AP 2024: JAWA

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DE Gemeinsam mit Jan, der gegen Obdachlosigkeit ankämpfte, und Waldemar, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, gründeten die Künstler:innen Janek Turkowski und Iwona Nowacka 2021 im polnischen Szczecin das Sozialunternehmen JaWa. Wie immer bei dieser Unternehmensform steht nicht der Gewinn, sondern die Lösung gesellschaftlicher Probleme im Vordergrund. In einem Hybrid aus intimem Theaterstück und performativer Lesung teilen Turkowski und Nowacka die Ergebnisse von 18 Monaten gemeinsamer Garten- und Tischlerarbeit mit dem Publikum. JaWa verdeutlicht die Komplexität von Gemeinschaft und stellt Fragen nach der Organisation von sozialem Aktivismus. Eine bewegende Geschichte über Würde, Sucht und Freiheit, Armut und Reichtum, zahlreiche Krisen und Erfolge.

EN The artists Janek Turkowski and Iwona Nowacka established the social enterprise JaWa in the Polish town of Szczecin in 2021 together with Jan, who was battling homelessness, and Waldemar, who had just been released from prison. As with all social enterprises, the focus is not profit, but the resolution of social problems. In a hybrid form of intimate drama and performative reading, Turkowski and Nowacka share the outcomes of 18 months of joint gardening and carpentry work with the audience. JaWa illuminates the complexity of collective endeavours and poses questions on how to organise social activism. It is a moving story about dignity, addiction and freedom, poverty and wealth, numerous crises and successes.

4. / 8. / 9. / 10. Juni, 19 und 21 Uhr,

5. / 6. / 7. Juni, 17.30 und 21 Uhr

Volkstheater, Dunkelkammer

Englisch und Polnisch

englische Übertitel

65 Min.

Hinweis Empfohlen ab 14 Jahren

Publikumsgespräch

8. Juni, im Anschluss an die Vorstellung

Von und mit Turkowski & Nowacka und im Video Jan Rozpędzik, Waldemar Wieczorek, Artur Czechowicz, Alina Gałązka, Olga Kozińska, Grzegorz Laszuk, Dorota Kwinta, Dariusz Mikuła, Piotr Szczygielski, Szymon Olbrychowski u. a. Bühne Piotr Szczygielski Kostüm Iwona Nowacka Produktionsleitung Warschau Olga Kozińska / Komuna Warszawa Kuration Performance-Programm Twarda miłość (Tough Love) Anna Smolar Internationales Management, Tourmanagement Dorota Kwinta Englische Übersetzung Video Sean Gasper Bye

Produktion Komuna Warszawa (als Teil des Residency-Programms) Koproduktion Noorderzon / Grand Theatre Groningen Mit Unterstützung von Stowarzyszenie Teatr Kana (Szczecin), Sozialunternehmen JaWa Gefördert von der Stadt Warschau im Rahmen des Culture Hub-Projekts

durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung November 2022, Komuna Warszawa

IM GESPRÄCH MIT JANEK TURKOWSKI UND IWONA NOWACKA

Eure Arbeiten sind alle Langzeitprojekte, die sich mit der Geschichte von Orten und Menschen beschäftigen. Wie wählt ihr eure Projekte aus und welche Rolle spielt die Recherche in euren Arbeiten?

Wir würden eher sagen, wir wählen sie gar nicht aus. Sie wählen uns aus. Wir sind uns bewusst, dass das peinlich nach Esoterik klingen mag, aber so ist es nun mal. Wir planen nie in der Theorie, ein Projekt über dies oder das zu machen. Stattdessen bewegt uns etwas in der Realität und wir versuchen, von dort dann die Signale aufzunehmen. Das kann eine Begegnung mit jemandem sein oder einfach ein Motiv aus der Geschichte eines Ortes, zu dem wir immer wieder zurückkehren. Der größte Teil der Recherche ist ein prozesshaftes Analysieren dessen, was die Realität geliefert hat. Wir filmen die Situationen und schauen uns dann die Details davon an. Aus diesen Details, aus einer Reihe von Punkten kristallisiert sich allmählich eine Linie für die Geschichte heraus, und dann fangen wir an herauszufinden, welche Art von Erfahrung wir alle gemacht haben und wo wir nun in Hinblick auf unsere ersten Ideen stehen. Die Realität ist so komplex, dass unsere kleinen menschlichen Gehirne nicht imstande wären, etwas Derartiges zu erzeugen. Also verlassen wir uns lieber auf die Realität als Quelle.

