AP 2024: Liebestod

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DE Beim Stierkampf geht es um Leben und Tod. Um nichts weniger geht es auch der vielfach ausgezeichneten spanischen Performancekünstlerin Angélica Liddell. Mit dem dritten Teil der Reihe Histoire(s) du Théâtre stellt sich Liddell dem Kampf mit dem Theater und mit einer Gesellschaft, die den Bezug zu Spiritualität und Transzendenz verloren hat zugunsten von Konsens. Der Titel bezieht sich auf den Höhepunkt von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde, in der die beiden Liebenden nur im Liebestod zur Vereinigung finden, – und auf den legendären Stierkämpfer Juan Belmonte. Sein Markenzeichen war, aufgrund seiner deformierten Beine, gefährlich nah am Körper des Tieres zu kämpfen. Unbesiegt nahm sich Belmonte schließlich selbst das Leben. Inmitten einer Stierkampf-Arena vertieft sich Liddell in all diese Figuren und Geschichten und lässt dabei überwältigende Bilder entstehen: Die Ausnahmeperformerin ist Liebende und Geliebter, Stier und Stierkämpferin, dem Theater zur Gänze verfallen und voll der Verachtung.

EN Bullfights are a matter of life and death. The award-winning Spanish performance artist Angélica Liddell puts no less on the line. In the third part of the series Histoire(s) du Théâtre, Liddell confronts the theatre and a society that has lost its ties to spirituality and transcendence in favour of consensus. The title refers to the apex of Richard Wagner’s opera Tristan and Iseult, in which the two lovers can only find each other in Liebestod – love death –, and to the legendary torero Juan Belmonte. It was his trademark to fight dangerously close to the animal’s body, due to his deformed legs. Belmonte was never beaten, and eventually committed sui- cide. In the midst of a bullring, Liddell delves into all these figures and stories and calls up overwhelming images: the exceptional performance artist is both lover and beloved, bull and torero, enthralled by theatre and full of disdain.

The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/liebestod

New York Times

DE Ein Angélica Liddell Monolog ist im zeitgenössischen Theater einmalig.

26. / 27. Mai, 20 Uhr Volkstheater

Spanisch deutsche und englische Übertitel

2 Std.

Publikumsgespräch

27. Mai, im Anschluss an die Vorstellung

Hinweis

Empfohlen ab 16 Jahren Die Vorstellung enthält selbstverletzende Handlungen. Bei der deutschen Übertitelung wird aufgrund begrenzter Zeichenanzahl und hoher Lesegeschwindigkeit auf das Gendern verzichtet. Wir bitten um Verständnis.

Text, Regie, Bühne, Kostüm Angélica Liddell Mit Angélica Liddell, Borja López, Gumersindo Puche, Palestina de los Reyes, Patrice Le Rouzic und Michael Anhammer und Sohn Clemens, Simon Brader und Tochter Nora, Lukas Elend und Sohn Béla, Thomas Mandl und Sohn Milo, Stefan Schweigert und Tochter Romy Luise * Licht Mark Van Denesse Sounddesign Antonio Navarro Kostüm Stierkämpfer Justo Algaba Regieassistenz Borja López Bühnenleitung Nicolas Guy, Michel Chevallier Lichttechnik Sander Michiels Bühnentechnik Eddy De Schepper Requisite, Kostümschneiderei Ateliers NTGent Projektdramaturgie

Histoire(s) du théâtre Carmen Hornbostel (NTGent) Produktionsleitung Greet Prové, Chris Vanneste, Els Jacxsens (NTGent) Produktion Atra Bilis, Gumersindo Puche Übersetzung, Übertitel Franziska Mucha (Deutsch), Snapdragon (Englisch) Übertitel Birgit Weilguny

Produktion NTGent, Atra Bilis Koproduktion Festival d’Avignon, Tandem – Scène nationale (Arras-Douai), Künstlerhaus Mousonturm (Frankfurt a.M.) durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung Juli 2021, Festival d’Avignon

