DE Während 1945 die Bomben auf Berlin fielen, träumte Friedrich Mohr, Orchesterwart der Berliner Philharmoniker, von einem letzten gemeinsamen Auftritt. Er versammelte die Musiker in Bunkern, um Richard Wagners Götterdämmerung über das Radio in ganz Berlin erklingen zu lassen. Aber die Verbindung brach ab. Fasziniert von Mohrs Lebensgeschichte unternahm die belgische Theatergruppe BERLIN gemeinsam mit dem Radiosender Klara, dem Orchester des Opera Ballet Vlaanderen und dem Schauspieler Martin Wuttke den Versuch, seinen damals gescheiterten Traum im Heute umzusetzen. Doch die Recherchen zum Projekt, das von der Filmemacherin Fien Leysen dokumentiert wird, legen immer mehr Ungereimtheiten in Mohrs Erzählungen offen. Im Zusammenspiel mit Live-Musik verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation, Video und Live-Performance. Ein mitreißendes Stück voller überraschender Wendungen.
EN In 1945, as bombs were falling on Berlin, the Berlin Philharmonic’s orchestra attendant Friedrich Mohr had a dream of one last performance. He assembled the musicians in bunkers to play Richard Wagner’s Götterdämmerung for radio broadcast throughout Berlin. However, the transmission was interrupted. Inspired by Mohr’s story, Belgian theatre group BERLIN together with radio station Klara, the Opera Ballet Vlaanderen orchestra and actor Martin Wuttke attempted to realise the failed endeavour in the here and now. Their research for the project – which is documented by filmmaker Fien Leysen – has, however, uncovered more and more incongruities in Mohr’s tale. In the combination with live music, the boundaries between fiction and documentary, video and live performance are blurred. It is a stirring play full of surprising twist and turns.
3. / 4. / 5. Juni, 20 Uhr
Theater Akzent
Englisch, Deutsch, Niederländisch und Russisch
deutsche und englische Übertitel
1 Std. 50 Min.
Hinweis Empfohlen ab 14 Jahren
Publikumsgespräch
4. Juni, im Anschluss an die Vorstellung
Regie Yves Degryse Mit Yves Degryse, Koen Goossens, Jonathan van der Beek (Horn) und im Film Friedrich Mohr, Martin Wuttke, Stefan Lennert, Werner Buchholz, Alisa Tomina, Krijn Thijs, Chantal Pattyn, Symphonic Orchestra Opera Ballet Vlaanderen, Alejo Pérez, Caroline Große, Michael Becker, Claire Hoofwijk, Alejandro Urrutia, Marek Burák, Marvyn Pettina, Farnaz Emamverdi Video, Schnitt Geert De Vleesschauwer, Fien Leysen, Yves Degryse Bühne Manu Siebens Musik Peter Van Laerhoven Musik Film Peter Van Laerhoven, Tim Coenen, Symphonic Orchestra Opera Ballet Vlaanderen Musikalische Leitung (Film) Alejo Pérez, Ton Hans De Prins Technik Touring Jurgen Fonteijn, Luk Sponselee Übersetzung Übertitel Gegensatz Translation Collective (Deutsch), Nadine Malfait, Fien Leysen (Englisch)
Produktion BERLIN Koproduktion DE SINGEL (Antwerpen), le CENTQUATRE-PARIS, Opera Ballet Vlaanderen (Antwerpen), VIERNULVIER (Gent), C-TAKT (Limburg), Theaterfestival Boulevard (Den Bosch), Berliner Festspiele Mit Unterstützung von der Flämischen Regierung, Sabam for Culture, Tax Shelter Programm der Belgischen Regierung
Uraufführung Mai 2022, DE SINGEL (Antwerpen)
durchgeführt vom Team der Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
MILO RAU IM GESPRÄCH MIT YVES DEGRYSE
Milo Rau Yves, das Stück The making of Berlin basiert auf der Geschichte eines gewissen Friedrich Mohr. Er ist im Film, der die Vorstellung hindurch läuft, präsent. Worum geht es also in diesem Stück? Und wie hast du Mohr kennengelernt bzw. wie habt ihr von seiner verrückten Geschichte erfahren?