Bei JaWa arbeitet ihr mit Menschen, die auf der Straße leben oder gerade aus dem Gefängnis entlassen wurden und die mit verschiedenen Suchtarten kämpfen. Was ist der Grund dafür? Und würdet ihr eure Arbeit als Aktivismus bezeichnen?

Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie – so wie oben erwähnt – die Entscheidungen fallen: Unsere Wege kreuzten sich, und danach haben sich viele Dinge einfach ergeben. Jan war schon seit einiger Zeit unser Nachbar, so dass die Beziehung bereits über ein paar Jahre gewachsen war. Dann hatte das Theater, in dem Janek arbeitete, die Möglichkeit, Gelder zur Finanzierung eines

Sozialunternehmens zu beantragen, und sie wollten Waldemar, einem Kollegen von früher, der gerade aus dem Gefängnis heraußen war, helfen. Diese Punkte fielen mit einer Einladung an uns Künstler:innen zu einer Residenz am Komuna Warszawa Theater zusammen, wo wir ein Projekt für deren Tough Love-Saison machen sollten. Es war einfach sinnvoll, diese Teile miteinander zu verbinden.

Projekte, die als „Kunst“ definiert werden, ermöglichen es allen Beteiligten, eine gemeinsame Basis zu finden: Wir sind eine kreative Spezies, wir mögen es, Fiktion zu erschaffen und Teil einer Handlung zu sein, auch wenn diese manchmal sehr real aussieht, wie harte Arbeit beim Tischlern oder bei der Gartenarbeit, während wir endlose Monologe aufnehmen. Diese Zusammenarbeit in einem künstlerischen Projekt verändert spürbar das Selbstvertrauen unserer Kolleg:innen-Teilnehmer:innen. Sie verändert auch das Publikum – nicht nur die Zuschauer:innen im Theater, sondern auch unser allererstes Publikum, die Menschen, die uns auf der Straße bei der Aktion beobachten: Fußgänger:innen, Autofahrer:innen, Anrainer:innen. In der Öffentlichkeit zusammen zu sein und stundenlang zu arbeiten, zu filmen, zu reden, hat Auswirkungen auf die Gemeinschaft – die Menschen fangen an, sich gegenüber denjenigen, mit denen sie normalerweise nicht in Kontakt zu kommen versuchen, anders zu verhalten. Vielleicht ist es Aktivismus in einem kleinen Format. Vielleicht ist es Artivismus.

In eurer Performance sehen wir viele Momente mit gemeinsamem Lachen, Momente der Solidarität, aber auch der Kämpfe und Konflikte. Am Ende der Performance gibt es eine Videoszene, in der ihr fragt: „Was ist Glück?“. Habt ihr in diesem Projekt eine Antwort gefunden?

Es war gar nicht unsere Idee, das Thema Glück in das Projekt hineinzubringen. Wahrscheinlich hätten wir zu viel Angst vor seinem Kitsch-

potenzial gehabt. Einer der Protagonisten, Waldemar, fragt das also Artur, den wir in Warschau kennengelernt haben, in einer Situation, die sich ganz natürlich zu einer Art Interview entwickelt hat. Klar gab es auch Momente des Glücks, die sich aus dem Gefühl ergeben haben, jemandem helfen zu können, und auch aus der Beobachtung, wie es einem Menschen besser geht, wenn auch nur für einen Moment. Wir haben auch viel darüber nachgedacht, wie sehr wir unser eigenes Verständnis von Glück auf andere projizieren, und auch über die Komplexität dieses Begriffs, wie unmöglich es ist, ihn genau gleich zu verstehen wie jemand anderer. Das ist ein großes Problem, wenn es ums Helfen geht. Wenn wir anderen helfen, greifen wir oft, wenn auch unbewusst, auf unser eigenes Konzept von Glück zurück und auf unsere Vorstellung davon, was ihr Leben verbessern wird. Die Antwort auf deine Frage ist also für jeden Menschen auf der Welt eine andere. Und wir sollten nie glauben, dass wir wissen, wie es dem anderen geht. Aber wir können immer fragen, so wie Waldemar das getan hat.

JaWa hat kein „Happy End“. Würdet ihr sagen, dass das Konzept eines Sozialunternehmens, bei dem „jede:r im eigenen Tempo arbeitet“, gescheitert ist? Ist soziales Engagement, Aktivismus und auch die Kunst ein mühevolles Hamsterrad??

