DE Ein Archiv für die Ewigkeit: Gelagert im Salzbergwerk Hallstatt sollen Keramiktafeln als unverwüstliche Datenträger das Ende unserer Zivilisation überdauern. 2012 begann der Österreicher Martin Kunze diese Idee umzusetzen und seitdem sammelt er für sein Memory of Mankind Zeitungsartikel und wissenschaftliche Beiträge ebenso wie persönliche Geschichten. Inspiriert von diesem außergewöhnlichen Projekt, verknüpft der schwedische Regisseur Marcus Lindeen in seiner aktuellen Arbeit dokumentarisches Material mit Fiktivem. Aus Interviews mit Kunze und weiteren Personen – ein Mann, der an einer seltenen Form des Gedächtnisverlusts leidet, ein Archäologe, der nach Spuren einer verschwundenen queeren Gesellschaft sucht – entsteht ein intimes Gespräch über die Obsession des Erinnerns und Erinnertwerdens. In einem Theater ohne Bühne, in einem Raum, den das Publikum und die vier Performer:innen teilen, stellt sich die Frage: Liegt im Erinnern oder doch im Vergessen die einzigartige Kraft des Menschen?
EN An archive for eternity: ceramic tablets as indestructible data carriers are to be stored in the Hallstatt salt mines in order to endure beyond the end of our civilisation. Austrian Martin Kunze began to turn this idea into reality in 2012, and has since then been collecting newspaper articles, scholarly essays as well as personal stories for his Memory of Mankind. This extraordinary project inspired Swedish director Marcus Lindeen to interlace documentary material with fiction in his current work. Interviews with Kunze as well as other people – a man who suffers from a rare form of amnesia, an archaeologist who searches for traces of a lost queer civilisation – are assembled into an intimate conversation about the obsession with remembering and being remembered. In the stageless theatre, a space shared by the audience and the four performers alike, the question arises: Does the unique power of humans rest on memory or, in fact, on the ability to forget?
The English version of the evening programme can be found here! festwochen.at/en/memory-of-mankind
6. / 7. Juni, 20 Uhr, 8. Juni, 18 und 21 Uhr
Jugendstiltheater am Steinhof Französisch
deutsche und englische Übertitel
1 Std. 30 Min.
Publikumsgespräch
7. Juni, im Anschluss an die Vorstellung
Hinweise Empfohlen ab 14 Jahren
Bei der deutschen Übertitelung wird aufgrund begrenzter Zeichenanzahl und hoher Lesegeschwindigkeit auf das Gendern verzichtet. Wir bitten um Verständnis.
Text, Regie, Konzept Marcus Lindeen Konzept, Dramaturgie, Übersetzung Marianne Ségol Mit Sofia Aouine, Driver, Axel Ravier, Jean-Philippe Uzan sowie den Stimmen von Gabriel Dufay, Julien Lewkowicz, Olga Mouak, Nathan Jousni, Marianne Ségol Musik, Sounddesign Hans Appelqvist Bühne Mathieu Lorry-Dupuy
Licht Diane Guérin Kostüm Charlotte Le Gał Casting Naelle Dariya Technische Leitung David Marain
Tontechnik Nicolas Brusq Videotechnik Dimitri Blin Produktion, Management Emmanuelle Ossena, Charlotte Pesle Beal, Lison Bellanger (EPOC productions) Übersetzung Übertitel, Übertitel Simona Weber (Deutsch), Babel Subtitling (English)
Produktion compagnie Wild Minds Koproduktion Wiener Festwochen | Freie Republik Wien, T2G Théâtre de Gennevilliers, Festival d’Automne à Paris, Piccolo Teatro di Milano – Teatro d’Europa, Le Quai – CDN Angers Pays de Loire, Comédie de Caen – CDN de Normandie, Kunstenfestivaldesarts (Brüssel), Le Méta CDN Poitiers Nouvelle-Aquitaine, Nouveau Théâtre de Besançon CDN, Le Grand T-Nantes, Le Lieu Unique-Nantes, PEP Pays-de-Loire Gefördert von Ministère de la Culture – Direction régionale des affaires culturelles, ADAMI Mit Unterstützung von Fondation d’Entreprise Hermès durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
Uraufführung Mai 2024, Kunstenfestivaldesarts (Brüssel)
MARCUS LINDEEN UND MARIANNE SÉGOL IM GESPRÄCH
Was hat Sie zu Memory of Mankind inspiriert?
