AP 2024 Medea´s Kinderen

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DE Medea gilt als berüchtigtste Beziehungstragödie der griechischen Antike. Der Konflikt gipfelt im Mord der Mutter an ihren eigenen Kindern, die in der Tragödie zum Schweigen verdammt sind. In Medeas Kinder stellt Milo Rau dieses klassische Arrangement auf den Kopf: Sechs Kinder im Alter von acht bis dreizehn Jahren ergreifen das Wort. Ausgehend von einem realen Kriminalfall und dem Mehrfachmord in Medea reflektieren sie die absurden und blutigen Tragödien der Erwachsenen und ihre eigene (tragische) Welt. Indem die Kinder auf der Bühne Szenen von Medea wiederholen, antike und moderne Charaktere miteinander verbinden und die grausame Gewalt durch Nachstellungen wie sezieren, scheinen sie sich dem ewigen Untergang des Tragischen entgegenstellen zu wollen. Eine kleine Geschichte des Theaters und eine ebenso grausame wie poetische Schule des Lebens.

EN Medea is considered the most notorious relationship tragedy in Greek Antiquity. The conflict culminates in Medea killing her own children, who are condemned to silence throughout the tragedy. Milo Rau turns this classic arrangement on its head in Medea’s Children: six young people between the ages of eight and thirteen speak up. Setting out from an actual crime and Medea’s multiple murder, the children reflect on the absurd and bloody tragedies of the adult world and on their own personal (tragic) realities. By repeating scenes of Medea on stage, combining ancient and modern characters and dissecting the horrific violence through re-enactments, the children seem to want to oppose the eternal doom of tragedy. It is a short history of the theatre and an equally cruel as poetic school of life.

The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/medeas-kinder

De Morgen (Belgien)

31. Mai, 20 Uhr, 1. Juni, 16.30 Uhr, 2. Juni, 14 Uhr

Jugendstiltheater am Steinhof

Niederländisch

deutsche und englische Übertitel

ca. 90 Min.

Publikumsgespräch

1. Juni, im Anschluss an die Vorstellung

Hinweis

Empfohlen ab 16 Jahren

Die Vorstellung enthält Gewaltdarstellungen.

Mit Peter Seynaeve, Anna Matthys, Emma Van de Casteele, Jade Versluys, Gabriël El Houari, Sanne De Waele, Vik Neirinck Regie Milo Rau Dramaturgie Kaatje De Geest Bühne ruimtevaarders Video Moritz von Dungern Musik Elia Rediger Licht Dennis Diels Kostüm Jo De Visscher Requisiten Joris Soenen Spieltrainer

Peter Seynaeve /Lien Wildemeersch Übersetzung Übertitel Lotte Hammond Übertitel Katelijne Laevens

Produktion NT Gent Koproduktion Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, La Biennale di Venezia, Internationaal Theater Amsterdam, Tandem – Scène nationale (Arras Douai)

durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien

Uraufführung April 2024, NT Gent

Medeas Kinder ist Milo Raus neuestes Stück, in dem sich die drei thematischen Linien, mit denen sich Rau in den letzten Jahren beschäftigt hat, treffen: die Linie der belgischen Verbrechen (Five Easy Pieces, 2016 und La Reprise, 2019), die der antiken Mythen (Orestes in Mosul, 2019, Das Neue Evangelium, 2020 und Antigone im Amazonas, 2023) und jene des Privatlebens (Familie, 2020, Everywoman, 2020 und Grief & Beauty, 2021).

Acht Jahre nach Raus erster Inszenierung mit Kindern lässt er erneut junge Schauspieler:innen in die Hauptrollen schlüpfen und wieder beschäftigen sie sich mit einem Thema, vor dem Erwachsene sie normalerweise schützen wollen: In Five Easy Pieces ging es um den berüchtigtsten Pädophilie-Fall Belgiens (Marc Dutroux) und in Medeas Kinder wird ein Filizid, also die Tötung von Kindern durch ein Elternteil, nachgestellt.

Ausgehend von Euripides’ Medea und Materialien zu einem realen belgischen Kriminalfall sprachen Rau und sein Team ausführlich mit den Kindern über ihre Sicht auf die kleinen Dinge des Lebens, die Banalität des Alltäglichen, aber auch die Unmöglichkeit, unsere tragische Existenz zu verstehen.

