DE Drei Generationen einer Familie und eine enge Wohnung in Budapest: Die Großmutter, die es ablehnt, eine Ehrenmedaille als Überlebende des Holocaust anzunehmen; die Tochter, die einen Nachweis für ihre jüdische Identität braucht, um ihrem Sohn einen Schulplatz in der neuen Heimat Berlin zu sichern; der erwachsene Sohn, der auf der Suche nach seiner eigenen Identität als homosexueller Mann ist. Allen stellen sich die gleichen Fragen: Können wir uns von vererbten Identitätszuschreibungen befreien? Wann ist Identität ein Privileg, wann wird sie zur Last? Alles hängt vom Blickwinkel ab. Mit PARALLAX (der Begriff bezeichnet die scheinbare Änderung der Position eines Objekts bei verschiedenen Blickwinkeln) erarbeiten der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó und seine freie Theatergruppe Proton Theatre eine epische Familiengeschichte und zeichnen ein tief berührendes Sittenbild zwischen osteuropäischem Judentum und der in Ungarn unter unzähligen Restriktionen leidenden LGBT+-Gemeinschaft.
EN Three generations of one family. One small flat in Budapest. The grandmother is declining to accept a medal of honour as a Holocaust survivor; the daughter needs proof of her Jewish identity to secure a school place for her son in their new home in Berlin; the adult son is seeking out his own identity as a homosexual man. They all have the same questions: can we liberate ourselves from inherited identity ascriptions? When is identity a privilege, when is it a burden? It all depends on the point of view. With PARALLAX (the term describes the apparent change in the position of an object at different angles of view) the Hungarian director Kornél Mundruczó and his independent company Proton Theatre develop an epic family tale and in doing so draw a deeply touching picture of conventions situated between Eastern European Judaism and the LGBT+ community who are enduring innumerable restrictions in Hungary.
The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/parallax
27. / 28. / 29. / 30. Mai, 20.30 Uhr, 31. Mai, 17 Uhr
Halle G im MuseumsQuartier
Ungarisch deutsche und englische Übertitel ca. 2 Std.
Hinweis
Empfohlen ab 18 Jahren. Die Vorstellung enthält Darstellungen von sexuellen Handlungen.
Bei der deutschen Übertitelung wird aufgrund begrenzter Zeichenanzahl und hoher Lesegeschwindigkeit weitgehend auf das Gendern verzichtet. Wir bitten um Verständnis.
Regie Kornél Mundruczó Text Kata Wéber und Ensemble Mit Lili Monori, Emőke Kiss-Végh, Erik Major, Roland Rába, Sándor Zsótér, Csaba Molnár, Soma Boronkay Dramaturgie Soma Boronkay, Stefanie Carp
Bühne Monika Pormale Kostüm Melinda Domán Musik Asher Goldschmidt Choreografie Csaba Molnár
Regieassistenz Soma Boronkay Licht, Technische Leitung András Éltető Produktion Dóra Büki Assistenz Finanzen und Produktion Henrietta Horváth Management Miklós Kékesi Lichttechnik Zoltán Rigó Ton Zoltán Halmen, János Mazura Requisite Gergely Nagy Kamera Máté Takács, Mihály Teleki Bühnenmeister Tamás Hódosy Bühnentechnik András Viczkó Ankleiderin Melinda Domán Übersetzung Übertitel Orsolya Kalász (Deutsch), Kinga Keszthelyi (Englisch) Übertitel Dóra Büki
Produktion Proton Theatre Koproduktion Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, Odéon-Théâtre de l’Europe (Paris), Comédie de Genève, Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa, HAU Hebbel am Ufer (Berlin), Athens Epidaurus Festival, Festival d’Automne à Paris, Maillon Théâtre de Strasbourg –Scène européenne, Internationales Sommerfestival Kampnagel (Hamburg), CNDO Orléans, La Bâtie – Festival de Genève
durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Premiere Mai 2024, Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
DIE SITUATION DER LMBTQI -MENSCHEN IN UNGARN
Emese Alter, Schulungsmitarbeiterin, Háttér Gesellschaft*