Marcus Lindeen Während des ersten Lockdowns im März 2020 stieß ich in einem Artikel in der New York Times auf ein Projekt des Künstlers Martin Kunze.
Tief in einem österreichischen Salzbergwerk befindet sich eine Zeitkapsel. Seit ungefähr zehn Jahren schreibt Martin Kunze das Wissen unserer Zivilisation auf Keramiktafeln in der Hoffnung, dass die Menschen der Zukunft sie eines Tages wieder zutage fördern werden. Da seiner Meinung nach Keramik das widerstandsfähigste Material ist, das es gibt, soll dieses Archiv der Menschheit mehrere tausend oder gar hunderttausend Jahre lang lesbar bleiben. Mich interessieren sämtliche Fragen, die diese außergewöhnliche Initiative aufwirft: Was gibt Martin Kunze das Recht, unsere kollektive Geschichte zu erzählen? Was ist es wert, bewahrt bzw. „gesichert“ zu werden? Oder ganz grundlegend: Was ist überhaupt unsere Geschichte? Seit dem Augenblick, als ich über dieses Projekt gestolpert bin, hatte ich den Wunsch, mich im Rahmen einer Performance mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Ihre Performance dreht sich um Martin Kunzes Projekt, aber auch um andere Geschichten. Was verbindet sie?
Marianne Ségol Die Erinnerung. Wie in unseren früheren Produktionen haben wir uns dazu entschlossen, verschiedene Geschichten, die um ein gemeinsames Thema kreisen, miteinander zu verknüpfen. In dieser Performance hören wir von einem Mann mit einer Krankheit namens „dissoziative Fugue“, die regelmäßig einen Gedächtnisverlust hervorruft. Dann ist da seine Frau, eine Schriftstellerin, die ihm durch ihr Schreiben hilft, seine Erinnerungen zu rekonst-
ruieren. Und schließlich ein queerer Archäologe, der vorschlägt, die Geschichte anders zu erzählen, nämlich aus der Perspektiver jener, die keine Stimme haben, auf die in der Geschichtsforschung im Allgemeinen vergessen wird.
Was ist die Idee dahinter, diese Erzählungen einander gegenüberzustellen?
M.L. Als ich Journalist war, war es für mich frustrierend, mich an ein bestimmtes Thema und ein spezifisches Format zu halten. Ich empfand es als einschränkend und reduzierend. Das Theater hingegen ermöglicht einzigartige Begegnungen, zu denen es im echten Leben gar nicht kommen würde. Die Geschichten, die in unserem Stück miteinander verwoben werden, sind wahre Geschichten, die wir um Diskussionen und Austausch bereichern.
M.S. Die Herausforderung bestand darin, diese Erzählungen miteinander in Beziehung zu setzen. Denn sie ergänzen sich, widersprechen einander aber auch. Persönliches wird mit Allgemeinem verknüpft. Genauso wie Martin Kunze wird zum Beispiel die Schriftstellerin von unserem Stück zu einer Art Archivarin für ihren Mann, der an Gedächtnisverlust leidet. Und wie der österreichische Künstler sieht sie sich befugt, seine Geschichte zu erzählen. Es wird die Frage aufgeworfen, woran erinnert werden soll und woran nicht.
Wieder einmal haben Sie sich für einen minimalistischen theatralen Ansatz entschieden: Laienschauspieler:innen, große Nähe zum Publikum, eine quasi nichtexistente Bühne …
M.S. Absolut. Die Bühnensituation ist so angelegt, dass das Publikum einen begrenzten Raum,
eine Art Box, betritt. Wir wollten, dass es sich wie ein Diskussionsraum anfühlt. Die Zuschauer:innen sollten den Eindruck haben, Teil dieser Unterhaltungen zu sein, selbst wenn sie mit den Performer:innen nicht direkt ins Gespräch kommen.
M.L. Wir betreiben eine Form von Theater, die ohne Stück bzw. sogar ohne Schauspieler:innen auskommt. Die treibende Kraft hinter der Handlung ist der Text. Ich sammle Berichte, die mich im realen Leben interessieren, transkribiere sie und erst dann, im Schreiben, beginnt sich die Story abzuzeichnen. Wir arbeiten mit professionellen Schauspieler:innen, die die Texte interpretieren, und machen davon Tonaufnahmen. Anschließend, während der Performances, gelangen diese Aufzeichnungen über In-EarKopfhörer zu den Laienschauspieler:innen, die sich wiederum die Texte zu Eigen machen. Sie haben keinen großen Handlungsspielraum. Die künstlerische Regiearbeit findet beim Schreiben und zum Zeitpunkt der Aufnahmen statt.
