DIE VIERTE KRAUS LECTURE IN KÜRZE
Ehrenbeleidigungen, Körperverletzungen, Urheberrechtsstreitigkeiten, Mediendelikte: In den Prozessakten der Wiener Kanzlei Oskar Samek präsentiert sich der in hunderte Verfahren involvierte Karl Kraus als literarischer Meister der Anklage und (Selbst-)Verteidigung. Die Schriftstellerin Barbara Zeman und Büchner-Preisträger Clemens J. Setz erklären in öffentlicher Debatte dieses „Hauptwerk“, der Rezitator Robert Stadlober wird daraus lesen. Dazu: musikalische Interventionen der Wiener Grindcore-Band Onkel Gusta.
16. Juni, 11 Uhr
Odeon
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp Mit Clemens J. Setz, Robert Stadlober, Barbara Zeman, Onkel Gusta durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
150. GEBURTSTAG VON KARL KRAUS IN FÜNF „VORLESUNGEN“
„Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner“, schrieb Walter Benjamin über den 1874 geborenen, oft zitierten, gleichzeitig viel zu wenig gelesenen Sprach- und Kulturkritiker, Satiriker und begnadeten Performer Karl Kraus. In der Freien Republik Wien gestalten verschiedene Künstler:innen und Intellektuelle eine Reihe von „Vorlesungen“, wie sie Kraus selbst zwischen 1910 und 1936 mit großem Erfolg u. a. im Wiener Konzerthaus, in Arbeiter:innenheimen und Theatern gehalten hat. An fünf Wochenenden wird Kraus weniger nachgebetet, als vielmehr sein „Theater der Dichtung“ entstaubt: Sprachanalysen und Textsprengungen, die er als Herausgeber der Fackel in Die letzten Tage der Menschheit, der Dritten Walpurgisnacht und hunderten Prozessen gegen korrupte Politiker und Medienmacher vorexerzierte, werden neu interpretiert.
26. Mai, 2. / 9. / 16. / 23. Juni, 11 Uhr
Odeon
Lecture am 23. Juni im Haus der Republik
Deutsch
60 bis 90 Min.
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp
Kraus-Lesung I Cornelius Obonya, Florian Scheuba
Kraus-Lesung II Petra Slottova, Samouil Stoyanov
Kraus-Lesung III Boris Eder, Sir Henry
Kraus-Lesung V Thea Ehre, Nick Romeo Reimann, Olivia Axel Scheucher durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
NUR EIN „PROZESSHANSL“?
Warum führte Karl Kraus in seinem Leben mehr als 100 Prozesse, als Ankläger wie auch als Angeklagter, warum beschäftigte er bisweilen bis zu drei Anwälte in Fällen, die in der Öffentlichkeit zumeist nur belustigtes Staunen hervorriefen? War er ein notorischer Gerichtsgeher, ein, „Prozeßhansl“ wie der Wiener Volksmund sagt oder ein von der Wahrheit, in manchmal übersteigertem Maß Besessener? Schon sein erster Biograph, Leopold Liegler, sieht in Kraus eine nur dem ethischen Imperativ verpflichtete moralische Instanz, einen Prediger und Richter inmitten einer irdischen Hölle. Liegler scheint uns heute allzu pathetisch und panegyrisch Kraus als Menschheitsretter zu preisen, in seiner Grundaussage hat er recht und auch Kraus selbst sah sich und seine Aufgabe in diesem Licht.
Die Stellung, die Kraus zum Recht und zur Rechtsprechung einnahm, ist von zwei Positionen her bestimmbar:
1. Wiederholt und beharrlich (von Nr. 1 der Fackel an) greift Kraus sowohl die bestehende Rechtspflege in Österreich (-Ungarn) als auch den unmoralischen und verlogenen Geist an, der hinter ihren Entscheidungen steht.
2. Sehr bewußt setzt Kraus in der Praxis das Instrumentarium der bestehenden Rechtsordnung in seinem kulturkritischen Kampf ein.