Yves Degryse Ich glaube, es war 2016. Ja, wir haben Zvizdal aufgeführt, ein Projekt, für das wir in Tschernobyl gefilmt haben, wo ein altes Ehepaar fünf Jahre lang in der Todeszone weiterlebte. Dieses Stück haben wir 2016 bei den Berliner Festspielen gezeigt. Nach der Vorführung kam ein Mann auf uns zu und sagte, dass ihn die Geschichte sehr berührt hätte. Wir kamen ins Gespräch, redeten über sein Leben. Offenbar war er in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs Orchesterwart der Berliner Philharmoniker. Er erzählte uns die Geschichte über den Versuch, noch einmal als Orchester zu spielen, weil sie wussten, dass es das letzte Mal sein könnte, dass sie zusammen spielen würden, denn sogar nach dem Krieg bestand die Möglichkeit, dass es mit dem Orchester vorbei sein würde. Aber zu
proben, war zu gefährlich. Also verfielen sie auf die fantastische Lösung, das Orchester in sechs Gruppen aufzuteilen, jede Gruppe in einen Bunker zu setzen, die Bunker jeweils mit Funkleitungen zu verbinden und alle im Keller eines Restaurants, dem Ort des Dirigenten, zusammenlaufen zu lassen. Dazu ist es nie gekommen, aus offensichtlichen Gründen. Jedenfalls blieben wir mit Mohr in Kontakt, und es kam der Moment, in dem er uns fragte, wie man mit dieser Phase seines Lebens (dem Zweiten Weltkrieg) umgehen könnte. Es war ein Lebensabschnitt, der nicht aus seinem Gedächtnis zu bekommen war, der ihn verfolgte, den Geist seines weiteren Lebens prägte. Er hatte jüdische Freunde im Orchester gehabt und sein ganzes restliches Leben dachte er: Wann war der Moment, an dem ich hätte aufstehen sollen? Warum hat mir niemand gesagt: Du bist mehr als nur ein Mitglied des Orchesters. Er bat uns, eine Art Reenactment, eine Art Ritual für sein zu Ende gehendes Leben zu machen. Ein Ritual über diesen Abschnitt seines eigenen Lebens. Wir dachten darüber nach. Und genau darum geht es in dem Stück.
Ciska Hoet, De Morgen (Belgien)M.R. Verstehe ich es also richtig, dass Mohr von der Tatsache verfolgt wird, dass er sich nicht für seine jüdischen Freunde im Orchester eingesetzt hat, die Opfer des NS-Regimes waren? Ist dieses Stück, dieses Ritual eine Form der Erlösung für Mohr?
Y. D. Sein ganzes Leben lang hat Mohr die Frage umgetrieben: Warum habe ich angenommen, dass ich nur ein Teil des Orchesters bin? Zwei Mal war er ganz nah dran aufzustehen, zu reagieren. Zwei Mal hat er sich wieder zurückgelehnt. Beim dritten Mal war es dann schon zu spät: Es hätte seinen Tod bedeutet. The making of Berlin ist sein Versuch, am Ende seines Lebens dieser Frage einen Raum zu geben, ein Versuch, die Realität durch Ritual und Fiktion erträglich zu machen.
M.R. Weil du es gerade erwähnst: In dem Stück geht es auch um das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion. Wie übrigens in vielen eurer Stücke. Welche Bedeutung hat die Wahrheit in eurer Kunst?
Y. D. Die spielerischen Elemente von Wahrheit und Fiktion, die in The making of Berlin enthalten sind, sind ein Mittel, um eine größere Geschichte zu erzählen. Dabei geht es auch um die Frage, wie weit wir in der Fiktion gehen können, um die Realität zu erzählen, wie viel Fiktion wir brauchen, um die Realität zu ordnen. Wir versuchen gerne, diese Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität messbar zu machen, aber im Theater scheint mir das von untergeordneter Bedeutung zu sein. Die Bühne ist in erster Linie jener Ort, an dem es für beides absolute Freiheit geben sollte.
M.R. In diesem Re-enactment gibt es zwei Erzählstränge. Der erste ist Mohrs Geschichte. Die zweite Linie ist die Geschichte, die Fien Leysen erzählt. Sie hat den gesamten Prozess des Projekts mit der Kamera dokumentiert, es ist das
Making-of. Aber es ist nicht nur ein Making-of des Projekts, sondern auch eurer Gruppe, die BERLIN heißt. Es zeigt, wie ihr arbeitet. Was ist eure Verbindung zur Stadt Berlin? Warum habt ihr die Geschichte von Mohr gewählt, um damit gleichzeitig auch über die Arbeitsweise von BERLIN zu erzählen?