Der Tatort dieses Filizids ist ebenso unscheinbar wie tragisch und gefährlich: das eigene Zuhause. Das Haus und die verwilderte Strandlandschaft auf der Bühne sind durch Videoprojektionen in eine größere Welt eingebettet, die mit Hilfe der Kompositionen von Elia Rediger mal harmlos wirkt und dann wieder in dystopischem Unbehagen zu versinken scheint. Die Kinder spielen

aufbauend auf Zeug:innenaussagen Szenen aus dem realen Kriminalfall nach und schlüpfen dann in die Rollen von Euripides’ Figuren. Über allem schwebt die Frage nach der Kraft des Theaters: Kann die Nachahmung, die Wiederholung von Szenen, zur Katharsis führen?

Zugleich sind die existenziellen Überlegungen der Kinder von großer Nüchternheit geprägt: Sie verstehen sehr gut, dass es für das Überleben des Planeten besser wäre, wenn die Menschheit aufhören würde zu existieren, dass auch sie dazu verdammt sind, Teil der tragischen Weltordnung zu sein. Dennoch hoffen sie, dass sie nicht die letzte Generation sind, dass sie ihrem eigenen Schicksal entkommen können. Sie träumen von einer Karriere als Schauspieler:in oder Anwält:in und sehnen sich leidenschaftlich nach der Liebe, obwohl sie wissen, dass sie alle ihre Liebsten verlieren werden. Was treibt den Menschen an, es wider besseres Wissen immer wieder zu versuchen und zu scheitern? Diese Frage stellt nicht nur Beckett, sondern stellen auch die griechischen Tragödien, so Rau.

Nach der Verflechtung des realen Kriminalfalls mit der 2500 Jahre alten Medea-Geschichte blicken die Kinder zunächst hoffnungsvoll ins Publikum und sehnen sich danach, dort einen sokratischen Gesprächspartner zu finden, der die richtigen Fragen stellt. Doch am Ende müssen auch sie feststellen, dass die menschliche Existenz kein Nachgespräch zulässt und auch sie sich der Unausweichlichkeit des letzten Vorhangs ergeben müssen.

Die Tragödie Medea, die Euripides 431 v. Chr. schrieb, beruht auf der gleichnamigen mythologischen Figur. Aus Liebe hilft Medea, eine orientalische Prinzessin und Tochter des Königs Aietes, Jason bei seiner Suche nach dem Goldenen Vlies. Jason soll dieses Vlies von König Aietes stehlen und es seinem Onkel Pelias übergeben, der durch diese scheinbar unlösbare Aufgabe versucht, Jason von seinem rechtmäßigen Thron im Königreich Iolkos fernzuhalten. Medea hilft Jason unter der Bedingung, dass er sie heiratet und stellt sich dafür gegen ihre eigene Familie. Nachdem sie drei fast unlösbare Aufgaben erfüllt haben, fliehen Jason und Medea mit dem Goldenen Vlies nach Iolkos. Als Medea und Jason dort ankommen, verweigert Pelias Jason dennoch den Thron. Um sich zu rächen, überzeugt Medea durch eine List Pelias’ Töchter

ihren eigenen Vater zu töten. Erneut fliehen Jason und Medea mit ihren beiden inzwischen geborenen Söhnen und finden sich in Korinth wieder.

Die Handlung in Euripides Tragödie beginnt erst in Korinth. Medea lebt dort als entwurzelte Außenseiterin und wird gemieden und gefürchtet wegen ihrer Zauberkunst. Jason ist inzwischen eine Verbindung mit Glauke, der Tochter des Königs Kreon, eingegangen. Als Medea erfährt, dass Jason sie verlassen wird und König Kreon sie verbannen will, ist sie außer sich vor Kummer. Sie beschließt, ihre eigene Flucht zu arrangieren und tötet Glauke, als auch – ungewollt –König Kreon. Schließlich geht sie zum ultimativen Racheakt über: Sie tötet ihre eigenen Kinder, um Jason zu vernichten. Es wird