Zwei Haltungen, die einander offenkundig zu widersprechen scheinen. Er bediente sich zur Zerschlagung oder zumindest Bekämpfung von Zivilisations- und Kulturmissständen einer Institution, nämlich der Justiz, in der er alle diese Mißstände selbst kulminiert fand. Das erinnert an seinen Satz von der Psychoanalyse, daß sie selbst jene Krankheit sei, die zu bekämpfen sie vorgebe. Wählte er hier also das kleinere Übel, um damit das größere auszumerzen, wollte er den Teufel mit Pelzebub bekämpfen? Die Kraus‘sche Kulturkritik spielt sich in einem imaginären Dreieck ab, an dessen Spitze er selbst steht, die beiden Schenkel zielen auf die Komplexe Justiz und Presse hin, die beide gleichermaßen moralisch korrumpiert sind. Die Diskrepanz zwischen der privaten, der gesunden, Ethik und ihrer ständigen und eklatanten Verletzung durch Justiz und Presse, wobei jene eigentlich diese hätte strafen müssen, ist das Thema zahlreicher Fackelbeiträge, die dann zum Band Sittlichkeit und Kriminalität (1908) vereinigt wurden.
(aus der Einleitung zu: Herwig Würz (Hg.), Karl Kraus contra... Die Prozessakten der Kanzlei Oskar Samek in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Bearbeitet und kommentiert von Hermann Böhm. Wien 1995)
DER „AFFE ZARATHUSTRAS“ VOR
ZUM BEISPIEL, 1926: KARL KRAUS CONTRA ANTON KUH
ANTON KUH, „PREISAUSSCHREIBEN“
„Wen die Natur mit einem auffälligen Namen bedacht hat, den hat sie zum Menschenkenner auser- koren: denn der Witz der Mitschüler, Kollegen, Einsender und sonstiger sarkastischer Zeitgenossen, der sich an diesem Namen reibt, läßt ihn frühzeitiger als andere die menschliche Idiotie durchschau- en. So hat Endesgefertigter schon vor Jahren einen Preis für jenen ausgesetzt, der imstande wäre einen unbanalen, originellen, noch nicht dagewesenen Namenswitz über ihn zu machen, respektive einen, den der unglückliche Namensträger nicht schon selbst über sich gemacht hätte. Ausdrücklich verboten waren in den näheren Bestimmungen dieses Preisausschreibens die Wendungen: „Herr Kuh – Sie sind ein Ochs!“, „Er schreibt Kuh-Mist“. – „Das geht auf keine Kuh-Haut“. – „Quod licet Jovi, non licet bovi“ (von mir längst umgedreht). – „Kuh macht muh“ usw. Nun erfahre ich, daß ein Vortragsaffe diesem Verbot zu Trotzeinen vorsichtigerweise von mir selbst gemachten Witz, den ihm, wie viele andere meiner Spässe der Kaffeehaustratsch eingehändigt hat, öffentlich nachspricht, indem er mich einen „Cowboy“, sprich Kuhbuben nennt. Das bringt mich auf den Gedanken, das frühere Preisausschreiben zu erneuern. Der Gewinner erhält ein Exemplar meiner in Vorbereitung befindlichen Broschüre: „Itzig oder Jesus?“
(Die Stunde, 11. 10. 1925, Nr. 778)
KRAUS GEGEN KUH: EIN PROZESS
Das Bezirksgericht wird in den nächsten Tagen über zwei sonderbare Ehrenbeleidigungsklagen zu urteilen haben, die Karl Kraus gegen Anton Kuh angestrengt hat. Der erste dieser Prozesse (wegen „Schmähung“) findet am kommenden Donnerstag statt und hat eine Notiz zum Inhalt, die am 11. Oktober des vergangenen Jahres hier erschienen ist und folgenden Wortlaut hatte: (siehe oben). Wir haben in der vorstehenden Notiz das Wort, Vortragsaffe spationiert, weil es jenes Wort ist, dessentwegen Karl Kraus die „Schmähungs“klage überreicht hat. (Bei „Schmähungen“ ist bekannt- lich nur eine beschränkte Möglichkeit der Wahrheitsbeweisführung geboten.) Kraus behauptet nämlich, daß sich der Ausdruck „Vortragsaffe“ ohne Zweifel auf ihn beziehe und glaubt sich trotz des Mangels eines spezielleren Namenshinweises zur Klage berechtigt, da in dem bloßen Schimpf- wort, wie es hier abgedruckt stehe, dem Delikterfordernis, daß die Merkmale des Klägers wieder- erkennbar seien, Genüge getan sei. Kraus hätte diesen Prozess auch vor den Geschwornen führen lassen können (wohin er unserer Meinung nach gehört). Er hat den begrenzteren prozeslen Rahmen des Strafbezirksgerichtes vorgezogen.