Es ist sehr schwer, diese Frage zu beantworten, ohne das Gefühl zu bekommen, dass es unmöglich ist, irgendwo im eigenen Tempo zu arbeiten, besonders heute, wo wir kurz vor unserer nächsten Premiere stehen und überhaupt nicht in unserem eigenen Tempo arbeiten ☹. Es ist ja schon ein großer Erfolg, dieses Tempo ständig mit anderen, aber vielleicht besonders mit sich selbst auszuhandeln. Aber wir würden nicht sagen, dass das Konzept gescheitert ist. Zunächst einmal war das primäre Ziel des Sozialunternehmens nie, finanzielle Gewinne zu machen, sondern Menschen, die in einer Krise sind, eine Art Sprungbrett zu bieten, ihnen die Möglichkeit zu geben, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Und das war erfolgreich. Waldemar versucht, seine

Sucht zu bekämpfen, er hat inzwischen zwei Therapien hinter sich, vorher wollte er von solchen Dingen gar nichts wissen. Jan hat dieses stabile Leben mit geregeltem Job und geregeltem Einkommen und geregelten Arbeitszeiten ausprobiert und er hat gesehen, dass es nicht zu ihm passt, was auch sein gutes Recht ist, denn, wie gesagt, wir können nicht entscheiden, was für ihn das Beste ist. Und ein wirklich großer Erfolg des Unternehmens war, dass wir eine andere Person kennengelernt haben, die auch davon profitieren konnte, was am Anfang gar nicht geplant war.

Eine letzte Frage: Seid ihr mit Jan, Waldemar und Artur noch in Kontakt? Wisst ihr, wie ihre heutige Situation ist?

Mit Waldemar und Artur sind wir in Kontakt. Zu Jan haben wir leider keinen Kontakt mehr, er ist eines Tages einfach gegangen und hat Arbeit, Wohnung und seine Sachen zurückgelassen, wie er das in den letzten 19 Jahren schon oft getan hat. Wir vermissen ihn, aber wir respektieren seine Entscheidung. Wir haben oft in verschiedenen Städten nach ihm gesucht, aber offensichtlich will er nicht gefunden werden. Er hat häufig gesagt, dass er die Unabhängigkeit und die unbegrenzte Freiheit vermissen würde, die er hatte, bevor er diese Arbeit begann. Deshalb vermuten wir, dass er zu seiner früheren Lebensweise zurückgekehrt ist. Artur hatte eine Phase der Stabilität, mit einem Job und einer gemeinsamen Wohnung mit seiner Freundin, aber als sie sich trennten, ist er zurück auf die Straße. Als wir das letzte Mal mit ihm sprachen, sagte er, er sei der Chef vom Parkplatz vor dem Warschauer Kasino und verdiene sein Geld damit, Autofahrer:innen die besten Plätze zum Parken zu zeigen. Waldemar hat gerade eine weitere Reha-Runde mit acht Wochen Therapie hinter sich und versucht nun, ein neues Kapitel aufzuschlagen. Am Ende jeder Vorstellung bringen wir von diesen Informationen immer den neuesten Stand, nach der nächsten wirst du also mehr dazu erfahren.

Turkowski & Nowacka (Janek Turkowski und Iwona Nowacka) sind in Polen lebende Künstler:innen, die seit 2013 zusammenarbeiten. Als Theatermacher:innen entwickeln sie Video-StorytellingPerformances, die aus Langzeitprojekten entstehen. Auf der Bühne verweben sie Live-Momente mit Archivaufnahmen sowie selbst aufgenommenem Filmmaterial. Ihre Performances zeichnen sich durch investigative Methoden, die Reflexion über den kreativen Prozess selbst als auch durch Humor und Selbstironie aus. Turkowski & Nowacka’s Arbeiten drehen sich um die Geschichte(n) von Orten und deren Gemeinschaft, die sie durch die Fokussierung auf Details als auch die Wiederholung und Nachstellung wichtiger Ereignisse erforschen. Zu ihren bisherigen Arbeiten zählen: it’s happening in norwich (2016), Smalfilm (2018), Klosterhof (2017), Carte Blanche (2018), ^ (2019), Do Not Worry (2019) und wurden europaweit gezeigt.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde schriftlich und auf Englisch am 11. Mai 2024 von Carmen Hornbostel (Dramaturgie Wiener Festwochen | Freie Republik Wien) geführt. Bildnachweis Cover © Piotr Nykowski Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/jawa

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