* die vollständige Liste der Mitwirkenden auf festwochen.at

ANGÉLICA LIDDELLS GESCHICHTE DES THEATERS

Juan Belmonte (1892 – 1962), der „göttliche Stotterer“ aus Sevilla, gilt als Erfinder des spirituellen Stierkampfs. Mehr noch als eine Kunst war der Stierkampf für Belmonte eine spirituelle Übung. Eine Übung, die die Emotionen in einen unendlichen Raum, ja in die Ewigkeit emporhob. Seine leicht deformierten Beine zwangen ihn dazu, eine neue Kampftechnik zu entwickeln: Aufrecht und fast bewegungslos kämpfte er gefährlich nahe am Körper des Stiers und wurde im legendären Wettstreit mit seinem Rivalen Joselito, der in der Stierkampfarena starb, zum größten Matador seiner Zeit. Belmontes Ausspruch „Wie man gegen den Stier kämpft, so ist man“, bringt seine Philosophie auf den Punkt. Sein Selbstmord spricht für das Gefühl, „nicht mehr leben zu können“, wie es der Philosoph Emil Cioran auf dem Höhepunkt seiner eigenen Verzweiflung beschrieben hat. 1962 nahm sich Belmonte, der an Lungenkrebs litt, mit einer Pistole das Leben.

Liebestod ist der Titel für den Höhepunkt von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde aus dem Jahr 1865. Der Komponist schrieb die Musik zu seiner eigenen poetischen Umdichtung der keltischen Sage aus dem Mittelalter. Das Wort Liebestod bezieht sich auf das Thema der Erotik des Todes oder der „Liebe bis in den Tod“, basierend auf der Vorstellung, dass die Liebe eines Paares im Tod Vollendung findet, oder sogar jenseits davon.

Angélica Liddell bringt beide Referenzpunkte zusammen: Belmontes unermüdliche Suche nach tragischer Schönheit und Heiligkeit und Wagners tragische Vollendung der Liebe im Tod. Wo das Leben die permanente spannungsgeladene Reibung zwischen Eros und Thanatos ist, dort ist Angélica Liddells Theater, und Liebestod mehr als jedes andere Werk, ein szenisches Gedicht. Liddell beschwört die Figuren des Stiers und des Stierkämpfers herauf und spiegelt sich in beiden wider: Sie ist gleichzeitig Liebende und Geliebte, konfrontiert mit ihren dunkelsten Abgründen, ihrer rasenden Leidenschaft und ihrer Todessehnsucht. Sie beschimpft ihr Publikum und die zeitgenössische Kultur, die ihren Bezug zu Mythos und Transzendenz zugunsten von Versöhnung und Konsens verloren hat.

Liddell selbst und ihre Texte, in denen sie über Liebe und Tod schreit, stottert und flüstert, bilden das Zentrum. Mit visuell eindringlichen Bezügen zu einer spanischen Stierkampfarena und den Ritualen der katholischen Kirche ist die Inszenierung wie ein Beschwörungsritus aufgebaut.

IM GESPRÄCH MIT ANGÉLICA LIDDELL

Sie sprechen von den Emotionen in Juan Belmontes Schaffen als Torero. Meinen Sie damit eine absolute Emotion, die in dieser Kunst, die den Menschen unaufhörlich mit seinem sterblichen Schicksal konfrontiert, besonders spürbar ist?

Angélica Liddell Die Emotion hebt bei Belmonte das Bewusstsein auf eine Ebene der Erhabenheit. Die Emotion ist die ästhetische Überlegenheit des Toreros. Für Juan Belmonte ist der Stierkampf eine spirituelle Übung, bei der er vergisst, dass er einen Körper hat; deshalb können die Emotionen die unendlichen Räume erreichen, von denen Blaise Pascal geschrieben hat. Laut Ramón Pérez de Ayala endete die Zeit des Stierkampfes mit Juan Belmonte. Belmonte sagte immer, dass er gegen Stiere kämpfte, so wie er war und wie er liebte. Für ihn waren Liebe und Kunst, Liebe und Sein eins. Leider lässt der heutige Mangel an Spiritualität alle Künste verarmen, nicht nur die des Stierkampfs. In der Kunst ist die Tragödie durch Pflichtgefühl, demokratische Verantwortlichkeiten und sozialen Aktivismus ersetzt worden. Wir haben das Gesetz des Staates mit dem Gesetz der Schönheit verwechselt, was den Ruin der Kunst bedeutet.