Obwohl die öffentliche Meinung hartnäckig daran festhält, dass die Zugehörigkeit zur LMBTQI-Community Privatsache sei und nicht öffentlich diskutiert werden sollte, lassen wir etwa 10 % der ungarischen Gesellschaft im Stich, wenn wir uns nicht mit der Inklusion der LMBTQI-Menschen befassen. Ihr Leben ist in vielen wichtigen Bereichen mit besonderen Schwierigkeiten behaftet: Leider ist es immer noch keine Ausnahme, wenn das Coming-out eines LMBTQI-Jugendlichen auf Ablehnung innerhalb der Familie stößt, im extremen Fällen sogar mit Misshandlung oder mit Rauswurf aus dem Elternhaus und Kontaktabbruch einhergeht. Diskriminierung am Arbeitsplatz drängt eben die verletzlichsten Mitglieder an den Rand der Gesellschaft. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen mittlerweile keine Kinder adoptieren. Transgender-Personen müssen sich mit Dokumenten ausweisen, die ein Geschlecht angeben, das nicht mit ihrer Geschlechtsidentität und oft auch nicht mit ihrem Erscheinungsbild übereinstimmt. Im Gesundheitswesen und in der sozialen Versorgung ist die Diskriminierungsrate in Ungarn im Vergleich zu Europa am höchsten. Die Tabuisierung von Inklusion und LMBTQIThemen in Schulen und die Einschränkung ihrer medialen Darstellung haben den Stimmen wieder Auftrieb gegeben, die meinen, dass sich von der Mehrheit zu unterscheiden etwas ist, wofür man sich schämen, was man verbergen und geheim halten muss. Diese Haltung, Stigmatisierung und Scham führen zu Isolation, da diese es
auch den treuen Freund:innen und Bekannten von LMBTQI-Menschen schwer macht, ihnen offen zur Seite zu stehen. Die LMBTQIPersonen, die ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung thematisieren, müssen häufig den Kampf um Akzeptanz allein führen, in einem Umfeld, das die Botschaft vermittelt, die Mehrheit möchte nichts damit zu tun haben. In den Geschichten queerer Menschen aber, wenn wir uns auf sie einlassen, treffen wir auf Vielfalt, eine Gemeinschaft mit eigener Subkultur, auf Zusammenhalt und Stärke, und nicht etwa auf Gender-Propaganda und LMBTQILobbyismus. Die Angriffe der letzten Jahre, der Paragraf 33** und das LMBTQ-feindliche Propaganda-Gesetz haben gezeigt, dass die ungarische Queer-Community widerstandsfähiger ist als gedacht, aber auch, dass es eine breite Gesellschaftsschicht gibt, die nicht nur tolerant, sondern auch solidarisch mit marginalisierten Minderheiten ist, bereit sie zu verteidigen.
*Die 1995 gegründete Háttér-Gesellschaft ist die größte und älteste derzeit tätige Organisation für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Queer und Intersexuelle (LGBTQI) in Ungarn. Sie setzt sich für die Gleichstellung und das Wohlbefinden von LGBTQI-Personen ein, indem sie u. a. Beratungsdienste anbietet und sich für ein Rechtssystem, öffentliche Dienste und gesellschaftliche Einstellungen einsetzt, die den Bedürfnissen von LGBTQI-Personen entsprechen.
** Am 28. Mai 2020 unterzeichnete der ungarische Präsident ein Gesetz, das Trans- und Intergeschlechtlichen die Änderung ihres amtlichen Geschlechts und die damit einhergehende offizielle Anerkennung der gewünschten Geschlechtsidentität verweigert. Dieses Gesetz wurde von der Regierung in Artikel 33 zur Bewältigung der Corona-Krise eingearbeitet.
WARUM PARALLAX?
KORNÉL MUNDRUCZÓ
(Regisseur) „In dieser Geschichte geht es um die Transformation von Traumata und Identität über drei Generationen hinweg, um den Wunsch und die Möglichkeit auszubrechen, um die Pflicht des Erinnerns und das Verlangen, eine schwere Last loszulassen, um das Schweigen und die Unfähigkeit zu sprechen, um die Flut und die Flammen: Mit einem ungeheuer universellen Thema versucht PARALLAX, an vielen schmerzhaften Fäden zu ziehen, die mit komplexen Reflexionen über unsere Zeit verbunden sind.