Diese Methode zählt zu Ihren Markenzeichen. Welche Vorteile bietet sie?
M.S. Beim herkömmlichen Theater wissen die Schauspieler:innen vorab, was sie sagen werden, und können sich immer auf die nächsten paar Minuten einstellen. In unserem Fall müssen die Laienschauspieler:innen ihren Text nicht auswendig lernen – in gewisser Weise sind sie Sprecher:innen. Dadurch ist die Beziehung zur Gegenwart unmittelbarer.
M.L. Für die Bühne wählen wir immer Menschen aus, die eine spezielle Verbindung zum aktuellen Thema haben. In diesem Fall ist der queere Archäologe ein Wissenschaftler, der sich mit queeren Thematiken befasst. Der von Martin
Kunze inspirierte Archivar hingegen wird von einem Astrophysiker gespielt, der an einem ähnlichen Projekt arbeitet. Das Thema ist ihnen also in gewisser Hinsicht vertraut.
M.S. Es handelt sich um Texttheater, bei dem das Wort die Hauptrolle spielt.
Gehen wir wieder zurück zum Thema der Performance: Erinnerung. Dank der digitalen Technologie hinterlässt jede:r von uns unauslöschliche Spuren im Internet, in den sozialen Netzwerken, in den Clouds … Ist da nicht das Vergessen zunehmend die humanistische Frage unserer Zeit?
M.S. Vergessen und Erinnerung sind untrennbar miteinander verbunden. Ursprünglich wollten wir den Bericht einer Frau mit Hypermnesie mit hineinnehmen – mit anderen Worten einer Frau mit außerordentlichem Erinnerungsvermögen. Ihr Problem ist, dass sie ihre eigene Geschichte nicht erzählen kann, weil sie sie nicht herausfiltern kann. Sie ist von allem überwältigt. Ich glaube nicht, dass die digitale Technologie in dieser Hinsicht viel ändern wird. Maschinen haben einen Speicher, keine Erinnerungen.
Anders als bei Schriftsteller:innen, Filmemacher:innen und Maler:innen verschwindet das Werk von Regisseur:innen mit ihrem Tod. Quält Sie diese Frage des „Spurenhinterlassens“ als darstellende Künstler:innen?
M.L. Das ist es doch, was Theater so besonders macht: seine Flüchtigkeit. Es ist einerseits sehr frustrierend, anderseits unglaublich schön. Ich mag die Idee, ein vergängliches Stück über das Erinnern zu schaffen.
ÜBER MEMORY OF MANKIND
Memory of Mankind (MOM) ist ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt des Oberösterreichers Martin Kunze. Er entwickelte keramische Datenträger, die analoge Information wie Texte und Bilder unbegrenzt lange aufbewahren. Tief im ältesten Salzbergwerk in Hallstatt (Österreich) ist das Memory of Mankind Archiv geschützt für mindestens eine Million Jahre. Die dort aufbewahrten Keramikfliesen beinhalten Geschichten, die von Menschen aus der ganzen Welt beigesteuert werden. Das Archiv ist ein Schnappschuss unserer Zeit. Neben gesammelten Geschichten einzelner Menschen sowie kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften, wie Kunst, Sprache und Poesie, beinhaltet MOM noch weitere Inhalte, die wir an die Nachwelt weitergeben müssen: z. B. Informationen, wo auf der Welt sich Lager von toxischen oder nuklearen Abfällen befinden. MOM ist kein Backup unseres Wissens. Gesellschaften in der Zukunft, die im Stande sind, MOM zu finden, werden ein ähnliches Wissen haben wie wir heute. Die Geschichten jedoch, wie wir zu bestimmten Erkenntnissen gekommen sind und kommen, sind durchaus interessant für die Zukunft, darum werden im Speziellen Dissertationen und wissenschaftliche Publikationen in MOM gesammelt. Nicht Gravitationswellen an sich, sondern die Beschreibung mit welchen Mitteln und Geräten wir sie entdeckt haben sind erzählenswert.