Wie würden Sie diese Emotion in Hinblick auf Sie selbst und das Theatermachen definieren?

A.L. Nachdem ich die Biografie von Manuel Chaves Nogales und José Bergamín gelesen hatte, wurde mir klar, dass ich Theater so mache, wie Juan Belmonte mit Stieren gekämpft hat. Ich spreche von der Intention und den Schatten, von den Gefühlen und der Unruhe des Mannes aus Triana1, dieser selbstmörderischen Angst, diesem Wunsch zu sterben. Ich mache Theater, so wie andere mit Stieren kämpfen. Ich habe den Stierkampf mit meiner Art, auf der Bühne zu stehen, vollkommen gleichgesetzt. Diese unablässige Suche nach tragischer Schönheit im Ausdruck bedeutet nicht, sein Leben zu riskieren, sondern alles zu geben, mit dem Tod zu kämpfen als eine Lust. Ich verstand, dass ich dasselbe suchte wie Juan Belmonte: Ich suche den erhabenen Moment, die Verklärung, den überwältigenden Enthusiasmus, das blendende Licht, dieses lyrische Gefühl, das einen überwältigt, wenn man liebt. Ich bin auf der Suche nach den doppelten Gefahren, die in den Tiefen der Seele widerhallen. Manchmal finde ich sie, manchmal nicht. Das ist keine Willensfrage. Man verliebt sich nicht, weil man es will, und man wird auch nicht Stierkämpfer, weil man es will, sagt Juan Belmonte. Der Wille ist gut für die Proben.

Ich verstand, dass ich dasselbe suchte wie Juan Belmonte: Ich suche den erhabenen Moment, die Verklärung, den überwältigenden Enthusiasmus, das blendende Licht, dieses lyrische Gefühl, das einen überwältigt, wenn man liebt.

1 Triana ist ein Viertel in Sevilla, bekannt für seine Toreros, Flamenco-Sänger:innen und -Tänzer:innen und für sein Kunsthandwerk.

Wenn man auf der Bühne steht, bleibt nur noch die Gefahr und die Verklärung. Eine Opfergabe.

Sie schreiben, dass der Stierkämpfer ein Schriftsteller in Blut ist …

A.L. Das ist von Friedrich Nietzsche. Er sagt, wir müssen mit Blut schreiben, dann werden wir feststellen, dass Blut Geist ist. La Piriñaca2 sagte immer, dass sie, wenn sie gut gesungen hat, Blut in ihrem Mund schmecken konnte. Ich trage dieses Bild immer in mir, diese Art, mich auszudrücken, diese Verklärung. Ich spreche mit meinen Geistern. Ich lasse sie von mir Besitz ergreifen. Ich bin keine Schauspielerin. Eigentlich mag ich keine Schauspieler:innen.

Welchen Platz hat der Stierkampf in der heutigen Gesellschaft? Ist diese Kunst symptomatisch für die leidenschaftliche Suche des Menschen?

A.L. Die heutige Gesellschaft ist nicht imstande, den Stierkampf zu verstehen, weil sie eiskalt, hohl und ignorant ist. Sie hat keinen Sinn für das Schöne und ihr fehlt die Sensibilität und die intellektuelle und ästhetische Raffinesse, um den Stierkampf und seine Kultur zu verstehen und zu praktizieren. Unsere Gesellschaft ist vulgär, mittelmäßig, sie strebt nur nach sozialem und politischem Konsens und ist durch Anreize verarmt, die zur Schaffung eines Punktesystems für die Kultur geführt haben, einer Kultur des allgemeinen Interesses und nicht des geistigen Interesses; es ist eine Gesellschaft, die die Dummheit der Komplexität vorzieht, eine Gesellschaft voller Rechte, aber ohne Götter und Riten, voller Hochmut und ohne jedes Bewusstsein für das Heilige. Der Stierkampf existiert aber vor allem, um den Göttern Freude zu bereiten, so wie das Theater ein heiliger Raum ist.

Gibt es eine symbolische Brücke zwischen dem Ende einer Liebe und dem Tod des Stiers in der Arena?

