DIE ZWEITE KRAUS LECTURE IN KÜRZE
Die 700. Vorlesung, gehalten im Wiener Konzerthaus am 2. April 1936, gut zwei Monate vor Karl Kraus’ Tod, war so etwas wie ein „Schwanengesang des Vorlesers“ (Jacques Le Rider): Kraus las und sang Erfolge wie Das Lied von der Presse, Reklamefahrten zur Hölle oder Frank Wedekinds Diplomaten-Lied.
Volkstheater-Star Samouil Stoyanov und Petra Slottova (Querflöte, Traversquerflöte, Ukulele, Gesang) nehmen erneut einen Anlauf:
„Wir bringen, dringen, schlingen / uns in das Leben ein. / Wo wir den Wert bezwingen, / erschaffen wir den Schein.“
2. Juni, 11 Uhr
Odeon
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp Mit Petra Slottova, Samouil Stoyanov durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
Wo Leben sie der Lüge unterjochten, war ich Revolutionär.
Wo gegen Natur sie auf Normen pochten, war ich Revolutionär. Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.
Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten, war ich Reaktionär.
Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär.
Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.
150. GEBURTSTAG VON KARL KRAUS IN FÜNF „VORLESUNGEN“
„Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner“, schrieb Walter Benjamin über den 1874 geborenen, oft zitierten, gleichzeitig viel zu wenig gelesenen Sprach- und Kulturkritiker, Satiriker und begnadeten Performer Karl Kraus. In der Freien Republik Wien gestalten verschiedene Künstler:innen und Intellektuelle eine Reihe von „Vorlesungen“, wie sie Kraus selbst zwischen 1910 und 1936 mit großem Erfolg u. a. im Wiener Konzerthaus, in Arbeiterheimen und Theatern gehalten hat. An fünf Wochenenden wird Kraus weniger nachgebetet, als vielmehr sein „Theater der Dichtung“ entstaubt: Sprachanalysen und Textsprengungen, die er als Herausgeber der Fackel in Die letzten Tage der Menschheit, der Dritten Walpurgisnacht und hunderten Prozessen gegen korrupte Politiker und Medienmacher vorexerzierte, werden neu interpretiert.
26. Mai / 2. / 9. / 16. / 23. Juni, 11 Uhr
Odeon
Lecture am 23. Juni im Haus der Republik
Deutsch
60 bis 90 Min.
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp
Kraus-Lesung I Cornelius Obonya, Florian Scheuba
Kraus-Lesung III Boris Eder, Sir Henry
Kraus-Lesung IV Clemens J.Setz, Robert Stadlober, Barbara Zeman und Onkel Gusta Kraus-Lesung V Thea Ehre, Nick Romeo Reimann, Olivia Axel Scheucher durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
STIMMEN ZU KARL KRAUS’ „VORLESUNGEN“
Kraus, der Vorleser, wird jeden, der ihn vorher nur gelesen und nicht lesen gehört hatte, überraschen. Nicht daß er anders wäre, als man ihn sich vorstellen muss – als er ist! Aber die Energie, die Konsequenz der Durchführung überbietet auch den kühnsten Vorsatz, den der Leser im Geiste seines Autors gefaßt hatte. So wenig ist dieses Pathos gegen die Skepsis der Zeit gedeckt. Kein Burgtheater würde heute diese ungebrochene Tonfülle wagen, die ein Redner ohne Bühne und Kothurn erklingen läßt. Berthold Viertel
Ich wurde in dieser Zeit ein begeisterter Anhänger des Schriftstellers Karl Kraus, besuchte all seine öffentlichen Vorlesungen und verschlang mit Begeisterung die von ihm herausgegebene rot eingebundene Fackel. In der verlängerten Kärntnerstraße, zwei Häuserblöcke über den Ring hinüber, war die Buchhandlung Richard Lányi, bei dem man die Fackel erstehen konnte, und der von mir ein gezeichnetes Porträt von Karl Kraus erwarb, das er als Ansichtskarte herausgab. Karl Kraus hat mir dieses Porträt nie vergeben, er war ein sehr eitler Mensch. Fritz Lang