Damit das Archiv in der fernen Zukunft auch gefunden werden kann, erhält jede:r, der:die bei MOM mitgewirkt hat, einen kleinen Token aus harter Keramik. Mittels Landmarken (Küstenlinien, Seeumriss, Gebirgsabstände) ist die exakte Lage des MOM Archivs dargestellt.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Textnachweis Das Interview wurde von Igor Hansen Love für das Kunstenfestivaldesarts in Brüssel und das Festival d’Automne à Paris geführt. Übersetzung Simona Weber Bildnachweis S. 6 © Beatrice Borgers Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
Der schwedische Künstler, Autor, Theater- und Filmregisseur Marcus Lindeen studierte Regie am Dramatiska Institut in Stockholm. Er feierte sein Debüt mit The Regretters 2006, einem Theaterstück und Dokumentarfilm über zwei Schweden, die über ihre individuellen Erfahrungen der Geschlechtsanpassung und Detransition sprechen. Das Stück wurde in mehrere Sprachen übersetzt und der Film, der auch auf Netflix verfügbar ist, mit Preisen geehrt, darunter der Prix Europa für Best Documentary 2011. Seine zweite Produktion, der Spielfilm Glorious Accidents (2011), gewann einen Preis beim Venice Film Festival und wurde im Centre Pompidou in Paris gezeigt. 2022 zeigte er The Trilogy of Identities, welche die Stücke Orlando and Mikael, Wild Minds und L’Aventure invisible umfasst, am Festival d’Automne in Paris. Seine Arbeiten wurden u. a. beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, an der Schaubühne in Berlin und am Piccolo Teatro in Mailand, wo er Associated Artist ist, aufgeführt. Sein Film The Raft thematisiert die Geschichte von elf Personen, die in den Siebzigerjahren zum Zweck einer soziologischen Verhaltensstudie in einem Boot mitten im Atlantik ausgesetzt wurden. The Raft gewann zahlreiche Preise und war auf mehr als 50 Festivals zu sehen. Außerdem stellte Lindeen die Kulisse des Films als interaktive Installation im Centre Pompidou aus. Andere Werke von Marcus Lindeen wurden im MoMA in New York und im National Centre for Contemporary Art in Moskau gezeigt. 2022 zeigten die Wiener Festwochen Marcus Lindeens L’Aventure invisible, ein dokumentarbasiertes Konversationstheater über Identität, Tod und Transformation.
Marianne Ségol ist Dramaturgin und Übersetzerin. Sie arbeitet in Schweden und Frankreich mit Dramatiker:innen und Regisseur:innen zusammen und reist regelmäßig nach Skandinavien, um neue Werke zu entdecken und Autor:innen, Regisseur:innen und Agent:innen zu treffen. Sie hat etwa 40 Theaterstücke und 30 Romane von Dramatiker:innen wie Jonas Hassen Khemiri, Sara Stridsberg, Jon Fosse, Arne Lygre, Suzanne Osten, Rasmus Lindberg, Monica Isakstuen und Malin Axelsson, aber auch von Filmregisseur:innen wie Lars von Trier und Schriftsteller:innen wie Henning Mankell, Sami Saïd, Per Olov Enquist, Katarina Mazetti und Jakob Wegelius ins Französische übersetzt. Seit 2016 koordiniert sie das nordische Komitee von Maison Antoine Vitez, ein internationales Zentrum für Theaterübersetzungen. Seit 2017 arbeitet sie als Dramaturgin, Übersetzerin und künstlerische Mitarbeiterin mit Marcus Lindeen. 2022 entwickelten sie gemeinsam The Trilogy of Identities, welche die Stücke Orlando and Mikael, Wild Minds und L’Aventure invisible umfasst. Die Stücke wurden u. a. in Paris am T2G im Rahmen des Festival d’Automne à Paris, beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel, an der Schaubühne in Berlin, am Piccolo Teatro in Milan und bei den Wiener Festwochen aufgeführt. Ségols Übersetzung von Jonas Hassen-Khemiris Pappaklausulen wurde 2021 mit dem Prix Medicis für den besten ausländischen Roman in französischer Übersetzung ausgezeichnet. Im Jahr 2022 verlieh ihr die Schwedische Akademie den Übersetzer:innenpreis. Marianne Ségol ist seit April 2021 artiste associé am Le Méta –Centre Dramatique National von Poitiers Nouvelle-Aquitaine und am Quai, CDN d’Angers Pays de Loire.
Hauptsponsoren Fördergeber
Hotelpartner
Medienpartner