A.L. Das hat nichts mit dem Ende der Liebe zu tun, sondern mit dem Wesen der Leidenschaft an sich, ihrem Höhepunkt, der der Tod ist. Die Liebe realisiert sich erst im Tod. In diesem Sinne könnte man von einer symbolischen Brücke zwischen dem Tod der Liebe (Liebestod) und dem Tod in der Arena sprechen: Aufopferung und Weihe, bis zum Schluss den Anforderungen von etwas gehorchen, das viel größer ist als unser eigener Wille.

Wie gestaltet sich in Liebestod die Beziehung zwischen der Geschichte von Tristan und Isolde, wie sie von Richard Wagner erzählt wird, und der von Juan Belmonte?

A.L. Meine Stücke sind immer als Kreuzungen konzipiert, dort, wo man auf die Geister der Gehängten trifft und auf die, die vor dem Gesetz geflohen sind. Sie werden mit der Kraft des Unbewussten geschaffen. Juan Belmonte und Richard Wagner treffen sich, um über eine Geschichte des Theaters zu sprechen, die die Geschichte meiner Wurzeln, meiner Abgründe ist. Sie treffen sich, um meiner Dunkelheit, dem Ursprung meiner Stücke eine Stimme zu geben. Der Himmel fällt herab und die Hölle steigt auf den Thron Gottes. Ich bin nicht so besorgt wegen dem, was man verstehen kann. Was mich beunruhigt, ist das Unverständliche, das Staunen, die Epiphanie angesichts des Unerklärlichen. Es geht mir nicht darum, die Realität abzubilden, sondern das Reale, das heißt das Unsichtbare. Das ist auch die Aussage des Titels, in Anlehnung an Francis Bacon: Der Geruch von Blut geht mir nicht aus den Augen.

2 Ana Blanco Soto, bekannt unter ihrem Künstlernamen Tia Anica La Piriñaca, war eine unglaubliche Flamenco-Sängerin des 20. Jahrhunderts.

Angélica Liddell ist eine spanische Regisseurin und Performancekünstlerin. 1993 gründete sie Atra Bilis Teatro und realisierte mit der Kompanie 25 Produktionen. Ihre Stücke wurden in mehrere Sprachen wie Französisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Portugiesisch, Polnisch und Griechisch übersetzt. In ihrem radikalen Körpertheater thematisiert sie persönliche, gesellschaftliche und poli- tische Gewalt und bedient sich häufig der katholischen Bildsprache.

Liddell hat zahlreiche Preise gewonnen, darunter den Casa de América Award for Innovative Drama 2003 für ihr Stück Nubila Wahlheim; den SGAE Theatre Award 2004 für Mi relación con la comida; den Premio Ojo Crítico Segundo Milenio 2005 in Anerkennung ihrer gesamten Arbeiten oder den Notodo del Público Preis für die beste Performance 2007 für Perro muerto en tintorería: los Fuertes (Toter Hund in der chemischen Reinigung: die Starken). Das Stück Belgrado (Belgrad ) erreichte den zweiten Platz beim Lope de Vega Preis 2007, während El año de Ricardo den Valle Inclán Preis 2008 erhielt.

Ihre Arbeiten El año de Ricardo (2007), San Jeronimo – Überlebensstrategien (Performance bei forum festwochen, 2011), La casa de la fuerza (Haus der Gewalt, 2012 bei den Wiener Festwochen), Maldito sea el hombre que confía en el hombre, Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy, 2013 bei den Wiener Festwochen) und ¿Qué haré yo con esta espada? wurden beim Festival d’Avignon, den Wiener Festwochen oder am Théâtre de l’Odéon in Paris uraufgeführt. Sie erhielt den Nationalpreis für Dramenliteratur 2012 für La casa de la fuerza, verliehen vom spa- nischen Kulturministerium, den silbernen Löwen für Theater der Biennale von Venedig 2013 und sie wurde 2017 vom französischen Kulturministerium als Chevalier des Arts et Lettres ausgezeich- net. Angélica Liddell war zuletzt 2019 mit The Scarlett Letter bei den Wiener Festwochen.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde von Moïra Dalant auf Französisch im Februar 2021 für das 77. Festival d’Avignon geführt Übersetzung Monika Kalitzke Bildnachweis Cover © Christophe Raynaud de Lage, S.4: Portrait von Juan Belmonte, Quelle: Wikidata.org, entnommen am 17.Mai 2024 Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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