Am 17. April 1924 fand die 300. Vorlesung von Karl Kraus statt. Der Große Konzerthaussaal war dazu vorbestimmt worden … Bald kam Karl Kraus selbst und wurde von einem Beifall begrüßt, so stark wie ich ihn noch nie, nicht einmal bei Konzerten erlebt hatte. […] Als er Platz nahm und zu sprechen begann, über- fiel mich die Stimme, die etwas unnatürlich Vibrierendes hatte, wie ein verlangsamtes Krähen. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch, denn die Stimme änderte sich gleich und änderte sich weiter unaufhörlich, und sehr bald schon staunte man über die Vielfalt, deren sie fähig war. Die Stille, mit der sie anfangs aufgenommen wurde, erinnerte nun doch an ein Konzert, aber es herrschte eine ganz andere Art von Er- wartung. Von Anfang an und während der ganzen Veranstaltung war es die Stille vor einem Sturm. Schon die erste Pointe, eigentlich war es nur eine Anspielung, wurde durch ein Gelächter vorweggenommen, das mich erschreckte. Es klang begeistert und fanatisch, befriedigt und drohend zugleich, es kam, bevor noch eigentlich ausgesprochen war, worum es ging. Aber auch ausgesprochen hätte ich es nicht begreifen können, denn es bezog sich auf etwas Lokales, auf etwas, das nicht nur mit Wien zusammenhing, sondern das auch zu einer Intimität zwischen Kraus und seinen Hörern geworden war, die danach verlangten. Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 – 1931
Es muss um diese Zeit gewesen sein, daß ich Karl Kraus zum ersten Mal öffentlich lesen hörte. Er las im Großen Konzerthaussaal, der ungefähr 2400 Sitzplätze hat, für die Wiener Jugend König Lear. Kraus füllte den Saal mühelos mit seiner phänomenalen Stimme, mehr als drei Stunden lang – und natürlich gab es 1919 noch keine Lautsprecher. Die Lesung hatte eine so starke Wirkung auf mich, wie ich sie später bei keiner Bühnenaufführung der shakespearschen Tragödie mehr erlebt habe. Kraus hatte die höchst erstaunliche Fähigkeit, seine Stimme auf so subtile und verblüffende Weise zu modulieren, daß er mühelos die Illusion von fünf oder sechs Personen im Gespräch hervorrufen konnte, ohne den Ablauf zu unterbrechen, indem er immer wieder die Namen der jeweils sprechenden Figuren genannt hätte. […] Seine Stimme besaß eine wahrhaft erstaunliche Kraft, und gelegentlich erhob er sich zu einem Aufschrei, der den Hörern kalte Schauer über den Rücken jagte.
Ernst Krenek , Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, zitiert nach: Friedrich Pfäfflin (Hg.), Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern
Programmzettel der 700. Vorlesung von Karl Kraus am 2.April 1936. WBR, HS, H.I.N. 240473
„DER VORLESER“ IM INTERNET
Einer der großen Schätze der Wienbibliothek im Rathaus ist das Karl Kraus-Archiv, das Tausende von Manuskripten, Fahnen, Briefen und Lebensdokumenten umfasst. Karl Kraus gehört zu den wichtigsten und interessantesten Exponenten einer kritischen Moderne.
Sein Pazifismus und Humanismus, seine Medienund Gesellschaftskritik, sein präzises Sprachdenken und sein aufklärerischer Witz beeinflussten kritische Traditionen weltweit: Ludwig Wittgenstein (Sprachphilosophie), Theodor Adorno (Kritische Theorie), Arnold Schönberg (Harmonielehre) oder Gerda Lerner (Frauengeschichte) dachten und schrieben mit Bezug auf Kraus.
Die Aufbewahrung von Texten und ihren Grundlagen war für Karl Kraus aufgrund seiner dokumentarischen Arbeits- und Zitattechnik schon immer notwendig gewesen. Da die Materialberge aber wuchsen und Kraus kein Interesse an Selbstarchivierung hatte, begann er schon zu seinen Lebzeiten Druckfahnen und anderes Material seiner Vertrauten Helene Kann zu überlassen.
Kraus selbst blieben Verfolgung und Exil durch seinen frühen Tod im Jahre 1936 erspart, doch ein Großteil seines literarischen und publizistischen Vermächtnisses ging ins Exil. Seine Freunde nahmen Teile des Nachlasses mit in die Schweiz, nach Schweden und in die USA. Alle erwähnten Bestandteile des Kraus-Archivs kamen nach 1945 im Abstand von über fünf Jahrzehnten wieder an die Wienbibliothek im Rathaus zurück, was naturgemäß eine uneinheitliche Aufarbeitung und Erschließung zur Folge hatte. Das Kraus-Archiv zog immer schon eine lebendige Forschungscommunity an.