vermutet, dass dieser Akt, dass Medea ihre eigenen Söhne tötet, ein dramatischer Zusatz von Euripides ist, denn in anderen Versionen des Mythos sind es beispielsweise die wütenden Korinther, die die Kinder als Vergeltung für den Mord an ihrem König und ihrer Prinzessin töten. Schlussendlich entflieht Medea auf einem Drachenwagen, den ihr der Sonnengott Helios, ihr Großvater, schickt. Euripides macht Medea zur Performerin und Rhetorikerin. Mit ihrer Eloquenz zieht sie das Publikum in ihren Bann und mit jedem ihrer geheimen Selbstgespräche tiefer in ihren Kosmos. Indem Euripides die Abfolge der Ereignisse, die zu Medeas Kindermord führen, dramatisiert, zeigt er, wie etwas vermeintlich Unvorstellbares geschehen kann. Er fordert die Zuschauer:innen auf, die Wurzeln der Tragödie in vertrauten Zügen ihrer eigenen Welt zu erkennen.

Er zeichnet ein mitreißendes, erschreckendes Porträt einer Frau mit außergewöhnlichen Kräften und einer unnachgiebigen Rachsucht, aber ihr Verhalten und ihre Interaktionen im Laufe des Stücks zeigen auch, wie „normal“ sie erscheinen kann. Als Medea am Ende des Stücks triumphierend im Wagen des Helios auf dem Dach des Palastes erscheint, hat sich die Rhetorikerin und Darstellerin in eine Regisseurin verwandelt und ist im Begriff, ihren eigenen Abgang aus dem Drama zu inszenieren.

Von den drei Tragödienautoren war Euripides derjenige, der seine Figuren den modernen Athener:innen am ähnlichsten gestaltete, indem er deren Redeweise nachahmte und deren Ängste thematisierte. Aber im Gegensatz zu Sophokles oder Aischylos weigert er sich, die Ereignisse in einem größeren kosmischen Rahmen zu sehen. Viele Figuren in Medea appellieren an die traditionellen griechischen Götter, ihr Leiden anzuerkennen und für Gerechtigkeit zu sorgen, aber es gibt keine erkennbare göttliche Antwort auf Medeas Handeln. Das Stück überlässt es dem Publikum, seinen eigenen Weg zu finden, um dem Undenkbaren einen Sinn zu geben.

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist Regisseur und Autor. Rau studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Berlin und Zürich u. a. bei Pierre Bourdieu und Tzvetan Todorov. Kritiker bezeichnen ihn als den „einflussreichsten“ (Die Zeit), „umstrittensten“ (La Repubblica), „skandalösesten“ (New York Times) oder „ambitioniertesten“ (The Guardian) Künstler unserer Zeit. Seit 2002 veröffentlichte er über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seine Theaterproduktionen waren bei allen großen internationalen Festivals zu sehen, darunter das Berliner Theatertreffen, das Festival d’Avignon, die Biennale Venedig, die Wiener Festwochen und das Brüsseler Kunstenfestivaldesarts und tourten durch über 30 Länder weltweit. Rau hat diverse Auszeichnungen erhalten, u. a. den 3sat-Preis 2017, die Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik 2017 und 2016 als jüngster Künstler nach Frank Castorf und Pina Bausch den renommierten ITI-Preis des Welttheatertages. 2017 wurde er bei der Umfrage der Deutschen Bühne zum Schauspielregisseur des Jahres gewählt, 2018 erhielt er für sein Lebenswerk den Europäischen Theaterpreis und war 2019, als erster Künstler überhaupt, Associated Artist der European Association of Theatre and Performance (EASTAP). 2020 erhielt er für sein künstlerisches Gesamtwerk die renommierte Münsteraner Poetikdozentur. Im Jahr 2019 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Lund in Schweden, 2020 wurde er Ehrendoktor der Universität Gent. Er war Intendant des NTGent (Belgien) und ist seit 1. Juli 2023 Intendant der Wiener Festwochen.

IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Beitrag NTGent, 2024. Ins Deutsche übersetzt und angepasst. Bildnachweis Cover © Estate of Bernard Safran, Medea (1964, revised 1994), oil on Masonite, 86.4 x 104.1 cm; S. 5 © Michiel Devijver Übersetzung Nadezda Müngersdorff, wordsmithery Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)

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