Das sind hier jetzt zwei Zimmer! Ich zieh hier ne Wand ein! Eine Wand aus Paketen! Ich will hier jetzt sitzen! UND DICH NICHT MEHR SEHEN! DAS IST DIE WELT, DIE ICH MIR BAUEN WILL!

P: Was bist du bloß für ein Mensch!

S: WAS GUCKST DU MICH JETZT SO KOMISCH AN? WILLST DU MICH AUCH AUS DER WG CANCELN? WEIL ICH NE MAUER BAU?

P: Ja, wer hat denn mit den Listen angefangen?

S: Ja, Paul, wir leben hier Wand an Wand, aber wir leben in völlig verschiedenen Welten.

Ich glaube MARGRET THATCHER HATTE RECHT! SO ETWAS WIE GEMEINSCHAFT GIBT ES NICHT! Es gibt nur einzelne Männer und Frauen.

P: Nein, Stefan, sie sagte, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht. Das ist ein Unterschied! Tut mir leid –

S: Fick dich. Fick dich. Fick dich.

Erzähler: Ja, man denkt vielleicht: Wenn die Anderen weg sind, von denen man dachte, dass man ihre Anwesenheit nicht länger erträgt, dann wird es besser. Aber wenn man dann jeden möglichen Raum verlassen hat, den man nicht erträgt, dann findet man vielleicht raus, dass es die eigene Anwesenheit ist, die man nicht erträgt, Pünktchen Pünktchen Pünktchen

In der Zeit, in der wir uns befinden, ist Wohnen zu teuer für eine Einzelperson, wo Menschen selbst im hohen Alter in WGs wohnen müssen, in einer Wohngemeinschaft.

Außerdem: Stefan, Paul und Claudia wollten nicht in Brieselang leben, sie wollten im Zentrum leben. In einer Wohnung im zweiten oder dritten OG, so wie hier.

Das wars.

Auszug aus ja nichts ist ok

René Pollesch, geboren 1962 in Friedberg/Dorheim in Hessen, gestorben 2024 in Berlin, war Autor und Regisseur. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Stücke in eigener Regie brachte er ab 1984 zur Uraufführung. Von 2001 bis 2007 war er Künstlerischer Leiter des Praters der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. 2002 wurde er in der Kritikerumfrage des Fachmagazins Theater heute zum besten deutschsprachigen Dramatiker gewählt. 20017 erhielt er für Das purpurne Muttermal (Akademietheater Wien) den Nestroy-Theaterpreis für das beste Stück. Für Fantasma (Akademietheater Wien) erhielt er 2009 den Publikumspreis der Mülheimer Theatertage. Bis 2017 arbeitete er in enger Zusammenarbeit mit dem Bühnenbildner Bert Neumann u. a. an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz. Neben zahlreichen Inszenierungen entwickelte er auch Serien- und Filmformate. Seine langjährig erprobte Praxis als postdramatischer Autor und Regisseur vertraute wesentlich auf die autonome Tätig- keit, d. h. Autorschaft der im Theater versammelten Künstler:innen, wie allen voran den Schauspieler:in- nen, Bühnen- und Kostümbildner:innen, da nur das Zusammenarbeiten Mehrerer, die Autonomie nicht hermetisch denken, ermöglicht, dass sich das Theater nicht dem Befehl der Alleinherrschaft der Regie über eine Produktion oder gar ein ganzes Verständnis von Theater unterwirft. Von ihm stammt das Zitat „Die erste Autorin oder der erste Autor eines Theaterabends ist die Bühnenbildnerin oder der Bühnen- bildner. Sie machen einen Vorschlag und sind keine Empfänger:innen von Anweisungen. Und dieser Vorschlag wird gehört.“ René Pollesch inszenierte u. a. am Staatstheater Stuttgart, am Burgtheater Wien, am Thalia Theater Hamburg, an den Münchner Kammerspielen, am Schauspielhaus Zürich, sowie in Warschau, Stockholm, Tokio, Sofia und São Paulo. Ab der Spielzeit 2021/22 bis zu seinem Tod im Februar 2024 war René Pollesch Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Fabian Hinrichs, 1974 geboren, ist Schauspieler, Autor und Regisseur. Er studierte Rechtswissenschaft in Hamburg, Schauspiel an der Folkwang Universität der Künste im Ruhrgebiet und Politikwissenschaft und Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Geschichte und Philosophie in Berlin. Sein erstes Theaterengagement führte ihn ans Schauspielhaus Bochum. Von 2000 bis 2005 gehörte er dem Ensemble der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin an. Dort arbeitete er mit Regisseuren wie Leander Haußmann, Frank Castorf, Christoph Schlingensief und René Pollesch zusammen. Seit 2005 spielte er u. a. an den Münchner Kammerspielen, dem Schauspiel Köln, dem Burgtheater Wien, den Wiener Festwochen und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Max-Ophüls-Preis, dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis und dem Ulrich-WildgruberPreis. Zweimal wurde er zum „Schauspieler des Jahres“ gewählt (Kritikerpreis). Seit 2008 schreibt und produziert Fabian Hinrichs auch eigene Theaterproduktionen und Essays, darunter Ein Koffer voller Schmerzen, Die Zeit schlägt Dich tot und zuletzt Sardanapal nach Lord Byron. Zwischen 2010 und 2024 entstanden in enger gemeinschaftlicher Arbeit acht gemeinsame Stücke von René Pollesch und Fabian Hinrichs, darunter moderne Klassiker wie Kill your Darlings – Streets of Berladelphia, Keiner findet sich schön (beides Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz) oder Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt im Berliner Friedrichstadt-Palast. Seit 2003 ist er in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen zu sehen, so aktuell in der hauptsächlich in Wien gedrehten Serie Cum Ex. 2025/26 wird sein persönliches Sachbuch Das Gegenteil von Schönheit im Ullstein-Verlag erscheinen.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Originalbeitrag von Fabian Hinrichs, 2024. Bildnachweis Cover und S. 3 © Thomas Aurin Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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