Zudem wurden die Erschließungsarbeiten um den Kraus-Nachlass am Haus vielfach mit Editionsund Forschungsprojekten verbunden. Der erste Kraus-Archivar der Wienbibliothek, Paul Schick, prägte bereits durch seine rororo-Monographie Karl Kraus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten die Forschung. Kraus-Experte Hermann Böhm, langjähriger Leiter der Handschriftensammlung, brachte die Anwaltsakten von Karl Kraus und seinem Anwalt Oskar Samek in einer vierbändigen Edition heraus und machte damit der Forschung bedeutendes Material zugänglich.
2006 begann mit der Edition der AAC-Fackel die digitale Kraus-Forschung. Katharina Prager, zuständig für Kraus und Digital Humanities, unternahm – vorerst im Rahmen einer Kooperation mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biographie – eine Reorganisation und digitale Aufarbeitung einzelner Bestandsteile auf Karl Kraus Online, wo etwa die 700 Vorlesungen von Kraus zwischen 1910 und 1936 erforscht werden können. Daraus entstand ein Folgeprojekt um eine digitale Edition der Kraus’schen Rechtsakten, das am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History angesiedelt ist und in Kooperation mit dem ACDH-CH umgesetzt wird. Alle Kraus-Digitalisate stehen auch in dieser digitalen Bibliothek zur Verfügung und werden derzeit ständig erweitert. 684 Einträge umfassen allein die Kraus’schen Vorlesungsprogramme.
mehr Infos auf kraus-vorleser.wienbibliothek.at/der-vorleser
Petra Slottová, geboren 1990, schloss ihr Abitur am Konservatorium im slowakischen Zilina, ihrem Geburtsort, mit dem Hauptfach Querflöte ab. 2009 setzt sie ihr Studium an der Kunstuniversität Graz fort, wo sie ihr Masterstudium (KonzertfachQuerflöte), abschließt. Sie spezialisiert sich in Alte Musik und studiert Traversflöte bei Sandra Koppensteiner. 2017 bis 2019 nahm sie bei dem Ausbildungsprogramm Performance Practice in Contemporary Music von Klangforum Wien an der Kunstuniversität Graz teil. Sie wirkte in verschiedenen Ensembles und Orchestern mit, u. a. im Euphony Youth Orchestra, im Kammerorchester Con Fuoco, in der Hofkapelle Graz, im Styrian Improvisers Orchestra, im Ensemble Blauer Reiter und im Klangforum Wien bei den Salzburger Festspielen. Als Theatermusikerin arbeitete sie u. a. im Schauspielhaus Graz, Theater Next Liberty und an den Münchner Kammerspielen. In ihrem künstlerischen Ausdruck interessiert sie besonders die Schnittstelle zwischen Musik, Theater und Bewegung. Sie lebt und arbeitet in Wien.
Samouil Stoyanov, in Sofia geboren, aufgewachsen in Linz. Er erhielt Unterricht in den Fächern Ballett, Jazztanz, Stepptanz, Flamenco und Moderntanz und arbeitete in der familieneigenen Theaterballettschule MAESTRO als Bühnenbildner und Lichttechniker. Ab 2011 Schauspielstudium am Max Reinhardt Seminar in Wien. Erste Engagements während des Studiums. Von 2015 bis 2020 festes Ensemblemitglied an den Münchner Kammerspielen. Zusammenarbeiten u. a. mit Anna Badora, Nicolas Charaux, Amir Reza Koohestani, Toshiki Okada, Stefan Pucher, Simon Stone, Claudia Bauer und Sascha Hawemann. Neben seiner Tätigkeit am Theater steht er für TV-Serien und Fernsehfilme vor der Kamera. 2018 erhielt er den Förderpreis der Freunde der Münchner Kammerspiele und im gleichen Jahr den Kunstförderpreis in der Sparte „Darstellende Kunst“ der Bayerischen Landesregierung. Im Rahmen des 59. Berliner Theatertreffens 2022 wurde Stoyanov mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis für seine Leistung im Stück humanistää! ausgezeichnet und beim Nestroy-Preis 2022 wurde er von der Jury zum „Besten Schauspieler“ gewählt. Seit der Spielzeit 20/21 ist Samouil Stoyanov Ensemblemitglied am Volkstheater.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Bildnachweis Cover @ Videostandbild Die Raben. Die letzten Tage der Menschheit via Wienbibliothek im Rathaus; S. 5. Programmzettel der 700. Vorlesung von Karl Kraus. Auszug aus: Katharina Prager (2018). Geist versus Zeitgeist: Karl Kraus in der Ersten Republik Wien, S.147. Eine Publikation der Wienbibliothek im im Rathaus, Metroverlag Wien. Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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