Die Arbeit mit dem Cast und der Crew des Proton Theatre ist für mich immer ein Geschenk. Wir fangen gemeinsam bei null an. Wir reden, proben, machen Pausen und reden, proben, machen wieder Pausen. Jedes Stück entwickeln wir gemeinsam. Der Mut, den sie beim Spielen zeigen, wie tief sie in die Details hineingehen, die Verantwortung, die sie als Künstler:innen übernehmen, ist außergewöhnlich.“
KATA WÉBER (Autorin) „Bei der neuen Produktion für das Proton Theatre wollten wir uns mit der Frage von Identität im 21. Jahrhundert auseinandersetzen. Genauso wie einen die optische Täuschung des Parallax-Effekts die Bewegung von Objekten unterschiedlich wahrnehmen lässt, verwenden wir so etwas wie eine mehrschichtige Darstellung, bei der wir die verschiedenen Dimensionen eines Themas aus den Perspektiven unterschiedlicher Charaktere erkunden. In einem Querschnitt durch eine Familiengeschichte untersucht unsere Geschichte Fragen der jüdischen und homosexuellen/ queeren Identität in Osteuropa. Seit den restriktiven Maßnahmen gegen die LGBT+ Gemeinschaft in Ungarn ist die Zahl der Theaterproduktionen, die den Mut haben, die Situation dieser zunehmend unterdrückten Minderheit zu thematisieren, verschwindend gering. Wir versuchen, das verzweifelte Bemühen einer neuen Generation zu zeigen, sich eine eigene authentische Welt zu schaffen, ohne die Last historischer Bezüge. Ist es befreiend, die Vergangenheit hinter sich zu lassen oder hat das schwerwiegende Folgen?“
WAS IST DEINE ROLLE IN PARALLAX, DEINE VERBINDUNG ZUM PROTON THEATRE?
LILI MONORI (Schauspielerin) „Kornél Mundruczó sieht Schauspieler:innen als unabhängige Künstler:innen, die ihre Rollen selbst kreieren. Wir sind künstlerische Partner:innen, die einander vertrauen. Bei uns geht es um Gleichberechtigung und Respekt, nicht um Druck.
Auf eine Rolle wie die der Éva in PARALLAX kann man sich nicht wirklich vorbereiten. Ich existiere nicht in dieser Rolle, ich lasse sie einfach die Führung übernehmen. Für mich bedeutet das nicht nur Handeln. Was hier passiert, geht über das Handeln hinaus.“
EMŐKE KISS-VÉGH (Schauspielerin) „Ich war Gymnasiastin, als ich zum ersten Mal eine Inszenierung von Kornél Mundruczó sah und war völlig überwältigt. Ich erzählte meiner Mutter, dass dieser Regisseur genauso tickt wie ich. Inzwischen bin ich zu einer Frau voller Träume und Sehnsüchte geworden. Wenn ich das Set von PARALLAX betrete, bin ich von Liebe erfüllt. Anders geht es gar nicht. Was daraus entsteht, ist dann unser gemeinsames Werk. Solche Momente sind selten.“
ERIK MAJOR (Schauspieler) „Im Gymnasium sah ich zum ersten Mal eine Inszenierung von Mundruczó – auf Video. Ich habe es mir unzählige Mal angesehen und versucht herauszufinden, was daran so faszinierend ist.
Der Eindruck hat bis heute nicht nachgelassen. Vergangenes Jahr stand ich kurz vor einer Rückenoperation, als ich von dem Casting hörte. Ich brannte darauf, dabei zu sein, also log ich, dass es mir schon besser ging, und sagte die OP am nächsten Tag ab.“
ROLAND RÁBA (Schauspieler) „Seit vielen Jahren verfolge ich mit Staunen die beeindruckende Hintergrundarbeit, die den Auf- führungen des Proton Theatre ihre Einzigartigkeit verleiht. Ein faszinierendes Beispiel dafür ist, wie sich im Stück Scheinle- ben das Bühnenbild um die eigene Achse dreht. Es wäre un- glaublich spannend, eine Vorstellung einmal aus der Perspektive dieser Menschen im Hintergrund zu zeigen.“
SÁNDOR ZSÓTÉR (Regisseur, Schauspieler, Dozent)