Die zweite Anklage inkriminiert einen inzwischen im Druck erschienenen Vortrag, den Anton Kuh am 25. Oktober des Vorjahres unter dem Titel Der Affe Zarathustras gehalten hat. Kraus gibt in den einleitenden Worten des Schriftsatzes selber die Ungewöhnlichkeit des Klagevor- gangs bei einer literarisch in sich geschlossenen, d. h. die Beweiskraft aus sich selber bestreitenden Leistung zu, indem er seinen Schritt mit der eingestandenen Absicht rechtfertigt, sich mit einer
Persönlichkeit wie der Anton Kuhs, die ihm zu einer literarischen Befassung nicht tauge“, auf strafgerichtlichem Wege auseinanderzusetzen.
Allerdings findet auch dieser Prozeß nicht vor dem Schwurgericht – wozu die erfolgte Drucklegung des Vertragsprotokolls den Kläger berechtigt hätte –, sondern vor dem Bezirksgericht statt, also an einer Stätte, wo die persönliche Wirkung des Klägers und Angeklagten weniger ins Gewicht fällt und der Beweisführung engere Grenzen gesetzt sind. Was Karl Kraus im Detail alles eingeklagt hat, wird man aus dem Verhandlungsbericht erfahren. Für heute sei nur mitgeteilt, daß er den rednerischen Nachweis „Führer der Intelligenzplebejer“ und „Urheber der Itzigseuche“ zu sein, als beleidigend empfand und dass als Nebenangeklagter – neben Anton Kuh – Friedrich Nietzsche fungiert! Kraus behauptet nämlich, daß das Nietzsche-Kapitel, das Kuh in seinem Vortrag zur Vorlesung gebracht hat und u. a. die Worte „Grunzeschwein“ und „schäumender Narr“ enthält, offensichtlich auf ihn gemünzt worden sei. Jedenfalls steht da ein Prozeß bevor, der schon des ausgebreiteten Zeugen- und Sachverständigen-Apparates wegen keinen gewöhnlichen Verlauf nehmen wird. Anton Kuh wird in beiden Prozessen durch Dr. Friedrich Schnepp vertreten sein. Anton Kuh bittet uns zu dieser Veröffentlichung um die Mitteilung, daß er den Vortrag Der Affe Zarathustras demnächst strafweise in Prag und Berlin zu wiederholen gedenke.
(Die Stunde, 20. 1. 1926, Nr. 858)
KARL KRAUS ÜBER RECHT UND GERECHTIGKEIT
„Diese ganze Institution ‚Justiz‘ kann in einer Welt, der der Mensch ein Fremdling ist und der nur die Tat gilt, nie etwas anderes bedeuten als die kostbare Gelegenheit für eine Rotte schlechtbezahlter Sünder, sich an den Gerechten zu rächen, nie etwas anderes als das wollüstige Verhalten von Spießruten, an denen der Menschenwert vorbei muß und von allen Lebensgütern zuerst das Schamgefühl verblutet. Kreaturen, die höchstens durch ihren Ursprung aus dem Aktenstaub der Schöpfungs- protokolle an eine göttliche Absicht glauben lassen, deren Anblick aber in keinem Falle die Feststellung, daß es gut war, provoziert haben kann, sind berufen über Menschen zu richten.“
(Die Fackel Nr. 225, 1907)
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit Vereinte Nationen war Setz 2017 und mit Die Abweichungen 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde er mit dem GeorgBüchner-Preis geehrt.
Robert Stadlober, Schauspieler und Musiker, kam 1982 in Friesach/Österreich auf die Welt. Seitdem spielte er in Filmen, nahm Musik auf, stand, lag und ging auf Bühnen herum und außerdem fielen ihm beim Spazieren ab und an Texte ein. Bekannt wurde er 2000 als halbseitig gelähmter Internatsschüler Benjamin Lebert in dem Spielfilm Crazy. Zuletzt war er im Kino u. a. in Josef Haders Andrea lässt sich scheiden zu sehen. Derzeit tourt er mit einem Kurt-TucholskyProgramm: „Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut“.
Barbara Zeman, geb 1981 in Eisenstadt, lebt in Wien. Sie ist Historikerin und hat als Journalistin für Der Falter, The Gap und Die Presse gearbeitet. 2012 gewann sie den Wartholzpreis, 2019 erschien ihr erster Roman Immerjahn. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien. Ihr zweiter Roman Beteigeuze erscheint im Herbst 2024 bei dtv.
Onkel Gusta ist ein Trio aus Wien, keiner älter als 20 Jahre, das heuer sein Debütalbum Obstacle Course live in einem Take aufnahm. Das Resultat ist eine Sensation. Produziert von Herwig Zamernik (aka Fuzzman), ist Onkel Gusta aus dem Stand ein kleines Meisterwerk gelungen, welches sie in die erste Liga österreichischer Bands härtester Gangart katapultiert.
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