Y.D. Die Gründung der Theatergruppe BERLIN war auch der unmittelbare Beginn eines Stadtzyklus. So wie andere Regisseur:innen einen Text auswählen, wählen wir eine Stadt und bleiben dort für eine lange Zeit. Wir filmen, wir interviewen, wir verlieren Zeit, um Theater zu gewinnen. Die Bewohner:innen sind die Protagonist:innen. Die Story ist universeller als die der Stadt selbst. Der Zyklus hat uns nach Jerusalem, an den Nordpol, nach Moskau, Bonanza, Tschernobyl usw. geführt. Zu seinem Beginn waren wir uns auch einig, dass Berlin die letzte Stadt der Serie sein würde. Wenn wir in Berlin landen würden, wäre dies das Ende des Zyklus. Das ist nun geschehen.
M.R. Also kein Stück mehr über Wien? Habt ihr eigentlich eine Verbindung zu Wien?
Y.D. Wir haben den Stadtzyklus abgeschlossen, aber das heißt nicht, dass wir in Wien nicht auf eine Geschichte oder eine Person stoßen können. Längerfristig sind wir mit den Wiener Festwochen über gemeinsame Projekte im Gespräch. In der Vergangenheit gab es sehr attraktive Anfragen für neue Projekte in bestimmten Städten. Aber leider sind wir keine Landschaftsmaler:innen, die auf Abruf arbeiten. Jede Arbeit in einer Stadt ist schon der nächste Schritt hin zu einer anderen Stadt. Jeder neue Anfang ist nichts anderes als eine Fortsetzung. The making of Berlin hat eine ganz besondere Verbindung zu Wien. Leider kann ich darüber erst nach einer Aufführung sprechen – niemals davor.
BERLIN wurde 2003 in Antwerpen in Belgien von Regisseur Yves Degryse gemeinsam mit Bart Baele und Caroline Rochlitz gegründet. Sie entschieden, sich nicht auf ein Genre zu beschränken, sondern den Vorstoß in den Bereich des Dokumentarischen zu wagen und ihre Inspiration vom Ort eines jeden Exkurses leiten zu lassen. Die Performances von BERLIN werden sowohl von Film- als auch Theaterbegeisterten herzlich aufgenommen und bewegen sich an der Schnittstelle von Theater, Film, Fiktion und Fakt. Der Ausgangspunkt jeder Produktion von BERLIN ist eine Stadt oder Region irgendwo auf der Welt. Charakteristisch für ihre Herangehensweise sind die dokumentarischen und interdisziplinären Methoden ihrer Arbeit. Mit Fokus auf eine bestimmte Forschungsfrage werden unterschiedliche Medien eingesetzt, abhängig vom Inhalt des Projekts. 2004 begannen BERLIN die Serie Holocene mit den Peformances Jerusalem, Iqaluit, Bonanza, Moscow und Zvizdal. The making of Berlin (2022) ist die abschließende Arbeit dieser Reihe. Daneben entstand der neue Zyklus Horror Vacui mit den ersten fünf Episoden Tagfish (Wiener Festwochen 2011), Land’s End, Perhaps All The Dragons (Wiener Festwochen 2015), Remember The Dragons und True Copy BERLINs Performances touren durch ganz Europa und Nordamerika, werden auf zahlreichen Festivals gezeigt und wurden mit Preisen wie zum Beispiel dem Total Theatre Award in Edinburgh für Bonanza (2013) ausgezeichnet. 2015 erhielt BERLIN den Flemish Culture Prize for the Performing Arts, der jährlich an eine Organisation verliehen wird, die etwas im Feld der darstellenden Kunst bewegt. In den kommenden Jahren wird BERLIN auf dieser Dynamik aufbauen und auch neue Innovationsräume eröffnen, indem jungen Künstler:innen Raum gegeben und Associated Artists die Möglichkeit geboten wird, Projekte mit der Company zu realisieren. 2024 wird Fien Leysen mit ALABAMA beginnen, gefolgt von Emma Lesuis 2026.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt ver antwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde mündlich auf Englisch am 28. März 2024 geführt. Bildnachweis Cover © Koen Broos Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/making-of-berlin