„Ich – 36 Jahre alt – Er (?) Jahre alt. Ich bin Lehrer – Er ist ein Schauspieler-Novize. Ich bin Zuschauer – Er ist Schauspieler. Ich bin Mentor – Er entwickelt sich. Ich bin Drehbuchautor – Er wird Filmregie-Student. Ich schreibe – Er dreht. Ich schreibe – Er wird Filmregisseur. Ich schreibe, andere schreiben auch, dann kommt etwas anderes – Er führt Regie bei Filmen. Ich bin Zuschauer – Er ist Opern- und Theaterregisseur. Kleine Missverständnisse. Kleine Nicht-Kränkungen. Ich bin ein ängstlicher Schauspieler – Er ist Filmregisseur. Jetzt bin ich auch auf der Leinwand. Und bin Zuschauer, Zuschauer, Zuschauer. Ich inszeniere Theaterstücke und beobachte ihn, wie er Theaterfilme dreht. Und spiele mit denen auf der Bühne, für die ich sonst Regie führe. Was ist die Quintessenz? Kornél entlarvt mich vor mir selbst. Trotz allem! 26 Jahre!“
CSABA MOLNÁR (Tänzer, Choreograf) „Als Choreograf bin ich in dieses Projekt ein- gestiegen, um eine Tanzszene zu choreografieren. Während der Proben wurde die Idee zur Weiterentwicklung einer Szene aufgeworfen, ob ich auch als Darsteller mit- machen möchte. Klar, das wollte ich. Das Theater hat mich schon immer fasziniert, und seit Jahren verfolge ich die Arbeit der Schauspieler:innen, die hier mitspielen. Ich freue mich, dass ich jetzt unter Kornéls Regie mit ihnen zusammenarbeiten kann.“
SOMA BORONKAY (Dramaturg) „Das Stück Scheinleben war mein erstes Projekt mit dem Proton Theatre. Seitdem sind acht Jahre vergangen und jetzt bin ich wieder bei den Wiener Festwochen dabei. Dieses Mal nehme ich nicht nur als Dramaturg an der Aufführung teil, sondern spiele auch eine Rolle darin. Das ist für mich sehr ungewohnt, aber ich mache es mit Freude, da es für mich als queere Person wichtig ist Stellung zu beziehen, nach den homophoben Gesetzen von 2021 in Ungarn. Es ist wichtig, dass endlich eine zeitgenössische ungarische Theaterproduktion konkret und realistisch zeigt, wie es ist, heute als Homosexueller zu leben.“
Kornél Mundruczó ist ein ungarischer Theater- und Filmregisseur und Schauspieler. Er studierte an der ungarischen Universität für Film und Theater und arbeitet seit 2003 für die Bühne. Nach jahre- langer Zusammenarbeit mit einer in etwa gleichbleibenden Gruppe an Künstler:innen gründete er 2009 gemeinsam mit der Produzentin Dóra Büki die unabhängige Theatercompany Proton Theatre. Neben der Wahrung größtmöglicher künstlerischer Freiheit ist es das Ziel der Künstler:innengrup- pe, eine professionelle Struktur für ihre unabhängig produzierten Werke zu gewährleisten. Ihre Stücke gehen stets von persönlichen Geschichten aus, die sich zu einem universellen Thema aus- weiten. In ihren Stücken haben sie sich u. a. mit Menschenhandel, Rassismus, Kolonialismus, Ge- sundheitsversorgung und deren Patienten, Vertreibung und Migration befasst. Seit 2009 tourten die Produktionen des Proton Theatre auf mehr als 120 Festivals u. a. dem Festival d’Avignon, dem Ade- laide Festival, Singapore International Festival, oder den Wiener Festwochen und wurden mehrfach ausgezeichnet.
Zu Mundruczó’s wichtigsten Werken zählen die Bühnenadaptionen von W. Sorokins Das Eis (Wiener Festwochen 2010), Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein nach seinem eigenen Text (Wiener Fest- wochen 2011), J. M. Coetzees Schande (Wiener Festwochen 2012), Scheinleben (Wiener Festwochen 2016) basierend auf einem Text von Kata Wéber ebenso wie Pieces of a Woman (Wiener Festwochen 2023). Seit 2003 arbeitet Kornél Mundruczó auch im Genre Oper. Die Sache Makropulos, inszeniert an der Flämischen Oper in Antwerpen 2016, wurde als beste Neuproduktion für den International Opera Award nominiert.
Mundruczó debütierte 2003 beim Cannes Filmfestival als Filmregisseur. 2014 gewann sein sechster Spielfilm White God den Hauptpreis in der Kategorie Un Certain Regard in Cannes.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Originalbeitrag. Übersetzung Orsolya Kalász Bildnachweis Cover © Proton Theatre / Kornél Mundruczó Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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